Deutsche Parteien - Brandmauer in Flammen

Deutschland rutscht nicht nur in eine ökonomische Rezession und sozialpsychologische Depression ab. Es steckt auch in einer Krise des Parteiensystems, deren Symptom die „Brandmauer“-Debatte ist. Dabei gäbe es Auswege aus der Sackgasse.

Im Endeffekt könnte die Brandmauer gegen die AfD als Brandbeschleuniger wirken / Martin Haake
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Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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Den Widerspruch zwischen den Wunschvorstellungen der Regierenden und der Wirklichkeit kann man in diesem Sommer an den Plakatwänden ablesen. Während das grün geführte Bundeswirtschaftsministerium mit der Kampagne „Wer, wenn nicht hier“ und Parolen wie „Deutschland kann seinen Wohlstand erneuern“ oder „Deutschland kann grüne Energie“ zur Transformationszuversicht trommelt, sprechen die Statistiken und Umfragen eine ganz andere Sprache.

Deutschland erscheint gerade nicht als das Land, das dem Rest der Welt zeigt, wie der Wohlstand „grün“ erneuert wird. Sondern als eine Republik, die den Versuch dazu mit Verarmung bezahlt. Während – nach der Corona-Krise – in diesem Jahr alle wichtigen Industrienationen ein Wirtschaftswachstum erwarten, rechnet der Internationale Währungsfonds für Deutschland mit einem BIP-Verlust von -0,3 Prozent. Zum Vergleich: Das noch vor kurzem als Wirtschaftssorgenkind betrachtete und inzwischen von der in deutschen Medien als „Postfaschistin“ beäugten Giorgia Meloni regierte Italien kann mit einem Plus von 1,1 Prozent rechnen. 

Grüne Deindustrialisierung

„Wer, wenn nicht wir, kann diesen Fortschritt in ein klimaneutrales Land gehen? Wo, wenn nicht hier in Deutschland, kann die Industrie zeigen, wie saubere Produktion funktioniert? Zusammen packen wir die grüne Transformation an“, verkündet Habecks Ministerium auf der Website der Kampagne. Dazu sieht man zuversichtliche Mitarbeiter auf eine Turbine blicken. Solcher Hurra-Transformismus wirkt nicht nur bildästhetisch wie eine Reminiszenz an die Plakate zum 40. Jahrestag der DDR. Er erscheint angesichts des Pessimismus in den Unternehmen und der Bevölkerung auch ähnlich wirklichkeitsfremd.

Nach einer „tiefenpsychologischen und repräsentativen Befragung über den Seelenzustand der Deutschen im Sommer 2023“ berichtet der Leiter des Rheingold-Instituts in Köln, Stephan Grünewald, über „Endzeitstimmung“: „Ängste vor Zuständen wie in Entwicklungsländern kommen auf.“ Die Erwartung einer Deindustrialisierung, die zu umfassendem Verlust an Wohlstand, Ordnung und Sicherheit führen dürfte, ist also in den Köpfen und Herzen der Deutschen etabliert. Dazu braucht man auch nicht mehr viel düstere Fantasie.

Wachsende Teile der Wirtschaft geben auf Habecks suggestive Plakatfrage schließlich die Antwort: Nein, nicht „hier“ wird der Wohlstand erneuert, sondern außerhalb von Deutschland. Der Solarzellenhersteller Meyer Burger etwa, also ein Teil von Habecks „grüner Industrie“, hat kürzlich bekannt gegeben, dass das Werk in Bitterfeld-Wolfen nicht erweitert wird, sondern die dafür gedachten Maschinen in die USA verschifft werden. „Das Haus brennt“, stellt Markus Steilemann fest, Vorstandschef von Covestro und Präsident des Verbands der Chemischen Industrie. Entlassungen und Verlagerungen von Produktion ins Ausland seien reale Gefahren. Und die sonst sehr nüchterne Autoindustrie-Cheflobbyistin Hildegard Müller sieht Deutschland ganz pauschal auf einer „Rutschbahn nach unten“. 

