Corona-Maßnahmen - Ein angespanntes Verhältnis: Karl Lauterbach und das Grundgesetz

Die Pandemie ist vorbei, doch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will Corona-Maßnahmen aufrechterhalten. Das ist klar verfassungswidrig. Dass es trotzdem so wenig Kritik daran gibt, hat mit den Erfahrungen der vergangenen drei Jahre zu tun.

In schlechter Verfassung: Karl Lauterbach / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Auch in Deutschland setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Corona-Pandemie beendet ist. Experten sprechen jetzt vom endemischen Zustand. Das Coronavirus wird bleiben; es hat aber seinen Schrecken verloren. Was bedeutet das für die Corona-Schutzmaßnahmen, die immer noch bestehen? 

Fragt man den Bundesgesundheitsminister, ist die Antwort klar. Zur Sicherheit sollten die Maßnahmen aufrecht erhalten bleiben. Der Bundeskanzler sieht das ähnlich. Immerhin: Der Justizminister widerspricht und plädiert für eine schnelle Aufhebung der letzten Restriktionen. Die Frage berührt die Grundlagen des deutschen Verfassungsstaats.   

Verfassung und Freiheit

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive sind die aktuellen Schutzmaßnahmen Eingriffe in Grundrechte. Maskenpflicht und andere Regelungen berühren die Freiheiten, die vom Grundgesetz garantiert werden. Ist das zulässig? Aus der Sicht der Verfassung ist die Freiheit die Regel. Das ergibt sich auch aus dem Menschenbild, von dem das Grundgesetz ausgeht. Im Mittelpunkt des Grundgesetzes steht die Menschenwürde. Untrennbar damit verknüpft sind die grundlegenden Freiheiten, die die Verfassung kennt. Der Staat darf deshalb grundsätzlich nicht in die Freiheiten seiner Bürger eingreifen. Er muss sie – im Gegenteil – schützen und fördern.

Das Grundgesetz ist natürlich nicht dumm. Es weiß, dass völlig unbeschränkte Freiheiten im Chaos enden – und dann verloren sind. Deshalb sind Einschränkungen der Grundrechte erlaubt, aber nur als strikte Ausnahme und unter engen Voraussetzungen. Denkbar sind sie vor allem, um das Wohl der Allgemeinheit zu schützen. Das entscheidende Kriterium dabei ist die Verhältnismäßigkeit. Sind die Eingriffe unbedingt erforderlich und unter Abwägung aller Umstände angemessen? Oder sind sie überhaupt nicht (mehr) nötig? Daran entscheidet sich, ob die Einschränkungen der Bürgerfreiheiten ausnahmsweise erlaubt sind – oder eben nicht. 

Wenn das Virus an Gefährlichkeit verliert, sind die Schutzmaßnahmen – die Einschränkungen der Freiheit – nicht mehr nötig. Dann sind Sie unverhältnismäßig und deshalb verfassungswidrig. Corona-Schutzmaßnahmen, die nicht mehr unbedingt erforderlich sind, muss der Staat sofort aufheben. Jede Verzögerung verletzt das Grundgesetz.

Der Minister und der Verfassungsstaat

Karl Lauterbach hat in einem Interview vor einer Aufhebung der Maßnahmen gewarnt. Wörtlich sagte er: „Da kommt es doch jetzt nach drei Jahren Pandemie noch auf ein paar Wochen nicht an.“ Weil wir schon seit drei Jahren Pandemie erhebliche Grundrechtseinschränkungen haben, kann man die Freiheitsbeschränkungen also ruhig noch einige Wochen beibehalten. Das ist seine Logik – und das ist krass verfassungswidrig. Damit zeigt er, dass ihm die Verfassung völlig fremd und letztlich egal ist. Er denkt tatsächlich, dass er seine Corona-Politik nicht am Grundgesetz ausrichten muss. Für einen ranghohen Vertreter des Staates ist das ein Skandal.

