Boris Palmer - Der Sonnenkönig

Boris Palmer ist einer der umstrittensten Oberbürgermeister des Landes. Eigentlich wollten die Grünen ihn sogar loswerden. Sie hatten sowohl seine zuwanderungskritischen Äußerungen satt als auch seine als Provokation empfundenen Einlassungen während der Corona-Krise. Nun steht Palmer zur Wiederwahl. Wie gehen die Grünen damit um?

Bei Gartenpartys blüht Boris Palmer auf / Mathias Brodkorb
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Am 23. Oktober wählt Tübingen einen Oberbürgermeister. Während sich Amtsinhaber Boris Palmer als unabhängiger Kandidat zu privaten Grillpartys einladen und jeweils einen Kasten Freibier springen lässt, buhlen seine beiden aussichtsreichsten Mitbewerberinnen mit Hausbesuchen oder Zitroneneis um die Gunst der Wähler. 

Wegen eines Kompromisses kann der wohl erfolgreichste grüne Bürgermeister der Republik nicht für seine eigene Partei antreten. Eigentlich wollten die Grünen ihn sogar loswerden. Sie hatten sowohl seine zuwanderungskritischen Äußerungen satt als auch seine als Provokation empfundenen Einlassungen während der Corona-Krise. Im „Frühstücksfernsehen“ von Sat.1 erklärte er einst, dass man mit allzu rigiden Lockdown-Maßnahmen nur alte Menschen retten würde, die „in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Die Reaktionen auch vor Ort waren eruptiv. 

Tübingen ist grün dominiert

Immer öfter mussten sich die Mitglieder der Grünen für ihren Oberbürgermeister rechtfertigen, obwohl Tübingen in der Corona-Krise auch durch Palmers Arbeit zu einer regelrechten Vorzeigestadt geworden war. Die Partei zog dennoch die Reißleine und löste ein Ausschlussverfahren aus. Das scheiterte jedoch und endete in einem Kompromiss: Palmer muss seine Mitgliedschaft zwar für zwei Jahre ruhen lassen – wurde aber nicht ausgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon mehr als 100.000 Euro an Spenden für seine Kandidatur eingesammelt.

Bruno Gebhart ist ein linkes Urgestein der Grün-Alternativen in Tübingen. In der Nähe des Marktes betreibt er einen kleinen „fairen Laden“, in dem er auch Bücher feilbietet. In den Regalen stapeln sich Homer, Hegel und Bloch. Das werde zwar nur noch selten gekauft. Aber er habe einmal katholische Theologie und bei dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch studiert. So sei er nach Tübingen gekommen. Ein wenig Nostalgie erfüllt das leicht chaotisch organisierte Lädchen.

Gebhart ist seit über 30 Jahren Gemeinderat und Mitglied im Vorstand der Alternativen Liste (AL). Die AL und die Grünen bilden zwar eine gemeinsame Fraktion, aber es handelt sich am Ende trotzdem um zwei eigenständige Organisationen: eine Partei und einen Verein. Er ist wie Palmer in beiden Mitglied. 

Das grüne Milieu dominiert die Universitätsstadt schon seit vielen Jahren. Rund 35 Prozent holte es bei den zurückliegenden Gemeinderatswahlen. Alle anderen Parteien sind zu Splitterorganisationen degradiert. CDU und FDP haben auch deshalb schon gar keine eigenen Kandidaten mehr aufgestellt. Dennoch ist das grüne Milieu zerrissen, und dieser Umstand lässt sich kaum plastischer illustrieren als durch die Existenz zweier grüner politischer Organisationen. 

Palmer kennt alle Details

Als es im Frühjahr des Jahres 2022 um die Nominierung der Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters geht, verzichtet Palmer auf ein offizielles Votum. Er wollte offenbar nicht auch noch Öl ins Feuer des Ausschlussverfahrens gießen. Trotzdem gewinnt er mit deutlichem Abstand die Abstimmung bei der AL gegen die Kandidatin der Grünen, Ortsvorsteherin Ulrike Baumgärtner. Und das, obwohl er gar nicht auf der Liste steht.

In ein „Freifeld“ kann man nämlich auch seinen Wunschkandidaten eintragen. Und das tut eine deutliche Mehrheit. Der Name, den sie fast alle auf dem Zettel notieren, ist der von Boris Palmer. Bei den Grünen hingegen steht nur Baumgärtner zur Wahl. Trotzdem wird sie nur mit knapper Mehrheit nominiert. Es gibt fast ebenso viele ungültige und Nein- wie Ja-Stimmen. Ein grüner Insider hat dafür eine einfache Erklärung: Die meisten Nein-Stimmen gingen einfach auf das Konto von Mitgliedern der AL. Deren Stimmen hätten dank Doppelmitgliedschaft bei beiden Nominierungen gezählt.
 

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Den Versuch, Palmer aus der Partei auszuschließen, hält Gebhart für einen „Machtkampf der Funktionäre“. Dahinter verbirgt sich auch ein Generationenkonflikt: die Altlinken hier, die woken Nachwuchsgrünen dort. Insbesondere bei den Themen Migration und Integration sei Palmer nicht mehr grün, sondern eher „konservativ“, findet zum Beispiel der Pressesprecher der Tübinger Grünen, Marc Mausch. Es stelle sich einfach die Frage, ob Boris Palmer die Grünen überhaupt noch repräsentieren könne.