Die Wirtschaftskrise wird greifbar

Laut einer aktuellen Umfrage der Unternehmensberatung EY unter 100 Vorstandschefs in Deutschland sagten 53 Prozent, dass sie geplante Investitionen stoppen. In anderen Industriestaaten sind es im globalen Schnitt nur 37 Prozent. 46 Prozent der deutschen Chefs schichten Investitionen ins Ausland um, weltweit tun das nur 38 Prozent. Die Deindustrialisierung ist also nicht mehr eine drohende Gefahr, sie findet bereits statt.

Bisher schien die Schwäche der Wirtschaft trotz der gleichzeitig galoppierenden Inflation für viele Menschen noch ein abstraktes Problem zu sein, das sie selbst kaum unmittelbar betraf, denn der eigene Arbeitsplatz und die Aussicht für die eigenen Kinder, einen guten Job zu bekommen, blieb stabil. Mittlerweile ist auch das wohl vorbei. Die Bundesagentur für Arbeit musste im Juli eine Zunahme der Arbeitslosigkeit im Vorjahresvergleich um 0,2 Prozentpunkte auf 5,7 Prozent verzeichnen. 

 

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Die Gründe für die Misere sind vielfältig und nicht ausschließlich in der deutschen Politik zu suchen – die Inflation etwa kann man vor allem der jahrelangen Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank ankreiden –, aber zu einem großen Teil eben doch: Energie wird hier durch den auch klimapolitisch kontraproduktiven Atomausstieg deutlich teurer als in anderen Ländern, die Steuerbelastung für Unternehmen und Bürger ist Weltspitze, Regierende und Verwaltung übertreffen sich gegenseitig in der Expansion einer lähmenden Bürokratie mit Regelwerken, die selbst Fachleute kaum mehr durchschauen.

Der deutsche Nimbus schwindet

Dabei betrifft die Sorge vor dem Substanzverlust, die Grünewald feststellt, längst nicht nur die Ökonomie: „Das, was früher stolz gemacht hat im Hinblick auf Deutschland, die wirtschaftliche Potenz, die Pünktlichkeit der Bahn, die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, die Infrastruktur, all das wirkt jetzt seltsam marode und nicht zukunftsfähig. Auch die bundesdeutschen Identitätssurrogate, wie die Erfolge der Fußballnationalmannschaft oder der Status als Exportweltmeister, gehen verloren.“ Die Angst vor dem „sozialen Klimawandel“ sei größer als die vor dem eigentlichen, sagt Grünewald. Meldungen aus Freibädern, Bahnhöfen und Innenstädten, Nachrichten von alltäglicher Messergewalt und Vergewaltigungen, denen nicht vollzogene Abschiebungen vorausgingen und milde Bewährungsstrafen folgen, ergänzen die Wahrnehmung des Niedergangs. 

Hinter dieser Sorge vor dem Verlust des „alten deutschen Auenlands“, wie Grünewald es nennt, steht auch ein eklatantes Politikversagen, das nicht nur die gegenwärtige Bundesregierung zu verantworten hat: Während immer mehr Arbeitgeber über Fachkräftemangel klagen und im vergangenen Jahr per Saldo mehr als 80 000 Deutsche das Land verließen, wandern Hunderttausende Menschen in die sozialen Sicherungssysteme ein. Einwanderung soll eigentlich, das ist die Verheißung der Ökonomen und Politiker, den durch deutschen Geburtenmangel heraufziehenden Kollaps der sozialen Sicherungssysteme verhindern, zumindest abbremsen.

Realitätsverweigerung der Ampel

Doch de facto beschleunigt die real existierende Migration diesen Prozess wohl eher. Die Sozialquote, also der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, den der Staat zu sozialen Zwecken umverteilt, liegt bei mehr als 30 Prozent. In der Schröder-Ära war eine noch deutlich niedrigere Quote der Grund für die Agenda-Reformen, denen Deutschland wohl zum großen Teil seine ökonomischen Erfolge in der Merkel-Ära zu verdanken hatte. Heute fehlt dafür so gut wie jegliches Krisenbewusstsein in der politischen Klasse. Viele Deutsche ahnen, was die Überforderung der staatlichen Sicherungssysteme bei anhaltender Inflation für sie bedeutet: Altersarmut. Dass die Politik dagegen zu wenig unternehme, sagen 90 Prozent der vom Rheingold-Institut Befragten. 

