Klimakonferenz in Dubai - Das Sisyphos-Projekt

Überkomplexität, Bürokratie, mangelnder Konsens und fehlende Glaubwürdigkeit der politischen Eliten: Der Kampf gegen den Klimawandel unter den Bedingungen des Pariser Abkommens muss scheitern. Daran wird auch die heute beginnende Klimakonferenz in Dubai nichts ändern.

Vom Jakobshavn-Gletscher abgebrochene Eismasse in der grönländischen Diskobucht / Kadir van Lohuizen
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Was die große Politik wert ist, zeigt sich letztlich im Kleinen. Der 60-jährige Ingenieur Heiko Böhringer aus Ludwigslust programmiert eigentlich Software für Maurer-Roboter. Aber in seiner Freizeit kämpft er gegen die „Verspargelung“ des Nordostens der Republik mit Windrädern. Er sitzt mit dem besten Stimmergebnis aller Kandidaten in der Stadtvertretung seiner Heimatstadt, im Kreistag und im Vorstand des Regionalen Planungsverbands. Der ist auch zuständig für die Ausweisung von Eignungsgebieten für Windkraftanlagen. 

Das Dilemma bringt Böhringer ziemlich schnell auf den Punkt. Schon heute stehen regelmäßig Windräder still, weil der Strom nicht abtransportiert werden kann. Der Netzausbau hinkt dem Zubau von Kapazitäten hoffnungslos hinterher. Immer wenn die Windräder zwangsweise stillstehen, sind für die Investoren Entschädigungszahlungen fällig. Die Kosten hierfür werden über höhere Strompreise auf den Verbraucher umgelegt – ebenso die Aufwände für den Anschluss zusätzlicher Windräder an das regionale Stromnetz. Die Bürger zahlen also immer mehr Geld dafür, dass sich die Windräder gerade nicht drehen. Nach Angaben der Bundesnetzagentur wurden für das sogenannte „Einspeisemanagement“ allein im Jahr 2021 mehr als 800 Millionen Euro fällig – mit steigender Tendenz. 

Es ist wie mit dem 49-Euro-Ticket

Abhilfe soll die Stromtrasse SuedOstLink von Klein Rogahn in der Nähe der Ostseeküste bis ins bayerische Landshut schaffen. Mit der endgültigen Fertigstellung der bereits 2015 beschlossenen Trasse wird erst im Jahr 2032 gerechnet. Und sie kann nur zwei Gigawatt Strom abtransportieren. Schon heute aber liegen dem örtlichen Netzbetreiber Wemag Anträge für weitere 18 Gigawatt Erzeugungsleistung vor. Das entspricht dem 45-fachen des regionalen Strombedarfs. Für Ingenieur Böhringer ist klar, was das bedeutet: Zum Ende des Jahrzehnts werden noch mehr Windräder stillstehen. Das bestätigt technisch verklausuliert auch Wemag. Der „engpassbehaftete Anschluss“ von Erzeugungsanlagen werde „nicht zu vermeiden sein“, die „Anzahl der notwendigen Eingriffe durch die Netzbetreiber“ weiter zunehmen. 

Es ist wie mit dem 49-Euro-Ticket: Die Fahrgastzahlen werden drastisch erhöht, bevor man die Infrastruktur ausgebaut hat. Und dann wundern sich alle über vollgestopfte Züge. Man merkt dem Ingenieur dessen Verzweiflung fast körperlich an: „Wir pflastern die Landschaft mit Windrädern zu, aber zugleich werden sie stillstehen und die Kosten für alle durch bloßes Nichtstun weiter erhöhen.“ Das Absurde im Kleinen ist dabei auch die Folge zu großer Ambitionen im Großen. Es geht um das im Jahr 2015 beschlossene Pariser Abkommen. 

