Boris Pistorius wird Verteidigungsminister - Olaf Scholz ist ein Kanzler ohne Medienkompetenz

Immerhin eine überraschende Personalie: Der niedersächsische Innenminister übernimmt das freigewordene Verteidigungsressort. Olaf Scholz will mit dieser Entscheidung auch seine Eigenständigkeit demonstrieren. Doch der Effekt zeugt eher vom Gegenteil.

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) bereitet sich im Juli 2022 auf einen Flug im Polizeihubschrauber beim Besuch einer Waldbrandübung vor / dpa
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Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Boris Pistorius wird also Nachfolger von Christine Lambrecht: Es hätte schlimmer kommen können. Pistorius hat seinen eigenen Kopf, ist durchsetzungsfähig, wird bei Gegenwind, auch aus der eigenen Partei, tun und verfolgen, was er für richtig hält. Ein überfordertes Weichei, das – gewollt oder ungewollt – den Kurs eines lediglich halbherzigen Widerstands gegen Putin bei gleichzeitiger Immer-wieder-Ignoranz der berechtigten Forderungen und Interessen der Ukraine fortsetzt, ist der neue Mann aus Niedersachsen jedenfalls nicht.

Pistorius bekommt seine Chance, nun am Verteidigungsministerium zu scheitern, aber wie man ihn kennt, wird er wenig Neigung zeigen, seine politische Karriere ebenfalls als Geschlagener zu beenden. Dass der 62-Jährige Fleiß und Willen zeigen wird, sich schnell in das Ressort einzuarbeiten, darf man unterstellen.

Haarsträubende Fehler

Die immer wieder haarsträubenden Fehler seiner Vorgänger und Vorgängerinnen wird er nicht wiederholen, aber der Posten bietet bekanntlich ausreichend Möglichkeiten, neue zu machen. Andererseits wird Pistorius davon profitieren, dass die Maßstäbe, die man an einen Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt anlegt, nach Peter Struck ausreichend abgesenkt wurden. Das macht es 2023 leichter, in einer jetzt fast überkritischen Öffentlichkeit zu bestehen. Alles in allem ist das zwar mit Blick auf Expertise in Bundeswehrfragen keine perfekte Lösung des Bundeskanzlers, aber eine immerhin doch einigermaßen plausible angesichts eines aus SPD-Sicht doch sehr übersichtlichen Personaltableaus.

Und: Olaf Scholz war wenigstens diesmal klug genug, Qualität vor Quote zu setzen. Möglicherweise hat er tatsächlich begriffen, dass er sich einen weiteren Missgriff nicht leisten kann; will er sich nichts vollends diskreditieren. Regelrecht clever wäre es, nutzte er die Gelegenheit, um Karl Lauterbach der ihn ja so schmerzhaft vermissenden Forschung zurückzugeben und durch eine Frau zu ersetzen. Selbst wenn er blind mit dem Finger in ein beliebiges Telefonbuch tippte, könnten er und das Land mit einem Wechsel im Gesundheitsressort nur gewinnen – und zugleich bliebe die Parität gewahrt. Eine Parität, von der selbst die Grünen am Wochenende abgerückt waren vor lauter Angst, der Kanzler bereite gerade die nächste erratische Personalentscheidung vor. 
 

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Wie ernst es dem Neuen mit einer wirklich wirksamen militärischen Unterstützung der Ukraine sein wird, auch mit einem seriösen Wiederaufbau der Bundeswehr, könnte sich schon an diesem Freitag in Ramstein herausstellen. Die Verbündeten, voran die USA und Großbritannien, werden ihm auf den Zahn fühlen, gründlicher als die eigene Partei, die es vielleicht gar nicht so genau wissen will. 

Stets besorgt im Blick

Gut möglich, dass SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich von Pistorius nur so mittelbegeistert sein wird. So leicht wie Vorgängerin Lambrecht wird sich der langjährige Landesinnenminister nicht übergehen und ausmanövrieren lassen. Wobei unverändert die begründete Unterstellung im Raum steht, dem Bundeskanzler sei eine schwache Verteidigungsministerin sogar ganz recht gewesen mit Blick auf die Befindlichkeiten eines gewissen Herrn Putin, die Scholz und noch mehr Mützenich seit 2014 stets besorgt im Blick haben. 

Einen Monat nach dem Überfall, am 25. März 2022, stellte Pistorius jedenfalls klar, dass er bei diesem Thema von einer gewissen Humorlosigkeit geprägt ist: „Wer durch das ‚Z‘-Symbol öffentlich Zustimmung zum Angriffskrieg von Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine zum Ausdruck bringt, muss in Niedersachsen mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.“ Entschlossener als das besorgte Gemurmel aus der SPD-Bundestagsfraktion, wie mit dem Kreml umzugehen sei, klingt das allemal.

Krasses Desinteresse demonstriert

Eines muss bei alledem aber auch klar sein: Sollte Olaf Scholz tatsächlich seit exakt zwei Wochen gewusst haben, nämlich seit dem 3. Januar, dass er einen neuen Chef im Bendlerblock braucht, und er es trotzdem nicht für nötig hielt, sich unverzüglich um einen lückenlosen und im Rahmen der verbliebenen Möglichkeiten noch halbwegs geordneten Übergang zu bemühen, dann ist das ein unfassbarer Fehler und das Gegenteil politischer Führung. Keiner seiner Vorgänger, wirklich keiner, hätte sich ohne Not eine derartige Blöße gegeben und – nebenbei – auch den Verbündeten ein derart krasses Desinteresse demonstriert, was im derzeit wichtigsten deutschen Ministerium eigentlich los ist.