Statt wie sein Vorvorgänger und Parteifreund Gerhard Schröder die Zukunftsfestigkeit Deutschlands mit Reformen zu stärken, die die Expansion der Sozialausgaben stoppen, offenbart Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem illusionären Gerede von einem bevorstehenden „Wirtschaftswunder“ nur seine ökonomische Orientierungslosigkeit: Die Dekarbonisierung macht zwar Investitionen erforderlich, aber eben keine, die die Produktionskapazitäten erhöhen. Sein grüner Wirtschaftsminister Habeck spricht derweil öffentlich über hohe Strompreise, ohne ein Wort über die im Namen seiner Partei abgeschalteten Atomkraftwerke zu verlieren, und sieht das Heil in schuldenfinanzierten Supersubventionen.

Einheitsbrei wirkt nicht gegen die AfD

Spricht man in diesen Tagen mit führenden Unionspolitikern, so ist zuerst von Habecks beängstigendem Heizungsgesetz und vom schlechten „Politikstil“ in der Ampel als Grund für das AfD-Hoch die Rede. Bloß nicht allzu grundsätzliche Kritik äußern, bloß nicht den Eindruck erwecken, man würde allzu vieles anders machen, scheint die Devise von Ministerpräsidenten zu sein, die schließlich mit den in Berlin tonangebenden Grünen ihre Bundesländer regieren und demnächst mit diesen eine Bundesregierung bilden wollen.

Und genau diese Aussicht ist vermutlich einer der wesentlichen Gründe für die politische Resignation, die weite Teile der Deutschen erfasst hat. Viele haben offenkundig den Eindruck, sie würden letztlich auch durch die Wahl der CDU oder der FDP eine vor allem von den Transformationswünschen der Grünen geprägte Politik stützen. Also wählt mancher dann aus Verzweiflung und Trotz die AfD – jene Partei, die durch die von allen etablierten Parteien immer wieder beschworene Brandmauer als Adresse für die Unzufriedenen bestätigt wird.

Der Erfolg des AfD-Kandidaten bei der Landratswahl in Sonneberg gegen eine Art Volksfront der etablierten Parteien zeigte nur, dass dies sogar das Gegenteil des Gewünschten bewirken kann, wenn die Unzufriedenheit groß ist. Das Volk ist eben, wie Heinrich Heine wusste, „der große Lümmel“, der nicht immer tut, was die Wohlmeinenden sich von ihm wünschen. 

Rückzug ins Schneckenhaus

Die desolate Stimmung im Lande mit Regierungsversagen zu erklären, ist sicher nicht falsch – 78 Prozent der Deutschen sind laut ARD Deutschlandtrend vom August unzufrieden mit der Bundesregierung, auch 52 Prozent der SPD- und 83 Prozent der FDP-Anhänger. Aber es wäre eine Verharmlosung.

Laut jüngeren Umfragen bekäme die Partei hinter der Brandmauer wohl mindestens jede fünfte abgegebene Stimme. Doch die AfD-Wähler sind nur die besonders frustrierte, protestwillige Spitze der Unzufriedenheit. Grünewalds Studie und andere Umfragen zeigen, dass die Menschen eben längst nicht nur enttäuscht von Scholz, Habeck, Lindner und der Ampel sind. „Man hat das Gefühl, dass unsere Politiker keine Ahnung haben von dem, was sie tun“: Dieser Aussage stimmen laut Rheingold-Studie 42 Prozent der Deutschen „voll und ganz“ und 31 Prozent „eher“ zu. Fast ebenso viele sind „sehr wütend“, wenn sie daran denken, „wie in Deutschland Politik gemacht wird“. Ein vernichtendes Zeugnis für den gesamten Politikbetrieb.

