Aufstieg der AfD - „Eine massive Einengung des Meinungskorridors“

In vielen europäischen Ländern sind populistische Parteien auf dem Vormarsch. Der Soziologe Michael Hartmann erklärt, warum er die Eliten in Politik und Medien für deren Aufstieg mitverantwortlich macht.

AfD-Chefin Alice Weidel und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Michael Hartmann war bis 2014 Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Elitesoziologe, Industrie- und Betriebssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Der emeritierte Professor erforschte viele Jahre, wie sich Macht vererbt und wer in Deutschland zu den Eliten gehört. In seinem 2018 erschienen Buch „Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden“ lastet er den Eliten den Aufstieg der Populisten an.

Herr Hartmann, in vielen europäischen Ländern verzeichnen die Rechtspopulisten große Erfolge. Wie erklären Sie das?

Bei allen nationalen Besonderheiten gibt es eine wesentliche Gemeinsamkeit: In all diesen Ländern ist eine massive soziale Spaltung zu verzeichnen. So hat das oberste Zehntel der Bevölkerung hierzulande seine Einkommen zwischen 1999 und 2020 real um gut 45 Prozent steigern können. Das untere Zehntel hat dagegen mehr als acht Prozent verloren. Die Kluft hat sich also um gut die Hälfte vergrößert. Diese Entwicklung trifft selbst jene Länder, die, wie Schweden, traditionell für Gleichheit bekannt waren. Dort ist die Schere zwischen den hohen und den niedrigen Einkommen in den letzten 30 Jahren fast genauso schnell auseinandergegangen wie in Deutschland, wenn auch von einem deutlich ausgeglicheneren Ausgangsniveau aus.

Ist das wirklich der entscheidende Grund? Es gibt doch noch andere Faktoren, wie vor allem die Infragestellung traditioneller Werte oder die starke Migration.

Warum ich die materielle Spaltung der Gesellschaft entscheidend finde, lässt sich in einem Vergleich mit den 1960er, 1970er Jahren deutlich machen. Damals gab es bei den beiden anderen Faktoren in den Augen der meisten Bundesbürger ähnlich gravierende Veränderungen. Die sexuelle Revolution, die neu aufkommenden Wohnformen und die Emanzipation der Frauen erschütterten das traditionelle Wertesystem nicht weniger als heute die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Anerkennung verschiedener sexueller Identitäten. 

Michael Hartmann / privat

Auch bei der Migration gab es eine vergleichbare Entwicklung. Zwischen 1961 und 1975 nahm der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung um mehr als das Fünffache zu, von 1,2 auf 6,3 Prozent. Der Anstieg war sogar noch stärker als der in den letzten 15 Jahren, von neun auf knapp 15 Prozent, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Für die Bevölkerung war es damals gefühlt aber ähnlich. Über „Itaker“, „Jugos“ oder gar Türken wurde an den Stammtischen genauso gelästert wie heute in den sozialen Medien über Syrer, Afghanen oder ganz generell Muslime. 

Von einem Aufschwung rechter Parteien war dennoch nichts zu sehen, denn es gab einen entscheidenden Unterschied zu heute: Damals waren die sozialen Unterschiede relativ gering, und die realen Einkommen stiegen von Jahr zu Jahr deutlich an. Allgemein sah man viel optimistischer in die Zukunft als heute. Deshalb halte ich die materielle Situation für entscheidend, wenn es darum geht, die Erfolge des Rechtspopulismus zu erklären. 

Also führen Sie den Aufstieg des Rechtspopulismus in vielen westlichen Ländern auf die sozialen Spaltung der Gesellschaft zurück.

Ja, ganz eindeutig. Das zeigen gerade die letzten Jahre. Seit 2020 ist zur Verschärfung der Ungleichheit noch ein genereller Rückgang der Realeinkommen gekommen. Durch die hohe Inflation ist das durchschnittliche Lohnniveau nach Angaben der Bundesbank wieder auf dem Stand von 2014. Alle Zugewinne des letzten Jahrzehnts sind weg. Das verunsichert viele Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein. Zeitgleich hat die AfD in Umfragen massiv dazugewonnen. In den alten Bundesländern liegt sie fast überall nahe der 20-Prozent-Marke, und im Osten ist sie sogar fast durchweg die stärkste Partei.

