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Thilo Sarrazin - „Ich kann nur verlangen, dass das Ende gnädig ist“

Mit seinem Blick auf die Welt störte er schon oft das Lebensgefühl der anderen. Im Interview sprachen wir mit Thilo Sarrazin einmal nicht über seine kontroversen Thesen zur Finanz-, Sozial- und Bevölkerungspolitik, sondern über die eigene Lebensbilanz und das Sterben. Ein Gespräch über Selbstbestätigung im Alter, Berliner Wurschtigkeit und eine Feldmaus im Garten

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

So erreichen Sie Sarah Maria Deckert:

Herr Sarrazin, wir haben uns heute verabredet, um über den Tod zu sprechen. Nicht nur über den Tod, viel mehr über die sichere Gewissheit darüber, sterben zu müssen, ein bewusstes Ableben. Was löst das bei Ihnen aus?
Der eigene Tod ist einem spätestens mit sieben oder acht Jahren rational bewusst, weil man wahrnimmt, dass Menschen sterben und dass alle Menschen sterben müssen. Für die menschliche Vorstellungskraft ist der Tod natürlich vollständig irreal, weil der Mensch nicht in der Lage ist, die Welt ohne Bezug auf sich selbst wahrzunehmen. Insoweit ist alles, was man über den eigenen Tod sagt oder meint, in seinem Angesicht zu fühlen, ein Konstrukt, das sich auch erst dann beweist, wenn er unmittelbar wird.

Wie genau ist dieses Konstrukt beschaffen?
Wir leben in einer Welt, die wir in Zeit und Raum organisieren. Aus der Physik wissen wir, dass Zeit und Raum wiederum nur Konstrukte sind, die uns helfen, uns zurechtzufinden. Sie sagen nichts über die endgültige Dimension dieser Welt aus. Von einem höheren Standpunkt aus, den wir nicht wahrnehmen können, existieren sie womöglich nicht einmal. Man stelle sich ein zweidimensionales Lebewesen vor, das nur Länge und Breite, aber keine Höhe kennt. Und dieses Lebewesen bewegt sich auf einer Kugel. Es wird die Welt als unendlich erfahren und völlig erstaunt sein, dass es an keine Grenzen stößt, deswegen, weil ihm in seiner geistigen Konzeption eine dritte Dimension fehlt. Wenn Zeit und Raum also nur Konstrukte sind, dann ist es auch relativ egal, wann und wie lange etwas existiert – es ist Teil dieser Wirklichkeit. Und wenn es aufhört zu existieren, weiß es sich im Archiv der Weltgeschichte aufgehoben. Das gilt für uns Menschen nicht mehr und nicht weniger als für die Feldmaus im Garten, für jeden Grashalm, der dort wächst, und für jede Blume, die dort blüht.

Aber wenn Zeit und Raum nicht existieren, wie kann man sich dann sicher sein, überhaupt Teil dieser Wirklichkeit zu sein?
Hauen Sie sich mit dem Hammer auf den großen Zeh, dann werden Sie merken, dass Sie wirklich sind! Letztlich ist es so: Auch wenn das eigene Unwissen groß und der eigene Verstand begrenzt ist, so funktionieren wir doch in unserem uns zugedachten Bereich perfekt. Eine Katze, die von einem Baum fällt oder jene Feldmaus fängt, kann das alles wunderbar berechnen. Sie ist auf einen Teilausschnitt dieser Welt angepasst. Und die Katze und die Maus und der Baum sind alle wirklich und passen zueinander. Die Katze hat vielleicht nicht unser Weltkonzept, sie wird nicht in der Lage sein, zu sehen, dass eine Rose schön ist. Darum ist ihre Welt aber nicht niedriger oder weniger wirklich. Auf diese Weise sind wir mit dem Sein verbunden. Die Perspektive, nicht mehr zu sein, bleibt auf der Gefühlsebene eine theoretische.