Feuerwehrmänner in Spanien kämpfen gegen einen Waldbrand / Sebastian Liste

Eigentlich gilt es diplomatisch als Meilenstein im Kampf gegen den Klimawandel. Am Ende des Tages ist es aber bloß eine politische Absichtserklärung – ohne Verbindlichkeit und ohne Sanktionsmöglichkeiten. Rund 200 Staaten haben sich dazu verpflichtet, den Anstieg der Welttemperatur auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen; auf keinen Fall aber sollen 2 Grad überschritten werden. Sonst drohten verheerende Konsequenzen für den Planeten. 

Es könnte zum Schwur kommen

Die Hauptlast im Kampf gegen den Klimawandel sollen die „entwickelten Länder“ tragen. Sie sollen ihre Emissionen nicht nur früher und schneller als die „Entwicklungsländer“ senken, sondern sie außerdem finanziell bei der Anwendung klima­freundlicher Technologien unterstützen. Bereits auf dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen Ende 2009 wurde beschlossen, hierfür jährlich einen entsprechenden Fonds in Höhe von 100 Milliarden Euro bereitzustellen. Bis heute haben sich die „entwickelten Länder“ in keinem einzigen Jahr an diese Zusage gehalten. 

Dass der industrialisierte Westen beim Klimaschutz mehr tun soll als die Entwicklungsländer, wird mit dem Grundsatz „der Gerechtigkeit und der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten angesichts der unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten“ begründet. Hinter dieser diplomatischen Formulierung stecken vor allem naturwissenschaftliche Berechnungen.

Zwischen 1850 und 2019 sollen bereits 2390 Gigatonnen CO2 freigesetzt worden sein, die einen mittleren Temperaturanstieg von 1,07 Grad verursacht haben. Für die noch verbleibenden 0,43 Grad können weltweit weitere 400 bis 500 Gigatonnen CO2 in die Luft geblasen werden. Vier Fünftel aller Emissionen und damit auch des Temperaturanstiegs gehen auf die westlichen Industrieländer zurück. Sie sind die Hauptverursacher des Problems und sollen deshalb besonders zur Lösung beitragen. 

 

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Im achten Jahr nach der Verabschiedung des Pariser Abkommens könnte es nun zum Schwur kommen. Vom 30. November bis 12. Dezember 2023 tagt die Weltklimakonferenz in Dubai. Erstmals werden die Vertragsstaaten gemäß Artikel 14 des Pariser Abkommens eine Evaluation vorlegen. Insgesamt 1100 Dokumente, Analysen und Berichte wurden in den vergangenen Jahren hierfür weltweit zusammengetragen und mit Experten wie Betroffenen diskutiert. Die Ergebnisse dieser Analyse münden in ein Papier ein, das der Weltpolitik für die Konferenz in Dubai als Entscheidungsgrundlage dient. 

Die bisher ausgewerteten Daten gleichen einem Offenbarungseid. Die CO2-Emissionen haben sich in den Industrieländern zwischen 1990 und 2019 um 15 Prozent vermindert. Allerdings sei dieser Effekt „weitgehend auf den Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft“ in Europa zurückzuführen, heißt es in einem Expertenpapier der Vereinten Nationen. Es handelt sich also überwiegend nicht um Effekte aus dem Pariser Abkommen. Gleichzeitig haben sich die Emissionen in den Entwicklungsländern im selben Zeitraum aber massiv erhöht. Die Gesamtemissionen sind dadurch weiter gestiegen und nicht gesunken. Allein im Zeitraum zwischen 1990 und 2019 um mehr als 50 Prozent. 

