Trotz des europäischen Gaspreisdeckels - Öffnet endlich Nord Stream 2!

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wurde heute beschlossen, an einem gesamteuropäischen Gaspreisdeckel zu arbeiten. Der könnte zwar die dringend notwendige Entlastung für Endverbraucher bringen, löst aber das Problem des Gasmangels nicht. Abhilfe könnte allein eine Erhöhung des Angebots auf dem Weltmarkt schaffen. In der jetzigen Situation wäre es unverantwortlich, weiterhin auf russisches Gas zu verzichten.

„Wann kommt er denn endlich, der Gaspreisdeckel?“, fragen sich nicht nur die deutschen Ministerpräsidenten / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Nach ungefähr elf Stunden zäher Verhandlungen stand es endlich fest: Europa bekommt einen Gaspreisdeckel. Für Euphorie gibt es dennoch wenig Grund. Schon die Dauer der Verhandlungen spricht dafür, dass es sich bloß um einen brüchigen Minimalkonsens handelt, der im Falle einer europaweiten Gasmangellage jederzeit zerbröseln kann. Und bestätigt wurde genau diese Vermutung auch noch durch die anschließenden Pressestatements der verantwortlichen Spitzenpolitiker Europas.

Es sei noch ganz viel Detailarbeit vonnöten, verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Oder im Klartext formuliert: Wie der Gaspreisdeckel schließlich aussehen soll, ist heute noch völlig unklar. Dabei kommt genau darauf in einem überhitzten Markt am Ende alles an. Derzeit scheint nur so viel klar: Europa will eine Einkaufsgemeinschaft für Gas auf dem Weltmarkt bilden, um die Gasanbieter zu niedrigen Preisen zu zwingen. Und außerdem soll ein Instrument ersonnen werden, um spekulativen Preisentwicklungen Einhalt zu gebieten. Die Rede ist allseits von einem entsprechenden „Korridor“. Nur: Was das am Ende bedeuten soll, weiß offenbar auch nach elf Stunden Verhandlungen niemand so genau.

Deutschland droht eine „industrielle Kernschmelze“

Das Problem, vor dem ganz Europa steht, ist dabei haargenau dasselbe, das die Expertenkommission zur Entwicklung einer deutschen Gaspreisbremse zu lösen hatte. Es sollen zwei Dinge miteinander vereinbar gemacht werden, die sich logisch gesehen eigentlich ausschließen: Auf der einen Seite sollen die Gaspreise für die Endverbraucher durch Subventionen beherrschbar bleiben. Verhindert werden sollen damit nicht nur soziale Verwerfungen, sondern vor allem ein Zusammenbruch energieintensiver Wirtschaftsbereiche. Es steht nichts Geringeres als Deutschlands Wohlfahrtsmodell zur Disposition.

Auf der anderen Seite muss der Gasverbrauch gegenüber den Vorjahren deutlich reduziert werden, damit es nicht zu einer Gasmangellage kommt und Großverbraucher, also systemrelevante Unternehmen, ganz vom Netz genommen werden müssen. Tritt dieser Fall ein, droht Deutschland eine „industrielle Kernschmelze“ (Boris Palmer, Bündnis 90/Die Grünen).

Auf der einen Seite die Gaspreise staatlich subventionieren und auf der anderen Seite den Gasverbrauch reduzieren: Eigentlich passt das in einer Marktwirtschaft nicht zusammen. Wer die drohende Gasmangellage mittelfristig für die größte Gefahr hält, muss – aus volkswirtschaftlichen Gründen – eigentlich gegen eine staatliche Subventionierung der Gaspreise sein und die sozialen Konsequenzen in Kauf nehmen. Oder sich ganz andere Lösungsmodelle ausdenken.

Deutsche Gaspreisbremse als trickreicher Kompromiss

Dafür aber schien nach der Botschaft des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) vor ein paar Wochen an seine deutschen Staatsbürger kaum noch Spielraum zu existieren. „You'll never walk alone“, du wirst das nicht allein durchstehen müssen, war das Versprechen des barmherzigen Samariters von Potsdam. Nicht das Einsparen von Gas, sondern die Verbilligung dessen Verbrauchs war fortan das Gebot der Stunde.

Was in einer Marktwirtschaft passiert, wenn man den Preis für Güter reduziert, kann man in jedem Volkswirtschaftslehrbuch nachlesen oder sich nun in Frankreich oder Spanien ansehen. Dort existiert bereits seit einiger Zeit ein Instrument, die Gaspreise für die Verbraucher staatlich zu stützen. Das Ergebnis: In Frankreich gibt es gegenüber dem Vorjahr keinerlei Reduzierung des Gasverbrauchs – und in Spanien nimmt er sogar zu. Eigentlich müsste europaweit der Gasverbrauch aber um mindestens 20 Prozent sinken, um nicht im energiepolitischen Chaos zu versinken.

