Deutsches Parlament - Volks-, Reichs- oder Bundestag?

Der Begriff „Bundestag“, Inbegriff unserer Demokratie, war den Demokraten des 19. Jahrhunderts zutiefst verhasst. 1949 haderte der Parlamentarische Rat denn auch mit dem Namen. Beinahe hätte unser Parlament „Volkstag“ geheißen.

Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wäre mit dem Namen Bundestag nicht einverstanden gewesen / dpa
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Autoreninfo

Dr. André Postert, geboren 1983, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, wo er 2013 promoviert wurde. Als Historiker ist er in der Wissenschaft und der politischen Bildung aktiv. Seine Themenfelder sind die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die Geschichte des Rechtsextremismus.

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Der Bundestag ist zurück aus der Sommerpause. Ein guter Anlass, um sich einmal einer ganz grundsätzlichen Fragestellung zu widmen: Warum heißt unser Parlament eigentlich „Bundestag“? Nicht tragisch, wenn Sie sich das nie gefragt haben. Aktuell finden Sie nicht einmal auf den Internetseiten des Bundestages eine richtig gute Erklärung. Umso merkwürdiger wird Ihnen diese Namenswahl erscheinen, wenn Sie auf Schulwissen zurückgreifen. Hätten wir einem radikalen Demokraten Mitte des 19. Jahrhunderts gesagt, unsere gewählte Volksvertretung heiße „Bundestag“ – er hätte uns mit wutrotem Kopf für verrückt erklärt.  

Der Bundestag gegen die Demokraten 

Noch war Deutschland kein vereinigter Nationalstaat. Über Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover regierten Könige. Hessen, Baden und Mecklenburg waren sogenannte Großherzogtümer. 38 dieser deutschen Staaten, darunter ein paar freie Städte, schloss der Wiener Kongress 1815 einigermaßen lose zum Deutschen Bund zusammen. Als dessen einzige Vertretung fungierte die Bundesversammlung, die lediglich im offiziellen Sprachgebrauch so genannt wurde. Die Menschen redeten stattdessen vom Bundestag. Im hübschen Palais Thurn und Taxis in Frankfurt am Main saßen aber keine gewählten Abgeordneten, sondern Gesandte der Fürsten.  

Dieser Bundestag war nicht nur kein demokratisch legitimiertes Organ. Vielmehr übernahm er die Rolle eines Gegenspielers der jungen demokratischen Bewegung in Deutschland. Während Könige und Fürsten die bestehende Ordnung und damit ihre Herrschaft absichern wollten, erstrebte die demokratische Bewegung den republikanisch verfassten Nationalstaat. Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwoll das demokratische Stimmengewirr dröhnend an, Forderungen wurden mitunter radikaler, die liberalen Bürger selbstbewusster und die jungen Studenten ungeduldiger.  

Also fasste der Bundestag zahlreiche Beschlüsse, um die demokratischen Regungen zu ersticken und jene Fürsten, die es mit Zugeständnissen an die Liberalen zu weit trieben, zur Umkehr zu drängen. 

Die Revolution 1848 und der Reichstag 

Die Revolution 1848, die in mehreren deutschen Staaten die Verhältnisse auf den Kopf stellte, nötigte zu Reformen. „Das Volk muss herrschen und braucht keinen Bundestag“, lautete eine Forderung der Demokraten. Adolf Streckfuß, ein Autor revolutionärer Pamphlete, schrieb: „Hat der Deutsche Bundestag, jener Fürstenbund zur Unterdrückung der Völker, schon früher durch seine volksfeindlichen Bestrebungen Hass erregt, so wurde dieser Hass mit jedem Tage neu angeschürt“.

 

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Als Barrikaden errichtet wurden, musste sich der Bundestag reformerisch zeigen. Am 30. März 1848 ebneten die Gesandten per Beschluss den Weg zur Wahl einer Nationalversammlung. Im Mai traten deren frei gewählte Abgeordnete in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Der nur wenige Gehminuten entfernte Bundestag verstummte derweil. Ein ganzes Jahr dauert es, bis die Abgeordneten ihre Verfassung vorlegten. Sie sah für den künftigen Staat einen „Reichstag“ mit zwei Kammern vor – das vom Volk gewählte „Volkshaus“ und das „Staatenhaus“, das sich aus den Parlamenten der Staaten zusammengesetzt hätte. Ideen, den Bundestag zu reformieren und ihm eine demokratische Rolle zu geben, wurden verworfen. Mit dem bevorzugten Namen „Reichstag“ wiederum erinnerte die Paulskirchenverfassung an die Ständeversammlungen im Spätmittelalter. 

Liberalisierung aufhalten

Das revolutionäre Moment war schon vorüber. Die Märzrevolution schlief unrühmlich ein und die Fürsten behielten ihre Macht. Im Sommer 1851 wurde der Bundestag reaktiviert. Seine Aufgabe lag – noch mehr als vorher – darin, Liberalisierung aufzuhalten oder Errungenschaften von 1848 rückgängig zu machen: das allgemeine Wahlrecht, wo es eingeführt worden war, oder Freiheiten der Presse und Vereine. Am 23. August 1851 beschloss der Bundestag, die während der Revolution formulierten und in manchen Staaten teils noch gültigen „Grundrechte des deutschen Volkes“ außer Kraft zu setzen.  