Verheerende Auswirkungen auf den Planeten

Die Experten haben aber auch den Blick in die Zukunft gerichtet. Dazu wurden von den Vertragsstaaten eingereichte Berichte ausgewertet. Selbst dann, wenn alle Länder die durch sie geplanten Maßnahmen konsequent umsetzen, werden die globalen CO2-Emissionen im Jahr 2030 um rund 56 Prozent höher ausfallen als noch im Jahr 1990 und sogar um 14 Prozent höher als noch im Jahr 2010. Eigentlich müssten sie im Jahr 2030 aber um 45 Prozent geringer sein als im Jahr 2010, damit sich das 1,5-Grad-Ziel erreichen lässt. Schon heute darf das Pariser Abkommen daher in seinem wichtigsten Ziel als unrettbar gescheitert gelten. Derzeit marschiert die Welt auf eine mittlere Temperaturerhöhung in der Nähe von 3 Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Zeiten zu. Klimaexperten warnen allerdings davor, dass bereits das Überschreiten der 2-Grad-Grenze verheerende Auswirkungen auf den Planeten hätte. 

Was das eigentliche Problem ist, wurde vor einem Jahr auf der Klimakonferenz in Scharm ElScheich deutlich. Alle Eingeweihten wussten schon damals, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen ist. Man hätte die Gangart deutlich verschärfen müssen. Das scheiterte an einer „Allianz vor allem von ölreichen Staaten und großen Emittenten“, wie Außenministerin Baerbock nach der Konferenz frustriert mitteilte. Als Fortschritt betrachtete sie, dass zumindest ein weiterer Fonds auf den Weg gebracht wurde. Aus ihm sollen Entschädigungen an Länder und Regionen gezahlt werden, die unter Zerstörungen infolge des Klimawandels leiden. Auch in diesem Fall dürften die eingegangen Verpflichtungen auf Jahre hin nicht eingehalten werden. Während sich die einen ihre lukrativsten Einnahmequellen nicht nehmen lassen wollen, hält der Westen seine Zusagen gegenüber den Entwicklungsländern nicht ein. 

Das Pariser Abkommen ist daher ein Musterbeispiel für ein spieltheoretisches Dilemma. Die Versuchsanordnung ist so überkomplex, dass ein Scheitern als nahezu gewiss gelten darf. Rund 200 Staaten mit völlig unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, politischen Systemen und Verantwortlichkeiten bei der Verursachung des Klimawandels sollen sich ohne verbindliche Abmachungen und Sanktionsmöglichkeiten dennoch auf einen gemeinsamen Weg begeben. Das wiederum setzt in allen Vertragsstaaten einen entsprechenden innenpolitischen Konsens voraus. Den herzustellen, gelingt nicht einmal in Deutschland, wie die Debatten um den „Heizhammer“ gezeigt haben. An der Spitze aller Staaten bräuchte es im Grunde Heilige, um das erforderliche Vertrauen nach innen und nach außen stiften zu können. 

Wer unter diesen Voraussetzungen weiter an das Pariser Abkommen glaubt, gleicht Sisyphos, dem ersten König der Korinther. Die griechischen Götter hatten ihn einst auf ewig dazu verdammt, tagein, tagaus einen Felsblock einen Berg hinaufzurollen, der kurz vor Erreichen des Gipfels wieder ins Tal poltert. 

Kampf gegen den Klimawandel

Die Stadt Tübingen gilt bundesweit als Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel. Allein in den zurückliegenden 15 Jahren konnten trotz Bevölkerungswachstums die CO2-Emissionen um 40 Prozent reduziert werden. Verbunden ist dieser Erfolg auch mit Oberbürgermeister Boris Palmer. „Tübingen könnte aber noch viel weiter sein“, ist er sich sicher. Zehn Jahre lang prüfte der Regionale Planungsverband die Ausweisung von Eignungsgebieten für Windkraftanlagen und brach das Verfahren am Ende ergebnislos ab. Angeblich soll es in drei Landkreisen keine einzige Stelle gegeben haben, an der man hätte Windräder errichten können. Der Grund: die Abstände von Wohnhäusern und Vogelnestern zu den Anlagen. Vogelart für Vogelart müsse eigens geprüft werden: „Das ist einigermaßen absurd, und damit kann man natürlich alles totprüfen.“ 