Wenn die menschliche Vorstellungskraft für diese Ebene nicht ausreicht, bedeutet das auch, dass der Mensche keine Angst vor dem Unfassbaren zu haben braucht – und damit auch nicht vor dem eigenen Tod?
Jedes Lebewesen hat einen Lebenstrieb. Es krallt sich an seine Existenz und möchte seine Gesetzmäßigkeiten leben. Ein junger Mensch von 15 Jahren, der sich zum ersten Mal verliebt, der Pläne und Sehnsüchte hat, der Ehrgeiz entwickelt, hängt ganz anders am Leben, als ein Mann in meinem Alter. Mit 67 erfreue ich mich an meiner Gesundheit. Ich weiß, dass ich noch ein bisschen vor mir habe, das Wesentliche wohl aber bereits hinter mir liegt.

Das kann man nie wissen. Vielleicht hält das Leben ja noch etwas ganz Wesentliches für Sie bereit?
Das mag natürlich wahr sein. Aber Sie können es bei jedem Hund beobachten, der älter wird. Irgendwann erlischt das Feuer. Natürlich hängt er noch am Leben, lässt sich streicheln, geht zum Futternapf, wedelt mit dem Schwanz und schnuppert draußen ein bisschen rum. Er ist aber nicht mehr der junge Hund, der er einmal war. Und irgendwann legt er sich dann in eine Ecke und hört auf zu fressen. Er weiß, es war genug und vielleicht möchte er auch einfach nicht mehr. Das einzige, was man als lebendiges Wesen verlangen kann, ist, dass man seinen biologischen Weg zu Ende geht und, dass das Ende gnädig ist.

Krallen Sie sich noch ans Leben oder haben Sie schon aufgehört zu fressen, zu wedeln und zu schnuppern?
Ich persönlich bin noch an vielen Dingen sehr interessiert, sonst würde ich jetzt auch nicht mit Ihnen reden. Ich würde auch nicht gerade an einem neuen Buch schreiben. Solange der Körper einigermaßen gesund und der Geist rege ist, kralle ich mich ans Leben, wenn Sie so wollen. Sicher, es ziept mal hier und mal da, auf dem rechten Ohr bin ich taub... Aber ob ich nun 99 Jahre alt werde, wie mein Vater, wenn er in wenigen Wochen Geburtstag hat, oder 33 Jahre, wie Alexander der Große – die Dauer einer Existenz sagt nichts über Sinn und Erfüllung.

Je weiter das Leben voran schreitet, desto näher rückt das eigene Ableben. Irgendwie ein verstörendes Paradoxon. Wie bereitet man sich auf so etwas vor? Mental und auch ganz praktisch?
In der Jugend will man Freunde gewinnen, will sein Selbstbewusstsein stärken über den Spiegel der Welt, will vielleicht etwas leisten, hat Träume, sucht nach der Liebe. Dann kommt man in das Alter, wo man auf eigenen Füßen steht. Hier muss man das Leben packen, damit man es leben kann. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo die aktive Lebensphase allmählich zu Ende geht. Freiheitsgrade wachsen, sie sinken aber auch gleichzeitig. Kontakte fallen weg, der eigene Status ergibt sich nicht mehr ohne Weiteres aus dem beruflichen Erwerb, die Selbstbestätigung fehlt aus dem fehlenden aktiven Tun.

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Und über was definiert man sich dann in Ihrem Alter?
Der psychisch gesunde Mensch definiert sich aus der Stabilität seiner Persönlichkeit. Das Sein ist ja zunächst ein emotionales, der Verstand nur das Instrument, mit dem wir arbeiten. Wir leben aber nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Bewusstsein, aus der Einstellung zu uns selbst, aus der Art, wie wir auf die Welt blicken, und das ist im Wesentlichen emotional gesteuert und kaum willentlich zu lenken. Der Mensch entwickelt ein stabiles Selbst aus den Ressourcen, die ihm das Leben gibt, aber auch aus den Einschränkungen. Diese Herausforderungen wachsen im Alter.

