
- Karlsruhe verspielt seinen Ruf
Das Bundesverfassungsgericht ist in seinem Selbstverständnis, in seinen derzeitigen Handlungsroutinen und in seiner technischen und personellen Ausstattung nicht zukunftsfähig, schreibt Jens Peter Paul.
Hochsommer in Karlsruhe – und der Zweite Senat des höchsten deutschen Gerichts ist sauer, empört, beleidigt. Ihm Befangenheit zu unterstellen, weil sich eine Delegation des Bundesverfassungsgerichts am 30. Juni 2021 mit der Bundeskanzlerin und einer Reihe von Ministern in Berlin zum zwanglosen Gedankenaustausch getroffen hatte, war in seinen Augen ein Unding, ja eine Unverschämtheit. Am liebsten hätten die acht Frauen und Männer in den roten Roben das Ablehnungsgesuch der AfD nicht einmal ignoriert, aber da das nicht möglich war, schmetterten sie es in maximaler juristischer Lautstärke ab, ohne damit eine Entscheidung zu treffen, denn einer solchen war die Beschwerde in ihren Augen nicht würdig: „Offensichtlich unzulässig“, „ungeeignet“, „unbegründet“ sei die Eingabe, fänden solche Begegnungen doch „regelmäßig“ statt „im Sinne eines Dialogs der Staatsorgane“ als „Ausdruck eines Interorganrespekts“.
Man dürfe, so der Tenor der Belehrung per Beschluß vom 20. Juli 2021, dem Gericht schon zutrauen, sich nicht durch ein Abendessen und den einen oder anderen Vortrag einer Bundesministerin um den Finger wickeln zu lassen. „Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richterinnen und Richter“ seien auch mitten in einem Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung nicht angebracht. Ein solches Mißtrauen widerspräche „dem grundgesetzlich und einfachrechtlich vorausgesetzten Bild des Verfassungsrichters“. Alles andere sei „eine Mutmaßung ohne sachlichen Hintergrund".
„ultra vires“
Ganz so harmlos ist die Sache leider nicht, glaubt man seither erschienenen Medienberichten, den jüngsten von diesem Wochenende. Danach hatten Gerichtspräsident Stephan Harbarth und seine Stellvertreterin Doris König selbst eine Änderung der Themenliste angeregt, die beim Dinner mit Merkel und Ministern zu behandeln sei: „Rechtsetzung in Europa“ und „Entscheidung unter Unsicherheiten“ – dazu, so die Welt am Sonntag, wollte die Delegation aus Karlsruhe gerne etwas hören und so sei es auch geschehen.