Eines der Lieblingsbeispiele für den bürokratischen Wahnsinn in Deutschland sind für Palmer die „Lustnauer Ohren“. Direkt an einer Autobahnauffahrt sollte unter diesem Namen eine Solaranlage errichtet werden – auf einer kleinen Wiese mitten zwischen den Fahrbahnen. Es war der Versuch, verlorene Fläche sinnvoll zu nutzen. Für die Errichtung der Anlage brauchte es nur acht Wochen. Planungs- und Prüfungsprozess hingegen zogen sich über acht Jahre hin.

In einem Brief hat Palmer dem Bund daher vorgeschlagen, solche Anlagen künftig einfach per Gesetz zu genehmigen und so in ganz Deutschland zügig zu ermöglichen. Auf seinen Vorschlag gab es nicht einmal eine Antwort. „In Deutschland wird immer alles bürokratischer, ständig gibt es neue Vorschriften. Wir finden schon keine Leute mehr, die das noch abarbeiten können. Und wir haben einfach keine Zeit“, sagt der Oberbürgermeister mit Blick auf das Pariser Abkommen. „Bürokratie“ ist der Name für Überkomplexität im Kleinen. 

Was haben der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, die Klimaaktivistin Luisa Neubauer von Fridays for Future und der deutsche Klimaschutzminister Robert Habeck gemeinsam? Sie alle warnen eindringlich vor dem drohenden Klimakollaps – und fliegen trotzdem mit dem Flugzeug. Ausgerechnet die allseits indigniert dräuende Luisa Neubauer hat etliche Tonnen Flug-CO2 auf dem Buckel: Tansania, Namibia, Kanada, China und Indonesien sind dabei nur eine kleine Auswahl aus ihrem Repertoire illustrer Reiseziele.

Robert Habeck wurde Anfang 2023 als Urlauber am Strand von Tel Aviv gesichtet. Und selbst der Klimapapst Schellnhuber nutzte im Sommer 2023 einen Inlandsflug von Berlin nach München, obwohl er eigentlich für ein Verbot solcher Reisen ist. Seine in einem Interview vorgebrachte Rechtfertigung: „Ich fahre fast immer mit dem Zug. (…) Ich hatte allerdings viele Verspätungen in den vergangenen Monaten, manchmal bis zu drei Stunden (…).“ Wenn die Bahn unpünktlich ist, muss dafür also der Planet bluten. Eines aber wolle er klarstellen: An ein gesetzliches Verbot von Inlandsflügen würde er sich „selbstverständlich“ halten. 

Der renommierteste Klimaforscher Deutschlands offenbarte damit eine bizarre Logik: Er will ausdrücklich erst noch gesetzlich zu dem gezwungen werden, was er ohnehin von selbst für richtig hält. Auch bei einem Professor muss der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) durch den Zwang des Staates den Weg in die Wirklichkeit finden. 

Friedhof auf den Marshallinseln, wo die Küste in besonders hohem Tempo erodiert / Kadir van Lohuizen

Man kann das alles für schizophren halten – oder für die Zeigerpflanze einer Kulturrevolution. Als sich die Grünen im Jahre 1980 gründeten, wollten sie noch eine ganz andere Welt. „Die in Bonn etablierten Parteien verhalten sich, als sei auf dem endlichen Planeten Erde eine unendliche industrielle Produktionssteigerung möglich. (…) Die ökologische Weltkrise verschärft sich von Tag zu Tag (…), der Mensch droht inmitten einer späten Industrie- und Konsumgesellschaft geistig und seelisch zu verkümmern (…)“, hieß es in ihrem ersten Grundsatzprogramm. 