Dass Palmer indes über großen Rückhalt in der Stadt verfügt und die Wahl gewinnen wird, steht für Gebhart außer Frage. „So ideenreich, so motiviert, so kenntnisreich und engagiert habe ich in all den Jahren noch keinen Bürgermeister erlebt“, sagt der Mann mit dem langen grauen Bart ganz ruhig, aber mit Glanz in den Augen. Über Jahrzehnte hinweg sei der Gemeinderat bei politischen Entscheidungen gespalten gewesen, heute sei das anders. Und dafür gebe es nur einen einzigen Grund: Boris Palmer. Der stecke in jedem Thema knietief drin, wisse in den Sitzungen des Gemeinderats häufig auch in Details besser Bescheid als seine Mitarbeiter. Der Mann, der vor allem mit zugespitzten Äußerungen bundesweit bekannt wurde, könne zugleich Menschen zusammenführen. 

Wirtschaftskompetenz bei den Sozialdemokraten

Zur Hochform läuft Palmer vor allem bei den Grill­abenden mit den Bürgern auf. Kein Lamentieren, kein Ausweichen – und stets faktensicher. Er kann sogar Vierjährigen ganz genau erklären, wann welches Spielgerät auf welchem Spielplatz repariert wird. „Er ist halt irgendwie auch der Hausmeister der Stadt“, sagt dazu einer seiner Wähler durchaus anerkennend. 

Natürlich hätte der Amtsinhaber bei einer Wahl immer einen gewissen Bonus. Aber der sei im Falle Palmers einfach aufgebraucht, ist die erfahrene Kommunalpolitikerin Baumgärtner überzeugt. Sehr oft höre sie von den Wählern, dass 16 Jahre Palmer „einfach genug“ seien. „Ein gutes Stadtoberhaupt zu sein, ist eben auch eine Stilfrage“, so die Politikwissenschaftlerin. 

Genauso sehen es auch Sofie Geisel und ihre SPD. Geisel ist ebenfalls Politologin, hat ein paar Jahre lang in Tübingen studiert und auch dort gelebt. Dann ist sie nach Berlin gegangen. Derzeit fungiert sie als Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). Eine energiegeladene Kandidatin mit ausgewiesener Wirtschaftskompetenz: Das soll den Sozialdemokraten bei der anstehenden Wahl zum Durchbruch verhelfen. Wer Palmer besiegen will, darin sind sich Grüne wie SPD einig, muss das bürgerlich-konservative Milieu der Stadt an sich binden. Während sich die Grünen durch zwei Kandidaten selbst zerlegen, könnte Geisel die lachende Dritte sein – hoffen zumindest die Sozialdemokraten.

„Man muss in der Politik nicht gemocht werden“

Dabei attestiert nicht einmal die SPD Boris Palmer schlechte Arbeit. Er sei ja schon ein „Macher“, sagt ein roter Wahlkampfhelfer, der ihn vor acht Jahren selbst gewählt hat. Wenn er Schulnoten verteilen müsste, dann erhielte dieser für seine Leistung von ihm eine Zwei minus. Aber nicht das Fachliche sei das Problem, sondern sein Verhalten gegenüber Bürgern und Politik: „Art und Ton gehen einfach nicht. Mir graut vor weiteren acht Jahren Boris Palmer.“ Und Sofie Geisel ergänzt: „Wer nur noch sich selbst sehen kann, hat keine Augen mehr für seine Mitmenschen.“ 

Geisel und Baumgärtner fordern daher vor allem eine neue Art ein, in Tübingen Politik zu machen. Die Kandidatin der SPD spricht von einem „neuen Stil“, die Kandidatin der Grünen von einer „würdigen politischen Kultur“, die sie anstrebe. Boris Palmer hat da ganz andere Prioritäten: „Ich finde nicht, dass man in der Politik in erster Linie die Aufgabe hat, gemocht zu werden.“ Genau das könnte am Ende aber das Problem sein. Marc Mausch jedenfalls ist davon überzeugt, dass man als Oberbürgermeister die Stadtgesellschaft und die eigene Partei „mitnehmen“ müsse. Das sei in den letzten Jahren bedauerlicherweise nicht mehr gelungen: „Man kann eine Stadt wie Tübingen nicht auf Dauer wie ein Sonnenkönig regieren.“

Palmer will über „Haltungsnoten“ diskutieren

Dass sich die Gegenkandidaten vor allem auf „Stilfragen“ konzentrieren, ist für Bruno Gebhart keine Überraschung. „Was sollen sie inhaltlich an Palmer auch kritisieren?“, fragt er mit einem altersmilden, aber süffisanten Lächeln. Sicher sei Palmer eine besondere Persönlichkeit. Aber das bringe am Ende doch eine gewisse „Würze“ in die Politik. Tatsächlich gibt es nur weniges, worin Baumgärtner und Geisel inhaltliche Kritik an Palmer üben. Beide betonen zum Beispiel, es müsse mehr gegen den Fachkräftemangel getan werden. Die Mittel dazu: eine neue „Willkommenskultur“ für Zugewanderte und mehr sozialer Wohnungsbau. Der Mietspiegel der mittelgroßen Stadt Tübingen ähnelt tatsächlich dem deutscher Großstädte. Bei allen Erfolgen in der Klimapolitik seien diese Themen auf der Strecke geblieben.

Was seine Kritiker vor allem als Problem beschreiben, ist für Palmer auch das Ergebnis erfolgreicher Politik: die Entwicklung der Innenstadt, mehr Einwohner und 14.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Allein in seiner Amtszeit hätten sich die Einnahmen aus der Gewerbesteuer mehr als verdreifacht. Darüber und über die Zukunft der Stadt wolle er vor allem diskutieren – und nicht über „Haltungsnoten“ seine Person betreffend. Dabei schlägt Palmer durchaus auch selbstkritische Töne an. Ihm sei ja bewusst, dass er manchmal über das „gesunde Maß“ hinausschieße. Aber man könne es eben auch nie allen recht machen: „Den präsidialen Stil beherrsche ich nicht. Mit ihm würde sich die Stadt auch nicht entwickeln.“

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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