Haben die Erfolge der AfD Sie überrascht?

Nein. Ich habe schon 2017 im Deutschlandradio bei einer Diskussion mit dem Forsa-Chef Güllner seiner Prognose heftig widersprochen, dass das mit der AfD nur ein kurzes Intermezzo sein werde. Ich war mir damals sicher, dass die AfD sich aufgrund der herrschenden Politik auch dauerhaft etablieren würde.

Können wir damit rechnen, dass die sogenannte „Brandmauer“ wie in anderen europäischen Ländern auch in Deutschland bröckeln wird?

Auf Dauer ist wohl damit zu rechnen, wenn man sich die Entwicklung in Finnland oder Schweden anschaut. Dort sind die Rechtspopulisten auch lange Jahre ausgegrenzt worden. Nach ihren großen Wahlerfolgen sind sie von den bürgerlich-konservativen Parteien jetzt aber direkt oder indirekt an der Regierung beteiligt worden. Auch auf der EU-Ebene lässt sich derselbe Prozess im Verhältnis zur italienischen Regierung mit ihrer neofaschistischen Ministerpräsidentin Meloni sehen. In Deutschland ist etwas Ähnliches zuerst in den östlichen Bundesländern zu erwarten.

Als Elitesoziologe liegt für Sie die Erklärung nahe, dass die Eliten hierfür hauptverantwortlich sind. Was werfen Sie diesen sogenannten Eliten vor?

Ich werfe ihnen vor, dass sie mit ihrer Politik seit Ende der 1990er Jahre die Spaltung der Gesellschaft massiv vorangetrieben und damit die Grundlage für die Erfolge der AfD geschaffen haben. Bis heute hat sich an dieser Politik im Kern nichts geändert. Das kann man nicht nur in der Steuer-, sondern zum Beispiel auch in der Klimapolitik sehen. Die großzügigen Subventionen für die E-Autos, die Solardächer oder den Umbau der Heizungsanlagen sind in erster Linie dem oberen Drittel der Bevölkerung zugutegekommen. Das untere Drittel hat so gut wie nichts davon gehabt. Die einzige Maßnahme, von der dieser Bevölkerungsteil überproportional profitiert hätte, das Klimageld, wird dagegen wohl den aktuellen Sparrunden der Bundesregierung zum Opfer fallen.
 

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Sind die Eliten Ihrer Meinung nach auch für andere negative Entwicklungen verantwortlich?

Ja. Seit Corona haben die Eliten in Politik und Medien für eine massive Einengung des Meinungskorridors gesorgt. Wer in Fragen der Corona- oder Ukrainepolitik eine abweichende Meinung vertrat, wurde sofort mit Vorwürfen wie „Schwurbler“ oder „Putin-Knecht“ überzogen. Das war in der Regel völlig unabhängig von der Qualität der Gegenargumente, traf gut begründete Einwände genauso wie tatsächlich nicht haltbare Verschwörungstheorien.

Eine offene Debatte über unterschiedliche Positionen wurde durch das simple Muster von Gut und Böse unmöglich gemacht. Es wurde nicht mehr argumentiert, sondern moralisch verurteilt. So wurden etwa selbst die Kinder mit dem Vorwurf massiv unter Druck gesetzt, sie gefährdeten das Leben ihrer Großeltern, sollten sie sich nicht impfen lassen.

Die wissenschaftliche Grundlage dieses Vorwurfs war von Anfang an fragwürdig und der Sinn einer solchen Impfung bereits nach wenigen Monaten nicht mehr erkennbar. Man hielt von offizieller Stelle aber trotzdem noch lange daran fest. All das hat das gesellschaftliche Klima zusätzlich stark polarisiert.

Sie fordern einen radikalen Politikwechsel. Was genau stellen Sie sich vor?