Die Grünen träumten einst noch von einer anderen Zivilisation. Man las eifrig das Buch „Haben oder Sein“ des Sozialpsychologen Erich Fromm. Auch der wollte eine „neue Gesellschaft“ und war überzeugt davon, dass dies ohne Veränderung der Menschen nicht machbar sei. Von Anfang an waren die Grünen daher eine Graswurzelbewegung: Kinderläden wurden ebenso gegründet wie Kommunen und ökologisch produzierende Genossenschaften. Aus diesen Keimzellen sollte durch Veränderungsbereitschaft jedes Einzelnen eine neue Gesellschaft entstehen. Oder wie es Erich Fromm formulierte: „Von der Praxis losgelöste Einsicht ist wirkungslos.“ 

Digitalisierung und Kohlenstoff

Die Grünen von heute denken ganz anders. Der Sozialpsychologe Harald Welzer nennt sie auch deshalb „transzendental obdachlos“. Als ein Redakteur der taz Robert Habeck Anfang 2023 fragt, ob das Klima denn ganz ohne Verzicht zu retten sei, hält der das schlicht für die falsche Frage. Man brauche „kein Degrowth, aber jede Menge Transformation“. Der Konsumwahn soll also gar nicht eingedämmt werden. Die Grünen von heute sind mit dem Kapitalismus versöhnt – bloß mit Digitalisierung und ohne Kohlenstoff. 

Dazu passt, dass der individuelle CO2-Fußabdruck mit dem Einkommen deutlich steigt. Nach einer Studie des Umweltbundesamts ist das vor allem die Folge größerer Wohnungen, von mehr Autos und von viel mehr Flugreisen. Im Milieu der Besserverdienenden finden die Grünen von heute besonders viele Anhänger. Sie können sich grüne Politik am ehesten leisten. Das dürfte auch erklären, warum die Grünen bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern weniger Zustimmung eingebüßt haben, als die Reputation der Ampelregierung schlecht ist. 

Der Verkehrssektor gilt international dabei als Sorgenkind im Kampf gegen den Klimawandel. Echte Fortschritte zur Reduzierung von CO2-Emissionen gibt es auch in Deutschland nicht. Das Bundesumweltamt stellt fest: Der Verkehr sei „der einzige Sektor, der in den vergangenen Jahrzehnten seine Treibhausgasemissionen nicht mindern konnte“. Alle politischen Hoffnungen ruhen deshalb auf dem Schienenverkehr und insbesondere auf der Deutschen Bahn. Die Personenverkehre sollen sich bis 2030 verdoppeln, der Anteil der Güterverkehre auf mindestens 25 Prozent zunehmen. Aber über Jahrzehnte hinweg wurde der Ausbau der Strecken versäumt. 

Das grundsätzliche Problem wird am Schienen-Y des Nordens deutlich. Schon seit ungefähr 30 Jahren kämpft die Deutsche Bahn dafür, Hamburg und Bremen durch eine zusätzliche Strecke mit Hannover zu verbinden. Die Strecke würde auch durch den Wahlkreis des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil führen. Und der wehrt sich dagegen. Er beruft sich auf einen „Kompromiss“ ausgerechnet aus dem Jahre 2015, der eine Aufwertung der Bestandsstrecke und zudem die Umleitung von Verkehren über angrenzende Bundesländer vorsah. Während Kanzler Olaf Scholz die ökologische Modernisierung des Landes und ein Zeitalter der „Transformation“ ausgerufen hat, fürchtet sein eigener Parteivorsitzender den Unmut der Wähler. Dass Denken und Handeln auseinanderfallen, kommt also nicht nur bei den Grünen vor. 

Ein Flug nach Tel Aviv

Ingrid Felipe war bis März 2022 eine österreichische Politikerin. Heute ist sie Vorstand der DB Netz AG und auch zuständig für den möglichen Ausbau der Strecke von Hamburg nach Hannover. Schon vor 20 Jahren wäre der eigentlich erforderlich gewesen, sagt sie. Mit der Verabschiedung des Pariser Abkommens im Jahr 2015 hätte sich die Lage noch einmal verschärft. Es brauche daher beides: sowohl einen kompletten Neubau als auch eine Sanierung und Erweiterung der bestehenden Strecke. Anders seien die Klimaziele der Politik nicht zu erreichen. 

