Menschenhandel - „Die deutsche Prostitutionspolitik ist gescheitert“

Durch das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 hat sich die Lage von Prostituierten in Deutschland nicht verbessert. Der ehemalige Kriminaloberrat Helmut Sporer ist überzeugt, dass die meisten Frauen in dem Gewerbe nicht freiwillig tätig sind. Im Interview spricht er über die Situation der Zwangsprostituierten, die Tricks der Menschenhändler und die Vorzüge des Nordischen Modells.

„Sogenannte Opfertypen“: Frau im Berliner Bordell Artemis / dpa
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Autoreninfo

Christine Zinner studierte Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft und ist freie Journalistin.

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Helmut Sporer war vor seiner Pensionierung zuletzt Kriminaloberrat bei der Kriminalpolizei Augsburg und hat rund 30 Jahre lang im Bereich Prostitution und Menschenhandel ermittelt.

Herr Sporer, der vieldiskutierte Ballermann-Hit „Layla“ wurde aufgrund seiner Beliebtheit zu Deutschlands Sommerhit 2022. Warum löst das Lied eigentlich solche Diskussionen um Sexismus aus? Man könnte doch sagen, darin geht es um eine selbstbestimmte „Puffmama“.

Das Lied bedient ein falsches Klischee der Bordellszene, romantisiert und erotisiert das Ganze. Tatsächlich ist Prostitution überwiegend ein kriminelles Gewaltsystem. Wer die Verhältnisse kennt, weiß das. Dass der überwiegende Teil der Prostituierten nicht freiwillig tätig ist, sehen auch die großen Parteien so.

Dennoch gibt es Bewegungen, die Prostitution nach der Losung „Sex work is work“ entstigmatisieren wollen.

Diese Leute repräsentieren in keiner Weise die Alltagsrealität. Eine verschwindend geringe Minderheit der Prostituierten, maximal zwei bis fünf Prozent, ist selbstbestimmt in dem Bereich tätig. Die Alltagsprostitution besteht aus Zwangsprostitution, Elends-, Armutsprostitution. Die wenigen selbstbestimmten Frauen, die sich medial oft gut darstellen und sehr präsent sind, versuchen den Eindruck zu erwecken, dass sie für die ganze Szene sprechen, aber das ist keineswegs der Fall. Sie sprechen nur für sich aus ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse. Die übergroße Mehrheit der Frauen hat keine Lobby.

Zur Zahl der Prostituierten gibt keine gute Datenlage in Deutschland. Gibt es einigermaßen zuverlässige Schätzungen?

Irgendwann war einmal die Zahl 400.000 in den Medien. Ich glaube es sind weniger, vielleicht 250.000. Man ist auf Schätzungen angewiesen, meist von der Polizei. Wenn die Szene intensiv kontrolliert wird, hat man einigermaßen valide Daten. Und dann kann man in manchen Städten sagen, wie viele Frauen im Ort sind, und das hochrechnen.

Und warum gehen Sie davon aus, dass diese Frauen zum Großteil unter Zwang stehen?

Ich war rund 30 Jahre beruflich mit der Materie betraut. Ich habe hunderte von Bordellkontrollen gemacht, Gespräche geführt, Ermittlungsverfahren geführt und geleitet. Wenn man die Szene kennt, dann kommt man genau zu diesem Schluss. Die großen Alltagsbordelle sind besetzt mit ausländischen, zumeist südosteuropäischen Frauen. Die leben in der Regel in miserablen Verhältnissen, sind oft 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im Bordell. Die wenigen selbstständigen Frauen sind meist in Nischenbereichen tätig, etwa im SM-Bereich.

Wo lagen denn die Schwierigkeiten in Ihrer Arbeit?

Helmut Sporer /
Foto: Stefan Baumgarth

Das Problem generell war die Beweisführung, weil Sie fast immer auf die Aussage der Frau angewiesen sind. Meist haben die Frauen viel zu viel Angst, sich zu öffnen, sich als Zwangsprostituierte zu outen. In der Regel ist es so, dass fast jede einen Mann, also einen Freund, Manager, Begleiter, im Hintergrund hat. Aber nur die wenigsten räumen das ein, weil sie Repressalien fürchten. Zu Recht. Ich habe oft erlebt, dass die Frauen oder Angehörige im Heimatland massiv angegangen wurden, wenn man Verdächtige verhaftet und die Frau eine Aussage gemacht hatte. Ich hatte auch Fälle, in denen die Frau dann im Ausland zum Notar gezwungen wurde und dort eine gegenteilige Erklärung unterschreiben musste.

Nachvollziehbar, dass die Frauen sich unter diesen Bedingungen nicht äußern wollen.

Trotzdem gelingt es immer wieder, Aussagen zu bekommen. Dann sieht man oft das wahre Ausmaß der Missstände, des Drucks, der Gewalt, der Zwänge. Wenn die Täter verhaftet sind und den Frauen über eine geeignete NGO eine Zukunftsoption eröffnet wird, kommen oft die wahrheitsgemäßen Aussagen, und dann kommt es auch zur Verurteilung. Leider nur zu sehr wenigen.