Und die etablierten Parteien haben wohl sogar noch Glück. Denn die meisten Deutschen reagieren auf die Misere (noch?) nicht mit Wut und umstürzlerischem Eifer, sondern passiv-resignativ mit dem Rückzug ins Schneckenhaus des Privatlebens, wie Grünewald in seiner Studie feststellt: „Viele gucken keine Nachrichten mehr oder überschlagen nur noch die Tageszeitungen, um nicht mehr mit beunruhigenden Themen konfrontiert zu werden. Es gibt dieses Gefühl, da sind so viele multiple Krisen, die kriegen wir nicht bewältigt.“ 

Die profillose CDU

Die erwähnten CDU-Führungspolitiker wissen selbst, dass es nicht nur das Heizungsgesetz und der Politikstil der Ampel sind, die Deutschland in eine multiple Depression führen, sondern dass auch ihre eigene Partei einen Anteil daran zu verantworten hat, womöglich sogar einen entscheidenden. Etwa wenn sie auf Nachfrage über die Einwanderungspolitik sprechen. Die ist eigentlich gar keine Politik, sondern seit Jahren, zumindest seit 2015, ein immer aussichtsloseres Management der Aufnahme, Verteilung und Versorgung von Armutszuwanderern.

„Wir haben es nicht im Griff“, sagt einer der wichtigsten CDU-Landespolitiker Deutschlands. Dieses „Wir“ ist bezeichnend, da es von einem Politiker kommt, der öffentlich nicht als Kritiker von Merkel und ihrem „Wir schaffen das“ von 2015 aufgefallen ist. Abseits der Mikrofone wird auch von Unionspolitikern kein Hehl daraus gemacht, dass die jüngsten Alarmrufe der Landräte sogar deutlich gedimmt erschallen, die tatsächliche Lage sei in Wahrheit nämlich noch dramatischer. Dennoch: Hessens CDU-Ministerpräsident Boris Rhein hat angekündigt, „keinen Flüchtlingswahlkampf“ zu führen. Er und die Spitzenkandidaten von SPD (Nancy Faeser) und Grünen (Tarek Al-Wazir) gehen auch sonst ausgesprochen freundlich miteinander um. Hessische Wähler, die am 8. Oktober ihre politische Unzufriedenheit artikulieren möchten, werden von der hessischen CDU nicht gerade eifrig umworben. 

Das Ergebnis solcher christdemokratischen Sanftmut für alle „Mitbewerber“ (als „Gegner“ will man Grüne und SPD nicht bezeichnen) diesseits der Brandmauer ist aber nicht das Ausbrennen der AfD, sondern die Profillosigkeit der Union, der laut Deutschland­trend nicht mal jeder fünfte Deutsche zutraut, besser zu regieren als die Ampel. Eine Mehrheit attestiert der CDU vielmehr Profillosigkeit und mangelndes Gespür für die Sorgen der Menschen.

Die Brandmauer als Brandbeschleuniger

So ist eben Deutschland nicht nur wegen seiner aktuellen Regierung „ins Schlingern“ gekommen, wie Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder feststellt, sondern das deutsche Parteiensystem läuft auf eine Strukturkrise zu, deren deutlichstes Symptom die Brandmauer und das Erstarken der radikalisierten AfD ist: Deutschland ist inmitten multipler Krisen parteipolitisch paralysiert, weil das Kernsystem der parlamentarischen Demokratie nicht mehr funktioniert, nämlich das geregelte Gegenüber von Regierungsmehrheit und einer als Wahlalternative bereitstehenden Opposition. 

Es gibt zwar mehrere Oppositionsfraktionen. Aber die wichtigste, die Union, traut sich nicht so recht zu opponieren, sondern akzeptiert die Diskurshoheit der regierenden Grünen. Die zweitgrößte Oppositionspartei opponiert dagegen so radikal, dass alle anderen sie von jeder Perspektive mitzuregieren ausschließen, was die CDU dazu zwingt, die Regierungsparteien als künftige Koalitionspartner zu schonen.

So wird von immer mehr Wählern diese Brandmauer als eigentliche Konfliktlinie wahrgenommen, während die etablierten Parteien sie zur Außengrenze der legitimen Politik erklären. Dieser Widerspruch ist nicht aufhebbar. Die Brandmauer wirkt unter diesen Umständen eher als Brandbeschleuniger, weil sie den im Namen der Alternative für Deutschland steckenden Anspruch, die einzige echte Opposition zu sein, scheinbar bestätigt.