Felipe äußert sich überraschend optimistisch, dass man die erforderlichen Maßnahmen mit der Bundesregierung und dem Land Niedersachsen am Ende doch noch vereinbaren könne. Wenn sie recht hat, wird die Sanierung der bestehenden Strecke erst nach 2030 abgeschlossen sein, die Errichtung der neuen aber frühestens Ende 2030, also nach mehr als 45 Jahren. Nach dem Pariser Abkommen hätte der Höhepunkt der globalen CO2-Emissionen aber bereits im Jahr 2025 erreicht werden müssen – und nicht erst 2040. 

Klingbeils Rolle möchte Vorstand Felipe dabei nicht kommentieren. Sie sagt nur so viel: „Die Deutsche Bahn ist im ganzen Bundesgebiet damit konfrontiert, dass Abgeordnete im Bundestag etwas ganz anderes sagen als in ihrem Wahlkreis. Ich habe dafür auch Verständnis. Es kann einen Widerspruch zwischen dem geben, was man für richtig hält, und dem, was die eigenen Wähler wollen. Beim Klimaschutz aber geht es um die Existenz der Menschheit. Deshalb wünsche ich mir, dass sich Abgeordnete mutig zur Sache bekennen.“ 

Verantwortung des Einzelnen

Auch Robert Habeck will von der Verantwortung des Einzelnen am Ende nichts wissen. In einem Interview bekannte er einmal: „Ich verstehe jeden Menschen, der nicht permanent darüber nachdenkt, was ist jetzt politisch-ökologisch korrekt. Ich will das auch nicht. Und ich kann das auch nicht. Aber gerade deshalb hat die Politik die Aufgabe, dafür zu sorgen, die Dinge ökologisch zu regeln.“ Habeck inszeniert sich damit als so schwach und zerrissen wie jeder andere gewöhnliche Mensch und entthront sich auf diese Weise zugleich als politisches Vorbild. Glaubwürdigkeit wird als politische Kategorie suspendiert. Ein Flug nach Tel Aviv ist dann für den klimaschützenden Politiker gar kein Problem mehr. Er demonstriert vielmehr an sich selbst, wie bitter nötig Verbote sind. 

Als sich die Klima- und Umweltminister der G-7-Staaten im Jahr 2022 in Berlin trafen, hatte Habeck noch eine klare Botschaft. Die „starken Industrienationen“ sollten ein weltweites Vorbild sein und deshalb auch eine „gewisse Vorreiterrolle“ beim Ausstieg aus den fossilen Energien einnehmen. Das hatte wegen des großen Anteils westlicher Industriestaaten am Klimawandel eine moralische Komponente. Aber es ging zugleich darum, die spieltheoretischen Probleme zu verkleinern. Wenn der Westen als Vorbild vorangeht, schafft das Vertrauen bei den Entwicklungsländern. Gegenseitiges Vertrauen ist zugleich die Voraussetzung dafür, das Auftreten von Trittbrettfahrern unwahrscheinlicher zu machen – und gemeinsames Handeln wahrscheinlicher. 

Daran zeigt sich die Paradoxie der politischen Philosophie der Grünen: Sie möchten zwar international Vorbilder sein, nicht aber im eigenen Land. Kein Entwicklungsland wird sich an das Pariser Abkommen halten, wenn es die westlichen Industrieländer ebenfalls nicht tun. Und kaum ein deutscher Wähler dürfte für die grüne Transformation zu begeistern sein, wenn deren Protagonisten nicht selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Glaubwürdigkeit ist am Ende eben doch eine politische Kategorie. 