 

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Die deutsche Gaspreis-Kommission versuchte das Problem durch einen trickreichen Kompromiss zu umschiffen: Die Gaspreise sollen zwar staatlich gestützt werden – aber im Grunde erst ab März 2023. Also erst dann, wenn die kältesten Monate und damit die Monate des größten Gasverbrauches ohnehin schon längst vorbei sind. Ab dann soll bei Privathaushalten für 80 Prozent des Grundbedarfs ein Preis von 12 Cent je Kilowattstunde garantiert werden – und erst dann der Marktpreis gelten. Für Unternehmen sollen sogar nur 7 Cent je Kilowattstunde fällig werden – für 70 Prozent des sonst üblichen Gasverbrauches.

Dieser Vorschlag ist – volkswirtschaftlich betrachtet und zur Verhinderung einer Gasmangellage – völlig vernünftig, verträgt sich aber kaum mit dem Versprechen des Bundeskanzlers, dass niemand allein gelassen werden solle. In den Monaten Januar und Februar 2023, den mithin kältesten und damit teuersten Monaten des Jahres, soll auf Vorschlag der Kommission nämlich genau gar nichts geschehen.

Hart arbeitende Mitte besonders betroffen

Und auch das, was die Kommission ab März 2023 vorschlägt, hat so seine Tücken. Bereits ein staatlich garantierter Gaspreis von 12 Cent je Kilowattstunde bedeutet eine Verdoppelung der Gaspreise für private Endverbraucher. Aber das ist noch nicht alles. Die Differenz zwischen dem Markt- und dem staatlich garantierten Preis soll sogar als „geldwerter Vorteil“ gewertet und versteuert werden. Mit anderen Worten: Selbst wenn eine Familie gegenüber dem Vorjahr ihren Gasverbrauch tatsächlich um 20 Prozent reduziert, zahlt sie hierfür am Ende weit mehr als nur das Doppelte, sondern eher das Dreifache. In einer Familie mit vier Personen erhöhen sich damit die Kosten für Gas monatlich um ungefähr 200 Euro, aber erst ab März 2023. Vorher liegen die Kosten noch viel höher.

Bemerkenswert ist dabei übrigens ein besonderes Detail. Alle Deutschen sollen in diesem Winter möglichst viel Gas sparen. Nur eine Gruppe ist bisher ausgenommen: Die Bezieher von Hartz IV und Grundsicherung etc. In diesen Fällen erstattet das Amt die Heizkosten – egal wie sparsam oder verschwenderisch die Leistungsempfänger sich verhalten. Wenn es denn wahr ist, dass Deutschland alles Erdenkliche unternehmen muss, um eine Gasmangellage abzuwenden, stellt sich natürlich die Frage, warum weder die Bundesregierung noch die Gaspreis-Kommission hierzu irgend etwas gesagt oder entschieden hat.

Während also Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen trotz staatlicher Intervention eine Verdreifachung ihrer Heizkosten befürchten müssen, bleiben jene, die von den Löhnen dieser hart arbeitenden Mitte der Gesellschaft leben, von Einschränkungen ganz unbehelligt. Kanzler Scholz hat seine Amtszeit zu einer des „Respekts“ vor den Lebensleistungen der Menschen ausgerufen. Aber hätte es nicht auch etwas mit Respekt zu tun, jene, die den Wohlstand dieses Landes erarbeiten, nicht schlechter zu behandeln als jene, die von ihm leben?

Bundesregierung war lange Zeit skeptisch

Volkswirtschaftlich betrachtet ist der Kompromiss der Gaspreis-Kommission dennoch vernünftig, um eine Gasmangellage zu verhindern. Nur leider verträgt er sich nicht mit den Versprechungen der Politik. Kein Wunder also, dass die Ministerpräsidenten nun fordern, die Umsetzung der Gaspreisbremse schon auf Januar vorzuziehen. Der derzeitige Vorsitzende der Konferenz der Ministerpräsidenten, der Sozialdemokrat Stephan Weil, kann der Bundesregierung „nur dringend“ davon abraten, diesbezüglich der Empfehlung der Gaspreis-Kommission zu folgen. Und auch der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU), pflichtet ihm bei: „Eine Wirksamkeit ab 1. Januar wäre deutlich besser als eine Wirksamkeit ab März.“ Folgt die Bundesregierung diesen Appellen, dürfte eine Gasmangellage kaum noch abzuwenden sein.