Historisch eingerissene Brandmauern

Um mögliche Auswege aus dieser Sackgasse zu finden, ist es notwendig, sich zunächst über die Entstehungsgeschichte dieser Krise des Parteiensystems klar zu werden. Versuche, neue Parteien durch Ausgrenzung von der Machtteilhabe fernzuhalten, gab es schon vor der AfD. Sogar ausgerechnet gegen diejenigen, die heute besonders streng über die Einhaltung der Brandmauer wachen.

Eine historische Ironie, auf die der Passauer Historiker Hans-Christof Kraus hinweist: „Gegenüber den Grünen und gegenüber der PDS gab es ebenfalls so etwas wie Brandmauern, die aber irgendwann gefallen sind, weil sie nicht mehr aufrechterhalten werden konnten.“ In den 1980er Jahren sei man in der CDU davon ausgegangen, dass Koalitionen mit den Grünen niemals möglich sein würden. Es kam bekanntlich bald anders. Das hatte auch damit zu tun, dass die SPD nicht mitmachte. Die koalierte schon 1985 in Hessen und dann von 1998 an erstmals auch auf Bundesebene mit der zuvor selbst postulierten Anti-Parteien-Partei. 

Der tiefere Grund dafür, dass die Brandmauer der CDU gegen die Grünen keinen Bestand hatte, ist deren allmähliche Eroberung der „Deutungshegemonie“, wie es der Mainzer Historiker Andreas Rödder, CDU-Mitglied und Mitbegründer des liberalkonservativen Thinktanks Republik 21, nennt. Diese Eroberung ist mit dem „Marsch durch die Institutionen“ der Achtundsechziger identisch. In der Folge stehen nicht mehr die Grünen als vermeintliche Kommunisten im Abseits des Politikbetriebs, sondern alles, was als „rechts“ etikettiert wird, wobei die Unterschiede zu rechtsradikal oder gar rechtsextrem im Rahmen dieses „kommunikativen Settings“ (Rödder) bewusst verwischt werden. Dass die Brandmauer der SPD und der Grünen gegen die umbenannte SED in den neuen Bundesländern nicht lange halten konnte und 2021 in Thüringen sogar de facto von der CDU aufgegeben wurde (um diejenige gegen die AfD umso höher zu ziehen), kann unter diesen Umständen nicht erstaunen.

Angela Merkels Schöpfung

Die heutige Brandmauer ist also schon vor dem Aufkommen der AfD angelegt, nämlich dadurch, dass die CDU im Gegensatz zu vergleichbaren Kräften in Frankreich und anderen Ländern den doppelten Anspruch hat, zugleich eine Mitte-Partei zu sein, die seit vielen Jahren jede „rechte“ Selbstzuschreibung ablehnt, andererseits aber auch den alten wahltaktischen Anspruch aus der Strauß-Ära aufrechterhält, dass es rechts von ihr keine legitime Partei geben dürfe. Die Bundesrepublik soll offenbar eine Demokratie mit einer Linken und einer Mitte sein, während alles Rechte zu einer Eiswüste der Ausgestoßenen erklärt wird, wodurch wiederum die Definition von „rechts“ zum eigentlichen Machtkern des politisch-medialen Betriebs wird.

Die konkrete Erfinderin der AfD-Brandmauer – nicht dem Namen, aber der Sache nach – ist Angela Merkel. Sie und die in der zweiten Hälfte ihrer Regierungszeit tonangebenden Leute in der Union verkündeten sofort nach der Gründung der damals noch von einem früheren Welt-Redakteur, einer Unternehmerin und einem Ökonomieprofessor geführten AfD die Maxime, dass mit ihr nicht gesprochen werden dürfe. Der Versuch, die AfD durch Gesprächsbereitschaft zur Mäßigung zu bewegen, sodass sie zu einer „brauchbaren“ Partei würde, wie es der einstige CDU-Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, erwartete, wurde damals nicht gemacht. Die Chance, sie durch Übernahme von AfD-Forderungen obsolet zu machen, wie es der Kohl-CDU in den frühen 1990ern mit den Republikanern gelang, wurde ebenso vertan. 

