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() Lea Rosh
Die Täter sind unter uns

Der Historiker Hubertus Knabe hat eine umfassende Bilanz der Aufarbeitung des SED-Unrechts geschrieben.

Der Holocaust hatte schätzungsweise 150000 Täter. Organisatoren und Vollstrecker. Auf bundesrepublikanischem Boden sind von deutschen Staatsanwaltschaften gegen 88587 Beschuldigte Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. 88587: eine imponierende Zahl. Nur: Ohne Strafe blieben 80000. Viele waren verstorben oder untergetaucht. Aber viele sind einfach straffrei ausgegangen: Einstellung des Verfahrens oder Freispruch. Nur etwas über sechstausend sind rechtskräftig verurteilt worden: zwölf zum Tode, 158 zu lebenslanger Freiheitsstrafe, die meisten, 6180 zu Freiheitsstrafen im Schnitt zwischen drei und fünf Jahren, auch für tausendfachen Mord. Wobei die Strafen in der Regel nicht einmal abgesessen wurden. In der ehemaligen DDR sind 13000 Täter wegen „faschistischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt worden. Darin sind etliche Abwesenheitsurteile enthalten, weil viele Belastete sich rechtzeitig in den Westen abgesetzt hatten, sie wussten schon, wo es gemütlicher für sie zuging. Alles in allem sind die Verbrechen der Nazis, gemessen an Dimension und Grausamkeit, durch die deutsche Nachkriegsjustiz weitgehend straffrei geblieben. Der Anspruch der Nürnberger Prozesse, die Ehre und Würde der Opfer wiederherzustellen und das verletzte Recht wieder einzusetzen, ist nicht erfüllt worden. Der Philosoph Karl Jaspers prophezeite damals düster, „dass die Menschheit sicher zugrunde gehen würde, wenn Staaten solche Verbrechen ausführen dürften“. Eben nicht. Jaspers irrte. Die Menschheit ist nicht zugrunde gegangen. Ein kurzer Aufschrei, Schwüre: „nie wieder“…, und dann ging alles weiter in der Tagesordnung. Schlimmer noch: Nun lerne ich aus dem fakten- und kenntnisreichen Buch von Hubertus Knabe („Die Täter sind unter uns“, Propyläen, 2007), dass sich diese elende Geschichte 50 Jahre später wiederholt. Wieder bleiben Tat und Täter straffrei, wieder kehren die Täter unbehelligt in die Gesellschaft zurück, wieder beziehen die Täter hohe Renten und Pensionen und verspotten zynisch ihre Opfer, deren Altersversorgung nicht vergleichbar ist, die wegen ein paar Euro jämmerlicher Entschädigung jahrelang betteln müssen. Nicht, dass die Verbrechen der Nazis, ihrer Sadisten, Henker, KZ-Bestien und Schreibtischtäter gleichzusetzen wären mit den Verbrechen der DDR-Führungsclique, ihrer Funktionäre und Stasi-Offiziere und den 600000 IM. Aber auch sie haben getötet, gequält, gefoltert, Menschenrechte mit Füßen getreten. Ihre Verbrechensliste lautet: Tötung, schwerste Körperverletzungen, Mordversuche, Entführungen, Gefangenenmisshandlungen, Deportationen in sowjetische Arbeitslager, wo viele an Hunger, Kälte und mangelnder medizinischer Versorgung elend zugrunde gingen. Und weiter: Enteignungen, Verletzung des Briefgeheimnisses, heimliches Abhören von Telefonen, Diebstahl von Geld und Wertgegenständen aus privater Post, Erpressung Ausreisewilliger und, und, und – die Verbrechensliste ließe sich endlos fortschreiben. Auch diese Verbrechen sind alles in allem straffrei geblieben. Die deprimierende Bilanz von Hubertus Knabe: Von 62000 Ermittlungsverfahren gegen rund 100000 Personen kam bis Mitte 1998 nur gut ein (!) Prozent zur Anklage: 58000 Verfahren hatten die Staatsanwaltschaften wegen allzu großer Aussichtslosigkeit von sich aus eingestellt. Insgesamt gab es schließlich 670 Anklagen gegen 1042 Personen. Aber ein großer Teil dieser Beschuldigten blieb unbehelligt: Freisprüche, Einstellung der Verfahren. Mehr als 99 Prozent aller ursprünglich Beschuldigten kamen ohne Strafe davon. Es gab nur 316 Verurteilte. Die meisten, 190, erhielten Bewährungsstrafen, 105 kamen mit Geldstrafen, neun mit einer Verwarnung oder einem Tadel davon. Nur 19 mussten wirklich ins Gefängnis. Wieder ein gigantisches Versagen von Politik und Rechtsprechung. Aus der Geschichte gelernt? Es hätte auch 50 Jahre später für die DDR-Taten eine gerechte Ahndung von Menschenrechtsverletzungen geben müssen. Gab es aber nicht. Das sogenannte Rückwirkungs­verbot, verhängnisvollerweise in den Einigungsvertrag aufgenommen, hatte schon einmal deutschen Tätern beste Dienste geleistet: nulla poena sine lege. Das hieß und heißt: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Eine für NS- und DDR-Verbrecher maßgeschneiderte Entlastung. So argumentierten denn auch viele frech und prompt: „Was damals rechtens war, kann heute doch nicht unrecht sein.“ Damit versuchte sich seinerzeit Filbinger aus der Schlinge zu ziehen, damit rechtfertigten auch der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Keßler und andere Mauerschützen die Tötung von Flüchtlingen an der Grenze: „Der Gebrauch der Schusswaffe gegenüber Grenzverletzern sei in der DDR nicht verboten, sondern gesetzlich gedeckt gewesen.“ Der Strafrechtler Jürgen Baumann sagte, „dass Mord befehlende Gesetze naturrechtswidrig und nichtig sind, dass sie innerstaatlich rechtswidrig und völkerrechtswidrig waren“. Und Karl Jaspers folgert radikal schlüssig, dass „das Rückwirkungsverbot den Verbrecherstaat letztlich als Rechtsordnung akzeptiert“. Alles andere, erkennt der Leser nach der Lektüre von Knabes Analysen, ist zutiefst unmoralisch und verwerflich und ein Schlag ins Gesicht eines jeden Opfers. Hubertus Knabe folgert: „Der Bundestag und nicht die Justiz trägt deshalb die Hauptverantwortung dafür, dass zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte die Verbrechen eines totalitären Staates weitgehend ungesühnt blieben.“ Die Fehlentwicklungen nach 1949 rächten sich und luden nach 1989 zur verhängnisvollen Nachahmung ein. Ergebnis: Das Recht ist und bleibt ein für allemal verletzt. Lea Rosh ist Fernsehjournalistin und Publizistin. Sie lebt in Berlin

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