
- Zerreißen statt spalten
In einer Grundsatzrede hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Deutschen auf weitere Einschränkungen vorbereitet. Es ginge jetzt darum, dass die Gesellschaft ihren Beitrag zur aktuellen Krise leiste. Doch bei allen präsidialen Kalendersprüchen ließ Steinmeier auch Raum für Zweifel und für unbeantwortete Fragen. Gerade das machte die Rede, die eigentlich keiner hören wollte, doch noch interessant.
Zusammenhalten ist wie ein guter Dreikomponentenkleber. Es müssen dabei mehr als Zwei an einem Strang ziehen, um Statik und Widerstandsfähigkeit herzustellen. Ein funktionierender und demokratischer Rechtsstaat wird daher stets von drei Gewalten zusammengepappt: Von Exekutive, Judikative und Legislative. Soweit, so gut und so bekannt. Gedanken machen über die eigentlich bewährte Kohäsion muss man sich erst dann, wenn der laut Verfassung erste Mann in diesem ansonsten doch so vorbildlich parzellierten und eigentlich ja auch reibungslos dahinschnurrenden Staatsgebilde eine wichtige Grundsatzrede hält, und die obersten Vertreter von Exekutive wie Legislative halten sich vielleicht nicht gleich die Ohren, aber zumindest die Terminplanung zu – kurz, sie kommen erst gar nicht, um diesem obersten Mann beim Verfertigen seiner Gedanken im öffentlichen Vortrag zuzuhören.
Genau so hat es sich am gestrigen Freitag in Berlin ereignet. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte gegen 11 Uhr zu einer live im Fernsehen übertragenen Rede an die Nation ins Schloss Bellevue geladen, und weder Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch irgendein Mitglied seines Kabinettes, weder Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), noch Grünenchefin Ricarda Lang waren der Einladung des Staatsoberhauptes in seinen feierlich hergerichteten Amtssitz gefolgt. Was schon in normalen Zeiten ein Ärgernis wäre, das bekommt hier eine gleich doppelte Brisanz: Das Thema von Steinmeiers Rede war nämlich nicht weniger als dieses: „Alles stärken, was uns verbindet“. So zumindest hatte es auf den Einladungskärtchen gestanden, und so hatte sich der Bundespräsident denn auch auf seinen langen und gegen Ende etwas ermüdenden Redetext vorbereitet. Es war ein wirklich wichtiges Thema, zumal Deutschland, so betonte es Steinmeier in seinem Text gleich mehrmals, wenn nicht am Abgrund, so doch mindestens am Scheideweg stünde.