Regierung ohne echte Opposition

Beides hätte nichts anderes als eine Abkehr von Merkels Machttaktik der asymmetrischen Demobilisierung notwendig gemacht. Aber dieser Ansatz, sich der linken und grünen Deutungshegemonie zu unterwerfen und die meisten Positionen der Union aufzugeben, gipfelnd im Atomausstieg von 2011 und im grenzenlosen „Wir schaffen das“ von 2015, war schließlich Merkels Geheimnis des Machterhalts: Neue Koalitionsoptionen und das Kleinhalten parteiinterner (rechtsabweichender) Konkurrenten hatten absoluten Vorrang. Darum war es in ihrem Interesse, schon die frühe, noch nicht radikalisierte AfD als unberührbar zu erklären.

So ließ die CDU die von ihr geöffnete Repräsentationslücke auf der rechten Flanke des politischen Spektrums für die AfD offen und versiegelte das preisgegebene Gelände moralisch durch eine Brandmauer. Diese Taktik führte direkt in die gegenwärtige Krise des Parteiensystems mit einer radikalisierten AfD, einer gelähmten CDU und einer grün dominierten Regierung, die trotz offenkundigen Versagens und resignierter Bürger die Opposition kaum fürchten muss.

Wie die CDU am Ende profitieren könnte

Der grün-linken Deutungshegemonie hat die CDU – laut Rödder eine „Partei der Bequemlichkeit“ – kaum noch etwas entgegengesetzt. Den Kulturkampf hat man verweigert, man ließ sich „überfahren“, wie Rödder es formuliert. Daraus hat sich ein intellektueller Minderwertigkeitskomplex der Christdemokraten entwickelt, der im Juni dieses Jahres deutlich wurde, als die CDU ausgerechnet zu ihrem „Grundsatzkonvent“ den Grünen-Vordenker Ralf Fücks einlud, um sich über „bürgerlichen Stil“ belehren zu lassen. Ein Vorgang, der umgekehrt wohl kaum vorstellbar ist. 

Wo könnte ein Ausweg aus der Brandmauer-Sackgasse sein, in der die Union und mit ihr alle nicht links, nicht grün und nicht radikal gesinnten Deutschen stecken? Der Historiker Rödder empfiehlt seiner Partei: „Sie sollte die Themen der AfD aufgreifen. Sie sollte die öffentliche Auseinandersetzung mit Vertretern der AfD führen und zugleich aber ganz klare rote Linien kenntlich machen.“ Die sollten unter anderem da liegen, wo Institutionen des liberalen Rechtsstaats nicht akzeptiert oder der Holocaust geleugnet wird. Fragen der Migration und der Klimapolitik dagegen müssten offener diskutiert werden. Vor allem sollte die CDU selbstbewusster eigene Angebote machen und „nicht ständig gehetzt darauf schielen, was könnten jetzt die Grünen oder die AfD dazu sagen – und kann ich das überhaupt sagen, wenn die AfD zustimmt“. 

Ob der CDU dieser Kraftakt der Rückgewinnung ihres Selbstbewusstseins gelingt, ist fraglich. Das Versagen der Bundesregierung angesichts der multiplen Krise und die zwischen politischer Resignation und wütendem Protest mäandernde Unzufriedenheit der Mehrheit machen jedenfalls deutlich: Das in Habecks Plakatkampagne propagierte Hier gehört tatsächlich ins Zentrum politischen Denkens und Handelns. Aber wohl weniger, um der Welt ein Vorbild höchster Klima- und Vielfaltsmoral vorzuleben, sondern um seiner selbst willen. Das würde vor allem die Bewahrung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit, des inneren Zusammenhalts und all dessen bedeuten, was in Deutschland seit 1945 aufgebaut wurde, konkret: Sicherung günstiger Energieversorgung, Begrenzung von Armutszuwanderung und Staatsexpansion, Senkung der Steuerlast, Stärkung des Bildungssystems.

Eine Partei, die das glaubhaft vertritt, ohne in Radikalismus abzudriften, die also die in der Merkel-Ära aufgerissene Repräsentationslücke wieder schließt, ist als Gegenkraft gegen den dominierenden Globalmoralismus der Grünen für das Funktionieren der repräsentativen Demokratie notwendig. Um Wählerzuspruch müsste sie sich angesichts der aktuellen Stimmungslage wenig Sorgen machen.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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