Schiefergas-Gewinnung im Nordosten der Vereinigten Staaten / Nina Berman

In der Altstadt der Hansestadt Wismar sind bei rund 1750 Häusern bisher nur ganze sechs Solaranlagen installiert, darunter drei Balkonkraftwerke. Das liegt am Weltkulturerbe. Seit mehr als 20 Jahren kann sich die kleine Stadt an der Ostseeküste rühmen, einen „außergewöhnlichen universellen Wert“ der Menschheitskultur zu repräsentieren. Und dazu passen einfach keine Solaranlagen auf Dächern, so die Kulturhüter der Unesco. Besonderer Zankapfel: Touristen darf es nicht zugemutet werden, von den Türmen der drei innerstädtischen Kirchen auf solargedeckte Dächer blicken zu müssen. 

Fassadendämmung in der Altstadt

Andreas Schubert ist 50 Jahre alt und Experte für Energiegebäudewirtschaft. Er berät Hausbesitzer bei der energetischen Sanierung. Und er kann von noch mehr Problemen in der Altstadt von Wismar berichten. Eigentlich macht der von der Politik geforderte Einbau von Wärmepumpen ohne Dämmung von Kellern, Dächern und Fassaden keinen Sinn. Straßenseitige Fassadendämmung in der Altstadt von Wismar? Untersagt. Außendämmung des Daches, auch wenn es von der Straße aus nicht zu sehen ist? Ebenfalls untersagt. Der politische Hype um die Wärmepumpe mache unter diesen Voraussetzungen aber keinen Sinn: „Man kann nicht gegen die Bauphysik regieren.“ 

Aber es kommt Bewegung in die Sache. Neuerdings sieht das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vor, die Errichtung von Solar- oder Windkraftanlagen in der „Schutzgüterabwägung“ vorrangig zu behandeln. Das betrifft auch den Denkmalschutz oder das Weltkulturerbe. Entschieden, was das konkret heißt, wird aber immer vor Ort. Auch die Wismarer Bürgerschaft hat sich auf den Weg gemacht. Erst vor wenigen Wochen wurde die Gestaltungssatzung nach jahrzehntelangen Diskussionen geändert. Solaranlagen können jetzt doch auf Dächern der Altstadthäuser errichtet werden. Sie müssen aber flach auf dem Dach aufliegen, sich farblich und gestalterisch in das Dach einfügen, zum Beispiel durch Solar-Dachziegel, und die Kabel müssen unter dem Dach verlegt werden. Die Anlagen sollen straßenseitig und für die Touristen in den Kirchtürmen im Grunde unsichtbar sein. 

Die Effektivität der Anlagen wird dadurch deutlich gesenkt, die Errichtungskosten ungefähr verdreifacht. Schubert bezweifelt daher, dass Wismars Hausbesitzer nun massenhaft in die Produktion von Solarstrom einsteigen werden: „Das wird sich einfach nicht rechnen. Wir haben am Ende ein Glaubwürdigkeitsproblem – die Politik will das Klima retten, bremst die Bürger aber gleichzeitig aus.“ Der Welterbestatus ist für Wismars Stadtpolitiker letztlich das, was für die Scheichs das Öl ist. Im ländlichen Raum wird man deshalb wohl noch mehr Windräder errichten müssen. 

Einmal erzählt Robert Habeck, dass ihn in der Schullektüre „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus tief geprägt habe. Noch heute betrachtet er das Buch als „Referenztext“ für sein Leben. Am meisten hätte ihn dessen allerletzter Satz beeindruckt: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Obwohl er sein Ziel nie erreiche und es „keinen Trost“ gebe, mache er immer weiter. Das sei das Schicksal des modernen Menschen. Und das ist zugleich eine großartige Metapher für die Aussichtslosigkeit im Kampf gegen den Klimawandel unter den Bedingungen des Pariser Abkommens. 