Notwendig wäre vor allem eine Politik, die die soziale Spaltung deutlich verringert und nicht immer weiter vertieft. Das gilt für alle Bereiche, für die Steuerpolitik ebenso wie für die Wohnungs- oder die Bildungspolitik. Konkret hieße das beispielsweise eine höhere steuerliche Belastung hoher Einkommen und Vermögen, eine Stärkung des sozialen Wohnungsbaus und mehr Ganztagsschulen, die diesen Namen auch verdienen. Außerdem müssten politische Kontroversen wieder offen und frei von moralischen Vorverurteilungen geführt werden. All das ist derzeit aber leider nicht in Sicht. Daher ist zu befürchten, dass die politische Polarisierung und der Siegeszug der AfD weiter voranschreiten. 

Was ist mit den großen Demonstrationen „gegen Rechts“, die derzeit stattfinden? Die Mobilisierung Hunderttausender spricht doch eher dafür, dass die AfD es nicht allzu leicht haben wird.

So positiv ich die Demonstrationen finde, sie werden diese Entwicklung vermutlich nicht verhindern. Ähnlich große Demonstrationen gab es auch 1992, 2000 und 2018. Sie hatten alle keine dauerhafte Wirkung. Der Hauptgrund war meines Erachtens, dass sie zwar Position gegen die Rechtsentwicklung bezogen, deren Ursachen aber nicht wirklich thematisierten. Allerdings habe ich die Hoffnung, dass die neue Partei Bündnis Sahra Wagenknecht den Trend nach rechts stoppen und vielleicht sogar umkehren kann.

Wie kommen Sie darauf, dass Wagenknechts Bündnis das erreichen könnte?

Die Entwicklung nach rechts ist ja nicht zwingend. Das zeigen die beiden Kreise in Thüringen, in denen die AfD bei den jüngsten Wahlen des Landrats einmal gewonnen und einmal nur ganz knapp verloren hat. Weder im Saale-Orla-Kreis noch in Sonneberg war das unausweichlich.

Die AfD hat dort erst wirklich Fuß gefasst, nachdem die Linkspartei in das Lager der etablierten Parteien gewechselt war und damit für Protestwähler weitgehend ausfiel. Nach 1989 hatten rechte Parteien dort für fast zweieinhalb Jahrzehnte keine Chance. Protestwähler wählten die Linkspartei. Sie lag bei den Bundestagswahlen 2013 mit knapp einem Viertel der Stimmen weit vor allen rechten Parteien, die selbst zusammen nur um die fünf Prozent schafften.

Das änderte sich mit der Amtsübernahme durch Ramelow drastisch. Die Linkspartei verlor bis 2021 über die Hälfte ihrer früheren Wähler und landete bei nur noch knapp elf Prozent. Gleichzeitig setzte die AfD zu ihrem Siegeszug an, der sie 2021 auf gut 26 bzw. gut 28 Prozent führte.

Bei den Landtagswahlen war es aber doch anders …

Das stimmt. Da hat die Linkspartei die meisten Protestwähler zwar auch an die AfD verloren. Dafür hat Ramelow wie alle anderen Ministerpräsidenten im Osten die Stimmen der Anti-AfD-Wähler auf sich konzentriert. Der Verlust von Protestwählern konnte durch den Zugewinn von den anderen etablierten Parteien weitgehend kompensiert werden. Am Erfolg der AfD hat das aber nichts geändert.

Im Übrigen ist die Entwicklung in diesen beiden Kreisen noch in einem anderen Punkt interessant. Weil beide Kreise schon bei den letzten freien Wahlen der Weimarer Republik 1932 Hochburgen der NSDAP waren, mit weit überdurchschnittlichen Stimmanteilen von um die 50 Prozent, hätte man erwarten können, dass rechte Parteien dort nach 1989 anzuschließen vermögen. Das war aber für fast 25 Jahre nicht der Fall. Rechte Weltbilder vererben sich nicht zwangsläufig. Die konkreten Alltagserfahrungen und die politischen Alternativen sind letztlich ausschlaggebend für den Erfolg rechter oder rechtspopulistischer Parteien.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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