Der preußisch-österreichische Krieg 1866 machte dem Deutschen Bund ein Ende. Mit der von Preußen erkämpften Einigung Deutschlands erfüllte sich zumindest ein Teil des revolutionären Programms. Viele Liberale versöhnten sich mit der Obrigkeit. Der 1871 gegründete deutsche Nationalstaat, der eine Monarchie mit Kaiser war, erhielt den Reichstag. Ein Parlament, das man – jedenfalls die Männer – geheim und frei wählte. Den letzten Stein am Reichstagsgebäude, in das die Abgeordneten 1894 einzogen, legte bezeichnenderweise der Kaiser. Erst die Revolution und das Ende der Monarchie 1918 machten das Land zur Republik und den Reichstag zur Herzkammer des Staates.  

Dass unser heutiges Parlament nicht Reichstag heißen konnte, besorgte die weitere Entwicklung. Nur wenige wollten nach 1945 an eine Demokratie anknüpfen, die gescheitert war, und an den Reichstag, der 1933 mit dem „Ermächtigungsgesetz“ Hitler die Bahn freigemacht hatte. Außerdem war die Sprache der Deutschen so vergiftet, dass der jahrhundertealte Begriff „Reich“ nur schwer über die Lippen ging. Ob den alliierten Besatzern ein „Reichstag“ gepasst hätte? Ein neuer Name musste her.  

Fast „Volkstag“ statt Bundestag 

Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee schrieb im August 1948 binnen zwei Wochen einen Entwurf für das Grundgesetz, das dem neuen demokratischen Deutschland die Form geben sollte. Darin war schon vom „Bundestag“ die Rede. Danach arbeitete der Parlamentarische Rat, eine von den Länderparlamenten gewählte Versammlung, das Grundgesetz aus. Am Rande sprach man über Namen. Um an die demokratische Tradition anzuknüpfen, wäre „Volkshaus“ denkbar gewesen. Im Gespräch waren auch: „Unterhaus“, „Versammlung“, ja sogar „Volkskammer“ – die DDR lässt grüßen! 

Der „Bundestag“ hatte indes nicht nur Freunde. Im Gegenteil. Der große Liberale Theodor Heuss mochte ihn „aus historischen Gründen“ nicht. Er meinte, dass der Name viel zu sehr mit der Fürstengeschichte des 19. Jahrhundert verbandelt sei. Ja, mehr noch: Er hätte sich gewünscht, so Heuss wörtlich, dass der „Bundestag“ mit der Geschichte untergegangen wäre. Um das „Elementare der Volkssouveränität“ zu betonen, sprach sich Heuss für „Volkstag“ als Name aus.  

Sie lesen diesen Vorschlag und finden vielleicht, dass „Volkstag“ doch ähnlich unpassend wie „Reichstag“ klingt. Doch übertriebene Befindlichkeiten gegenüber dem Volksbegriff gab es damals nicht. Der Liberale Heuss stand in dieser Frage an der Seite der Sozialdemokraten, deren Herz ebenfalls für „Volkstag“ schlug. Teile der CDU hatten nichts einzuwenden. Fast wäre es so gekommen. Als die Westdeutschen 1949 noch versuchten, ihren Alltag zwischen Trümmern und Wiederaufbau zu bewältigen, machten ihnen die Zeitungen schon die Wahlen zum ersten deutschen „Volkstag“ schmackhaft. Und die Parteien, die sich in Stellung begaben, schworen ihre Mitglieder im Frühjahr 1949 – wenige Wochen vor der Bundestagswahl – auf die „Wahlen zum kommenden Volkstag“ ein.  

Die Bundestag-Entscheidung 

Die Verfassungsväter und -mütter des Parlamentarischen Rates schwankten hin und her, legten sich lange nicht fest, wie sie ihr Kind nennen sollten. Die Entscheidung für „Bundestag“ fiel spät.  

Für den Namen sprach, wie gesagt, zwar nicht die Geschichte der deutschen Demokratiebewegung. Dafür andere Erwägungen. Der neue Staat sollte föderal aufgebaut werden. Das wollten vor allem die Christdemokraten; weniger die SPD unter Kurt Schumacher. Der westdeutsche Staat sollte kein Zentralstaat sein. Und man wollte den Ostdeutschen die Tür offenhalten, wäre es früh zur Wende in der sowjetischen Besatzungszone gekommen. Die Bundesrepublik wurde also als Länderbund gebaut, und da lag der Rückgriff auf den Deutschen Bund und den Bundestag eben doch wieder sehr nahe.  

Strukturen eines neuen Staates

Am 5. Mai 1949 stellte der CDU-Mann Robert Lehr den entscheidenden Antrag im Parlamentarischen Rat. 12 gegen 8 Stimmen entschieden für eine Änderung von „Volkstag“ zu „Bundestag“. Den damaligen Deutschen wird das recht egal gewesen sein. An Parlamentarismus und Demokratie mussten sie erst wieder gewöhnt werden. Die Strukturen des neuen Staates machte es ihnen zumindest etwas verständlicher, dass rein sprachlich „Bundestag“ mit „Landtag“ zusammenhing.   

Die Geschichte politischer Begriffe ist verworren und gerade darum so schön. Der „Bundestag“, der den Demokraten des 19. Jahrhunderts zutiefst verhasst gewesen war, ist uns längst Inbegriff unserer Demokratie – so viel Anlass zum Ärger seine Abgeordneten uns gelegentlich geben.  

Wenn Sie demnächst eine Parlamentsdebatte verfolgen oder in Berlin vor dem Gebäude stehen, denken Sie daran: viel hätte nicht gefehlt, wir sprächen heute vom „Volkstag im Deutschen Reichstag“. 

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