Christian Thiels, ARD-Bundeswehr-Fachjournalist, bis er von Annegret Kramp-Karrenbauer als Sprecher und Chef der gesamten Öffentlichkeitsarbeit abgeworben und bald darauf umständehalber von Christine Lambrecht übernommen wurde, gab sich gestern in der Bundespressekonferenz nicht einmal mehr Mühe, zu verbergen, dass niemand weiß, wo seine amtierende Ministerin aktuell steckt und ob sie sich selbst überhaupt noch als amtierend begreift. 

Der brennende Adventskranz seiner Chefin, der am Sonntag zuhause in Friedrichshain einen Feuerwehreinsatz auslöste, steht sinnbildlich für die verbrannte Erde, die Frau Lambrecht im Ministerium und darüber hinaus hinterlässt. Scholz hat diese Eskalation der Verantwortungslosigkeit nicht nur sehenden Auges in Kauf genommen, sondern regelrecht provoziert. Und damit die schon länger in der Hauptstadt schwelende Vermutung zur Gewissheit werden lassen, dass er das eigentliche Problem dieser Bundesregierung ist, nicht seine überforderten Minister jeglichen Geschlechts.  Wie kann ein Bundeskanzler so etwas machen? Wirklich alles nur aus Trotz und Starrsinn, weil er sich nicht „von den Medien treiben lassen will“?

Stets das Gegenteil von dem, was Kommentatoren ihm nahelegen

Mit Verlaub: Sollte dies auch hier die maßgebliche Motivation für sein Nichthandeln gewesen sein, dann hat der Mann weniger Medienkompetenz als jeder Sextaner im ersten Jahr am Gymnasium. Medienkompetenz bedeutet im Kern die Fähigkeit, Unsinn, Schrott, Irrelevantes und Fakes zu unterscheiden von sinn- und wertvollen Informationen. Das eine wird in Sekundenschnelle überlesen, umgehend gelöscht oder gar nicht erst aufgerufen, das andere zur genaueren Prüfung in den Zwischenspeicher gelegt, auch bekannt als Hinterkopf, um es bei Bedarf hervorzuholen und zwecks eventueller Nützlichkeit für die eigene Meinungs- und Entscheidungsbildung auszuwerten. Doch was macht Olaf Scholz? Stets nur das Gegenteil von dem, was mehr oder weniger intelligente Kommentatoren ihm nahelegen. 
 

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„Wir haben das strategische Denken verlernt“


Natürlich wäre jeder Regierungschef nach einem halben Jahr am Ende, der auf jeden Pressetrend, jede Einflüsterung der Qualitätsmedien, jede Kampagne umgehend wie gewünscht reagieren würde. Tatsächlich sind, je nach Tageslage, zwischen 80 und 99 Prozent medialer Einflussversuche auf Regierungshandeln nicht einmal mittelfristig zielführend und deshalb wert, im Kanzleramt ignoriert zu werden, zumal dieselben Leute nächste Woche, spätestens nächsten Monat genauso gut das Gegenteil sagen, schreiben oder senden können und das auch nur zu oft tun. 

Die Kunst besteht aber darin, jenen (kleinen) Anteil an medialen Äußerungen zu identifizieren und alsdann ernst zu nehmen, mit denen die Verfasser jenseits von Herdentrieb und Krawalllust richtig liegen. Und genau das kriegt Scholz einfach nicht hin, selbst um den Preis verheerender Ergebnisse nicht. Jeder Angriff auf Lambrecht verschaffte ihr eine weitere Woche Amtszeit. Bei Anne Spiegel von den Grünen lief es ja im Prinzip genauso.

Scholz wirkt wie ferngelenkt

Beiden Frauen wurden nicht etwa ihre sattsam dokumentierten Fehlleistungen im Amt zum Verhängnis, sondern unter normalen Umständen unbeachtliche, verunglückte, wohlweislich selbst produzierte TV- und Videoauftritte, die dank der jeweiligen Vorgeschichte dann aber in Minutenschnelle zum Kollaps der internen und externen Unterstützung oder wenigstens Toleranz führten. Was bei Bundespräsident Heinrich Lübke zwischen 1967 und 1969 Jahre dauerte, die Erosion politischer Unterstützung nach erratischen Auftritten, geschieht heutzutage in Echtzeit. 

Womöglich wäre das mit Lambrecht noch monatelang so weitergegangen, hätte sie nicht selbst am Neujahrstag gemerkt, dass es vorbei ist. Olaf Scholz erweist sich mit seiner Jetzt-erst-recht-Mentalität als ex negativo ferngelenkt, womit ihm genau das passiert, was er doch unbedingt vermeiden will: ferngelenkt zu sein. Was für eine Blamage. 

Boris Pistorius hat für Olaf Scholz auch deswegen Charme, als ihn niemand in der Berliner Blase auf dem Zettel hatte. Das war für den Bundeskanzler am Ende sogar wichtiger als das Ausschluss-Merkmal „Mann“, als sein Wahlversprechen, im Kabinett Parität zu gewährleisten. Wirklich erwachsen klingt dieses Verfahren der Lückenfüllung und Problemlösung aber nicht.

Scholz mangelt es an Medienkompetenz. Und das nach so vielen Jahren in der Politik. Wer erklärt ihm den Unterschied zwischen wichtig und unwichtig und wie man als Kanzler herausfindet, in welche Kategorie eine intern oder öffentlich geäußerte Meinung gehört? Wer hilft ihm heraus aus seiner selbst gestellten Falle?

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