Heiko Böhringer kämpft gegen die Verspargelung“ 
seiner Heimat / Mathias Brodkorb

Ungefähr so sieht es auch Harald Welzer. Er verzweifelt in der aktuellen Klimadiskussion an den Grünen: „Ich rede auf die ein wie auf ein totes Pferd.“ Die alles entscheidende Frage lautet für ihn: „Wie schaffen wir es, dass die Menschen auch das tun, wovon sie wissen, dass es richtig ist?“ Sich ständig überbietende Apokalypse-Verkündigungen hält er für ein Problem und gerade keinen Teil der Lösung: „Angesichts des ständigen Geredes vom Weltuntergang sagen sich die Leute doch: ‚Wenn eh alles sinnlos ist, dann lasst uns noch mal richtig auf die Sahne hauen.‘“ 

Die Schwierigkeiten begännen ja schon damit, dass sich auch die Grünen von Konsum- und Wachstumskritik verabschiedet hätten. „Man kann aber nicht so tun, als sei mit der Verminderung von CO2-Emissionen das Problem erledigt. Der Umfang unseres Stoffwechsels vergrößert sich ja weiter, mit allen schädlichen Folgen jenseits dieses einen Moleküls.“ Der Sozialpsychologe hat auch eine Idee, wie man das Wissen mit dem Handeln gesellschaftlich zur Deckung bringen kann: „Wir müssen weg von der CO2-Diskussion und hin zu Diskursen über Lebensqualität. Die Schweizer fahren nicht deshalb gerne mit der Bahn, weil sie das Klima retten wollen, sondern weil die Schweizer Bahn pünktlich, zuverlässig und gut ist.“ 

Man müsse den Menschen also einfach lustvolle Gründe geben, das Richtige zu tun. Es brauche „politisch organisierte Brücken zwischen Eigeninteresse und langfristigem Gemeinwohl“. Und den Schlüssel hierfür sieht Welzer in alternativen Lebensentwürfen, politischen Leitbildern und einem ganzheitlichen Blick auf die Gesellschaft. Der bestmögliche Schutz des Klimas stelle sich als Kollateralnutzen ganz von selbst ein, wenn man nicht den Klimawandel, sondern „das gute Leben“ ins Zentrum rücke. 

Etwas ganz anderes könnte sich aber als noch viel realistischer erweisen. Eigentlich sieht das Pariser Abkommen Maßnahmen vor, um die Folgen des Klimawandels so erträglich wie möglich zu gestalten. Aber sie fristen eher ein politisches Schattendasein. Es geht um Hochwasserschutz an den Küsten, um die Begrünung der Innenstädte, um intelligente Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft oder um die Anpassung der Entwässerungssysteme an Starkregen. Da am Ende jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann, wird sich auch Deutschland entscheiden müssen: Will es sein Geld in den aussichtslosen Versuch investieren, notfalls allein das Weltklima zu retten – oder stattdessen in die Bewältigung der Folgen des Klimawandels? Dazu könnten sogar robuste Grenzanlagen gehören. 

Das Pariser Abkommen wird am Ende an drei Dingen gleichzeitig scheitern: an spieltheoretischer Überkomplexität auf globaler Ebene, an bürokratischer Selbsterdrosselung und mangelndem Konsens im nationalen Rahmen – und auch an fehlender Glaubwürdigkeit politischer Eliten. Man kann sich Sisyphos zwar als einen glücklichen Menschen vorstellen, aber nicht ernsthaft daran glauben. Sinnlosigkeit ist für Normalsterbliche kein praktikables Lebensmotiv. Wir müssen uns Sisyphos stattdessen als einen verzweifelten Menschen vorstellen. Die umstrittenen Aktionen der „Letzten Generation“ sind davon bloß der Abglanz. Auf der Klimakonferenz in Dubai wird man kurz vor Weihnachten zur Bemäntelung der Aussichtslosigkeit des Unterfangens gewiss wieder eine diplomatische Sprachregelung ersinnen. 

 

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