 

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Deutschland ist ein Verfassungsstaat. Daran wird in Sonntagsreden immer wieder in salbungsvollem Ton erinnert. Ein Verfassungsstaat ist aber kein Thema für Reden, sondern eine harte Regel für die tägliche Politik. Was heißt das? Jedes staatliche Handeln muss in einem Verfassungsstaat den Forderungen des Grundgesetzes entsprechen. Die demokratisch legitimierte Politik hat selbstverständlich Gestaltungsspielräume und Entscheidungskompetenzen. Mit anderen Worten: Sie hat Macht.

Vom Volk gewählte Politiker dürfen, ja sollen Entscheidungen treffen und sie mit staatlichen Machtmitteln durchsetzen. Es gibt aber eine Grenze, die dabei nicht überschritten werden darf: die Verfassung. Die Verfassung definiert die Grundwerte der Gesellschaft und legt die grundlegenden Regeln der Politik fest. Diese Grenzen darf die (Macht-)Politik nie überschreiten. Das ist der zivilisatorische Fortschritt gegenüber dem reinen Machtstaat, in dem nur die politische und militärische Macht zählt. Im Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist die Politik durch das (Verfassungs-)Recht gezähmt. Jedenfalls ist das die Theorie – und die Verfassungsrechtlage. Nicht nur die Äußerung von Lauterbach zeigt, dass sich die politische Macht immer wieder schwertut, diese rechtlichen Grenzen zu akzeptieren.

Politik-psychologische Folgen 

So skandalös sie sind, die Äußerungen von Lauterbach rufen kaum Widerspruch in der öffentlichen Diskussion hervor. Von einem Sturm der Entrüstung, der angemessen wäre, ganz zu schweigen. Woran liegt das?

Natürlich spielen dabei die Erfahrungen der letzten drei Pandemiejahre eine Rolle. Eine fatale Erfahrung, die die Bürgerinnen und Bürger machen mussten, war: Im Ernstfall ist die Verfassung nicht wichtig. Das ist zugespitzt und klingt bitter, aber es ist wahr.

Sehr schnell und sehr umfassend haben Regierungen und Verwaltungen Grundrechte außer Kraft gesetzt. Denn nichts anderes waren die Lockdowns. Und man konnte nichts dagegen tun. Bürgerlicher Protest aus der Zivilgesellschaft wurde erschreckend schnell und gründlich diskreditiert und in eine politische Ecke geschoben. Auch auf die Gerichte war – anders als man im Rechtsstaat denken würde – kein Verlass. Sie sind den Regierungen nicht in den Arm gefallen, auch wenn Verfassungsverstöße offensichtlich waren. Eine besonders traurige Rolle spielte dabei das Bundesverfassungsgericht. Vom Hüter der Verfassung war wenig zu sehen, als es darauf ankam. 

Diese Erfahrungen haben Folgen. Das Vertrauen der Bürger in den Staat, die Institutionen und die hoch gelobte freiheitliche Verfassung ist deutlich gesunken. Auch eine gewisse Resignation in weiten Teilen des Bürgertums ist nicht zu übersehen. Die Ausgrenzung, die Kritiker der Regierungspolitik erfahren haben, hat Spuren hinterlassen. Kein Wunder, dass sich jetzt wenig Widerstand regt, wenn Lauterbach die letzten Corona-Maßnahmen nicht abschaffen will.

Kritik vor Versöhnung

Die Pandemie war eine riesige Herausforderung für alle. Aber im Verfassungsstaat gilt die Verfassung immer, auch in der Krise. Das hat die Politik oft vergessen. Auch das muss – wie vieles andere aus der Coronazeit – analysiert und aufgearbeitet werden. Wenn man die Äußerungen aus der Politik hört, ist die Bereitschaft dazu begrenzt. Der Bundesgesundheitsminister ist nicht der Einzige, der einfach zu Tagesordnung übergehen will. Aber das wäre fatal und hätte langfristige Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 

Die Corona-Politik hat Gräben in der Gesellschaft aufgerissen, Wunden geschlagen und die Verfassung praktisch relativiert. Das muss offen benannt und kritisch analysiert werden. Auch konkrete Fehler von Verantwortlichen dürfen nicht vertuscht werden. Sonst ist das bitter nötige Lernen aus Corona nicht möglich. Und eine Versöhnung der Gesellschaft erst recht nicht.

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