Angesichts dieser innerdeutschen Lage ist es besonders kurios, dass die deutsche Bundesregierung lange Zeit einer europaweiten Gaspreisbremse sogar skeptisch gegenüber stand. Aber dafür gibt es ja tatsächlich gute Gründe. Der Gasmangel auf der Welt ist durch den Krieg in der Ukraine und den Abbruch der Lieferbeziehungen zu Russland vor allem angebotsseitig induziert. Auch wenn sich Europa künftig zu einer Einkaufsgemeinschaft zusammenschließt, kann diese eines überhaupt nicht ändern: den Umfang des auf dem Markt zur Verfügung stehenden Gases.

Dass ausgerechnet Deutschland gemeinsam mit den Niederlanden daher im Vorfeld der europäischen Verständigung über die Gaspolitik dieser Tage ein „non-paper“ in Umlauf brachte, in dem beide Staaten feststellten, dass die individuelle, unkoordinierte Konkurrenz der Europäer beim Gaseinkauf nur die Preise auf dem Weltmarkt sinnlos in die Höhe getrieben hätte, muss schon ein bisschen verwundern. Denn es war ja Deutschland, das zeitnah nach Beginn des Krieges weltweit unkoordiniert auf Gas-Einkaufstour ging und Gas kaufte, was das Zeug hält – „whatever it takes“. Dieses eigensinnige Vorgehen der deutschen Bundesregierung ist einer der wesentlichen Gründe für die Explosion der Gaspreise in den letzten Monaten.

Beziehungen zu Russland wiederherstellen

Dabei ist im politischen Raum offenbar niemand bereit, über das eigentliche Problem zu sprechen: den offensichtlich bestehenden Angebotsmangel. Weder die deutsche Gaspreis-Kommission noch die Bundesregierung und schon gar nicht die europäische Ebene verlieren hierzu auch nur irgendein Wort.

Wirtschaftsexperte Clemens Fuest vom ifo-Institut wird dabei schon seit Monaten nicht müde, immer und immer wieder dasselbe zu sagen: Sich in eine erhebliche energiepolitische Abhängigkeit gegenüber Russland begeben zu haben, sei ein genauso großer Fehler wie derjenige, nun die energiepolitischen Beziehungen zu Russland auf immer und ewig zu kappen. Und das aus zwei Gründen: Erstens schade dies Europa und Deutschland wirtschaftlich mehr als Russland, und zweitens müsse, wer auf Putin Einfluss haben wolle, auch ein Druckmittel gegen ihn in der Hand haben. Die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Beziehungen zu Russland könnte demgemäß auch ein kleiner geopolitischer Baustein auf dem Weg zum Frieden sein.

Man erinnere sich: Deutschland hatte noch vor ein paar Monaten keinesfalls vor, sämtliche energiepolitischen Beziehungen zu Russland zu kappen. Geplant war vielmehr, dass Russland noch für ein paar Jahre seine vertraglichen Verpflichtungen über Nord Stream 1 erfüllt – bis Deutschland und Europa energiepolitische Alternativen aufgebaut haben.

Dann war es Putin, der die Energieflüsse nach Europa unter fadenscheinigen Gründen unterbrochen hat. Ziel war es vor allem, Deutschland zur Öffnung von Nord Stream 2 zu zwingen. Die deutsche Politik hatte sich jedoch frühzeitig so geäußert, dass eine Inbetriebnahme der Gasleitung Nord Stream 2 wegen des Krieges überhaupt nicht mehr in Frage komme. Und zwar für immer.

Deutschland kann Ukraine nicht um jeden Preis helfen

Nach dem Anschlag auf Nord Stream 1 und 2 besteht jedoch folgende Situation: Egal, wer diesen Anschlag verursacht hat, Nord Stream 1 ist vollständig zerstört – und nur Nord Stream 2 bietet noch einen zweiten, intakten Versorgungsstrang in Richtung Europa. Da das weltweite Gasproblem angebotsseitig verursacht ist, wäre es ein Gebot der politischen Vernunft, Russland die Wiederaufnahme von Gaslieferungen nun doch über Nord Stream 2 zu gestatten. Auch wenn die Bundesregierung dies in den letzten Monaten stets kategorisch ausgeschlossen hat, hätte sie Gaslieferungen über Nord Stream 1 ja ohnehin jederzeit gestattet. Da es also um die Frage geht, wie Gas nach Europa gelangt und nicht ob, wäre alles andere ein Vergehen am Gemeinwohl.

Möglicherweise würde eine solche Entscheidung in der Ukraine auf Unverständnis stoßen. Aber auch der ukrainische Präisident Wolodymyr Selenskyj wird irgendwann einsehen müssen, dass eine andauernde Unterstützung der Ukraine durch Deutschland und Europa nicht um den Preis des sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs des ganzen Kontinents zu haben ist.

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