Würden Sie sich ein stabiles Selbst zuschreiben?
Mit Selbstzuschreibungen sollte man vorsichtig sein. Ich hatte in allen meinen Lebensphasen jedenfalls das Gefühl, mich sinnvoll beschäftigt zu haben.

Welche Bilanz ziehen Sie aus Ihrem Leben? Welche besonders glücklichen oder erfolgreichen Momente kommen Ihnen da in den Sinn?
Was menschliche Beziehungen angeht, gibt es sehr private Momente, helle Augenblicke aus der Jugend, die im Gedächtnis bleiben – und die behalte ich auch für mich. Dann gibt es den Katalog aus Aufgaben und Pflichten. Ich hatte beruflich das Glück, relativ erfolgreich gewesen zu sein. Ich habe mich nie gelangweilt und die Dinge, die ich betrieben habe – oft auch mit Härte – haben mich stets ausgefüllt.

Manch einer würde hier auch einige Negativerfolge anführen – gerade im publizistischen Bereich. Mit Ihren provokant formulierten und kontroversen Thesen zur Finanz-, Sozial- und Bevölkerungspolitik haben Sie die Gemüter hierzulande ganz schön erhitzt.
Publizistisch bin ich hauptamtlich erst seit kurzer Zeit tätig, davon spreche ich nicht. Das Berufsleben ist eine Kette von Anspannungen, von Erfolgen und Enttäuschungen. Ich persönlich ziehe für mich aber einen sehr positiven Saldo.

In einem Interview mit der ZEIT haben Sie einmal gesagt, Sie seien in Ihrem Leben oft niedergebrüllt worden. Ich habe das Cicero-Archiv durchstöbert und siehe da: Hier wurden Sie selbst einmal als Brüllaffe bezeichnet. Was haben diese ständigen Konfrontationen bei Ihnen bewirkt? Meinen Sie das, wenn Sie von der „Härte“ sprechen, mit denen Sie Ihr Leben „betrieben“ haben?
Wenn man bestimmte Positionen vertritt, bestimmte Dinge durchsetzen will oder auf bestimmte Mängel hinweist, die man ändern will, dann tritt man, sobald man das Reich der Dichtung, der Musik und des Bildermalens verlässt, natürlich vielen eingebauten Interessen mächtig auf die Füße. Durch den eigenen Blick auf die Welt stört man das Lebensgefühl der anderen. In der Öffentlichkeit bekommt man dann eine Rolle zugeschrieben – im Falle von Cicero von mir aus die des Brüllaffen. Aber auch wenn sich offenbar jemand gehörig über mich geärgert hat, Sie haben meine Existenz zur Kenntnis genommen. Damit wurde ich Teil des wirklichen Lebens.

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Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Ich weiß nicht, ob ich mich noch einmal dazu entschließen würde, das Rheinland zu verlassen und den Sprung nach Berlin zu machen. Die Lebensart am Rhein ist doch eine balanciertere. Ich sitze gerade in meinem Arbeitszimmer in Charlottenburg, schaue hinaus in den Garten und sehe eine Reihe von Hausdächern. Das Leben in Berlin ist durchaus angenehm, auch deshalb, weil man in dieser Stadt ganz unterschiedliche Gruppen so prächtig aneinander vorbeileben können.

Sie sprechen von der Anonymität, mit der man hier seinen Tag begeht. Ich bezweifle jedoch, dass Sie als Thilo Sarrazin davon profitieren – auch oder gerade in Berlin.
Das ist manchmal schwer, ja. Jedenfalls ist es so, dass in Berlin völlig unterschiedliche Kreise gleichzeitig nebeneinander existieren. Vielleicht trifft man sich im KaDeWe oder in der Oper. Vielleicht oder sehr wahrscheinlich aber doch eher gar nicht. Es ist eine Stadt der parallelen Ungleichzeitigkeit. Ganz anders als beispielsweise München. München ist sehr viel formierter, was natürlich Charme hat. Es hat Stil und Stil ist immer auch Form. In Berlin haben einzelne Gebäude Stil, aber es gibt keinen Stil der Stadt.