Laut dem Bundeslagebild 2020 des BKA zu Menschenhandel und Ausbeutung wurden 406 Opfer des Menschenhandels in Verfahren zur sexuellen Ausbeutung ermittelt. Vor der Pandemie, 2019, waren es auch nur 427.

Die Zahlen sind auf erschreckend niedrigem Niveau, wenn man die Gesamtanzahl der offensichtlichen Zwangsprostituierten betrachtet.

Die Politik wiederum versucht, mit Gesetzen Verbesserungen herbeizuführen. Betreiber etwa von Bordellen müssen nach dem Prostitutionsschutzgesetz von 2017 sicherstellen, dass die Frauen volljährig und keine Opfer von Menschenhandel sind. Freier können bestraft werden, wenn sie wissentlich zu Zwangsprostituierten gehen und das den Behörden nicht melden. Hat das etwas gebracht?

Ich war bei den Beratungen im Zuge des Prostitutionsschutzgesetzes 2017 mehrfach in Berlin als Sachverständiger. Viele taugliche Vorschläge wurden nicht übernommen. Etwa eine Altersgrenze ab 21 Jahren oder dass man per Gesetz verhindert, dass besonders vulnerable Gruppen wie Behinderte oder Analphabeten in die Prostitution gebracht werden können. Man kann sagen, dass sich eigentlich nichts Wesentliches geändert hat. Das Gesetz ist jetzt fünf Jahre in Kraft. Es sind die gleichen Betriebe da, die gleichen Frauen.

 

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Welche Frauen?

Überwiegend sogenannte Opfertypen. Da sieht bei einem Blick in ein Bordell jeder mit gesundem Menschenverstand, dass das keine freiwillig Prostituierten sind. Sie sprechen nicht Deutsch, wissen oftmals nicht, in welcher Stadt sie sind. Junge Mädchen, die in die Schule oder in die Ausbildung gehören, aber nicht ins Bordell.

Wie geraten diese Mädchen da rein?

Vor 25 Jahren gab es so gut wie keine ausländische Prostituierte in den Bordellen. Das hat sich durch die liberalisierte Gesetzgebung und durch die EU-Osterweiterungen von 2004 und 2007 sukzessive ins Gegenteil verändert. Es entstanden viele neue Bordelle. Die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit werden von den Hintermännern, den Profiteuren, ausgenutzt. Mittlerweile finden Sie in den großen Häusern, den FKK-Clubs und Bordellen, kaum noch deutsche Frauen. Ein gewisser Prozentsatz kommt aus Westafrika. Zum Teil auch aus Asien, immer mehr aus China. Aber wenn man die typische Prostituierte skizzieren möchte, dann kommt sie aus Rumänien, Bulgarien oder Ungarn, ist 18 bis 24 Jahre alt, hat keine oder nur eine geringe Schulbildung, keine Sprachkompetenz und entspricht in keiner Weise der selbstständigen Prostituierten, auf die die Gesetze ausgerichtet sind.

Wie drängen die genannten Hintermänner die Frauen in die Prostitution?

Es gibt verschiedene Tatvarianten. Dass die Frauen richtig in die Prostitution geprügelt werden, ist die absolute Ausnahme. Die häufigste Variante ist immer noch, dass man die Frauen emotional an sich bindet, ihnen Arbeit verspricht, die Armut in den Heimatländern ausnutzt. Sobald sie eine gewisse Schwelle überschritten haben, werden sie auch mit lasziven Fotos erpresst. Die Angehörigen in den Heimatländern wissen oft nichts davon. Die Frauen sitzen in der Falle. Sie sind ausgeliefert, haben keine Orientierung und kennen die Verhältnisse in Deutschland nicht.

Welche Rolle spielen die Freier in dem Ganzen?

Die verstecken sich nicht mehr, sind oft selbstbewusst, gerade die jüngeren Leute. Die Prostitutionspolitik der vergangenen 20 Jahre mit der Ausrichtung „Prostitution ist ein Job wie jeder andere“ ist verheerend. Sie hat dazu geführt, dass vieles bagatellisiert wird und eine Enthemmung da ist. Das merkt man, wenn man in der Szene unterwegs ist. Durch das Überangebot an Frauen sind diese einem massiven Konkurrenzdruck ausgesetzt. Es herrschen Dumpingpreise, und die Frauen machen alles, um die horrenden Fixkosten begleichen zu können. Wenn man mit Freiern spricht, merkt man, dass ihnen in der Regel klar ist, dass die Frauen das nicht freiwillig machen. Es ist ihnen schlichtweg egal.

Und daran ist die deutsche Prostitutionspolitik schuld?

Die ist schlichtweg gescheitert. Wenn wir das Schicksal der Menschen im Blick haben wollen, dann brauchen wir einen generellen Richtungswechsel. Das heißt, wir sollten Deutschland unattraktiver machen für Menschenhändler und die Nachfrage beschränken, also die Freier in die Verantwortung nehmen. Ich bin dafür, dass wir in Deutschland einen eigenen Weg entwickeln, angelehnt am sogenannten Nordischen Modell, die Prostituierten entkriminalisieren, ihnen staatlich organisiert Alternativen bieten und die Freier und Profiteure bestrafen. So könnten wir die Menschenrechte dieser Frauen besser schützen.

Das Gespräch führte Christine Zinner.

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