Weil es sehr heterogen beschaffen ist.
Ja. Und in dieser Heterogenität liegt eine gewisse Wurschtigkeit und Beliebigkeit. Wenn Sie auf den Berlin Alexanderplatz gehen und sich ansehen, wie sich die jungen Frauen in der Altersgruppe zwischen 15 und 35 kleiden, also jene Gruppe, die auf ihr Outfit achten...

Mit Verlaub Herr Sarrazin, das tun Damen ab 36 aufwärts aber auch...
... ach, Sie wissen was ich meine. Ich meine die Frauen, auf die der Blick des Buschbewohnermannes automatisch fällt. Wenn Sie dann nach Dresden oder Leipzig fahren und sich die Mädchen dort anschauen, ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht, einfach weil die in der Kleidung zum Ausdruck kommende Disziplin, der Wille, sich vernünftig darzustellen, in Berlin praktisch nicht existiert. Den berühmten oder berüchtigten Münchner Schick habe ich jetzt bewusst außen vorgelassen.

Kleidungsstile als vernünftig oder unvernünftig zu bezeichnen, ist etwas vermessen, finden Sie nicht? Gerade war Fashion Week – die ganze Welt bereist die Hauptstadt, weil sie Berlin für den modischen Vorreiter hält.
Deshalb, weil in Berlin das Krasse denkbar ist. Schon vor vielen Jahren habe ich gehört, dass Modedesigner aus Mailand über irgendwelche Berliner Meilen gehen und gucken, was die Jugend an neuen krassen Sachen hat. Und wenn der Gürtel hier so getragen wird, dann ist es im Rest der Welt übermorgen Trend.

Sie haben sich von solchen Trends offenbar nie beeindrucken lassen.
1985 trat ich das erste Mal mit Berlin in engeren Kontakt, als ich im Aufsichtsrat der Berliner Flughafengesellschaft saß. Damals war ich 40 und das, was man eine gefestigte, ausgebildete Persönlichkeit nennt.

Auch kleidungstechnisch.
Das war für mich immer relativ klar. Freizeitkleidung: Jeans, Pullover, kariertes Hemd – das trage ich im Übrigen auch im Augenblick. Dienstlich: Anzug und Krawatte. Insoweit war ich, was meine Kleidung angeht, immer unauffälliger Standard.

Kommen wir zurück zum Thema: Sie sagten, Sie schreiben gerade an einem neuen Buch. Würden Sie uns vor Ihrem Ableben noch ein Vermächtnis hinterlassen, eine Botschaft, die Sie an Ihre Mitmenschen richten? Gerade das Erscheinen eines Buches nach dem Tod des Autors hat sich doch immer als sehr medienwirksam erwiesen.
Ich habe keine Botschaft im Sinne der päpstlichen Osterbotschaft. Wenn man schreibt, schreibt man, weil man einen Auftrag hat zu schreiben, oder weil der Prozess des Schreibens die eigenen Gedanken klärt.

Im Sinne der Katharsis.
Exakt. Wenn die Sache vernünftig zu Papier gebracht wird, hat das einen hohen Eigenwert und wenn das dann auch noch jemand liest, ist das eine große Belohnung.

Wie sähe denn nun Ihr letzter Tag aus?
Dafür muss ich überlegen, ob ich in einer Gefängniszelle sitze...

Lesen Sie Thilo Sarrazins letzte 24 Stunden in der März-Ausgabe des Cicero.

Herr Sarrazin, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sarah Maria Deckert.

Die März-Ausgabe des Cicero ist ab sofort im Handel und im Online-Shop erhältlich.

 

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