Demokratiepädagogik - Lernen am (schlechten) Beispiel

Demokratien sehen sich weltweit neuen Bedrohungen ausgesetzt. Bereits an den Schulen sollen unsere Kinder daher zu guten Demokraten erzogen werden. Doch diese naive politische Idee gerät schnell an ihre Grenzen, wenn Politiker ihre demokratische Vorbildfunktion missachten.

Der Plenarsaal des Deutschen Bundestages ist im Sucher einer TV-Kamera zu sehen / picture alliance
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Autoreninfo

Ewald Kiel ist Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München und war Direktor des Departments für Pädagogik und Rehabilitation sowie Mitglied des Universitätssenats. Zur Zeit ist er Dekan der Fak. 11 der LMU.

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Demokratie ist in der Krise! Steven Levitsky und Daniel Ziblatt gehen der Frage nach, so ihr Buchtitel, „Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können“. Der US-Historiker Timothy Snyder titelte sogar noch vor dem Ukrainekrieg ähnlich: „Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika“. Demokratie-Indizes sehen seit den 2000er Jahren Rückschritte, was die Umsetzung demokratischer Prinzipien anbelangt.

Die Nachrichten lehren uns, dass in Staaten wie z.B. Israel, Polen und Ungarn an den Grundfesten demokratischer Werte gerüttelt werde. Alle genannten Staaten strebten auf die eine oder andere Weise danach, die Gewaltenteilung, seit Montesquieu eines der zentralen Prinzipien demokratischen Denkens, zumindest einzuschränken, indem sie die richterliche Unabhängigkeit beschränken.

In den USA, dem Land mit der zeitlich längsten durchgehenden Demokratie der Welt, hat Donald Trump die Legitimität der letzten Wahl bezweifelt. Egal ob Donald Trump mit seinem Narrativ der gestohlenen Wahl Recht hat oder die Menschen, die das Narrativ ablehnen und ihm vorwerfen, einen Putsch inszeniert zu haben, die Vorgänge sind Ausdruck einer tiefen Krise des Vertrauens in demokratische Institutionen. Rechte Bewegungen und Parteien, deren Nähe zur Demokratie bezweifelt wird, gewinnen in Europa mehr und mehr an Einfluss. Gleichzeitig positionieren sich autoritäre Staaten wie China oder Singapur gegenüber Demokratien als Erfolgsmodelle, die Krisen besser bewältigen können.

Grauen De-Demokratisierung

In Anlehnung an die poetischen Zeilen von Conrad Ferdinand Meyer kann man vor diesem Hintergrund sagen: „Allgemach beschlich es mich wie Grauen.“ Dieses Grauen ist auch in unserem Land vorhanden, obwohl nach einer Umfrage der Europäischen Kommission circa zwei Drittel der Menschen in Deutschland sehr zufrieden oder ziemlich zufrieden sind, während ein knappes Drittel nicht zufrieden oder überhaupt nicht zufrieden ist. Die letzte Gruppe umfasst jedoch nur 8%, andere Untersuchungen sprechen gar nur von 4%. Gleichwohl besteht die Furcht, die negativen Zahlen könnten größer werden. Die Brisanz solcher Untersuchungen im bundesrepublikanischen Diskurs steigt, wenn man auf Zahlen schaut, die Bürgern Ostdeutschlands eine deutlich geringere Affinität zur Demokratie bescheinigen als Bürgern in Westdeutschland.

Neben diesen Zahlen gibt es noch das um sich greifende Prinzip der Selbstermächtigung gegen demokratische Regeln. Ob Blockupy, Klimakleber, Querdenker oder Reichsbürger – immer mehr Menschen, politisch links wie rechts oder ganz woanders, glauben aufgrund der von ihnen angenommenen überlegenen Moral, sich nicht an die Spielregeln einer Demokratie halten zu müssen.

Sie kämpfen nicht demokratisch für ihre Interessen, sondern treten gegen die Demokratie auf der Straße ein für ihre angeblich überlegene Moral. Sie wollen gegebenenfalls den bestehenden Staat außerhalb demokratischer Regeln überwinden, damit dieser so funktioniert, wie sie sich das vorstellen. Das ist höchst undemokratisches Denken! Man kann hier durchaus in Ansätzen von einer De-Demokratisierung der Gesellschaft sprechen.

Was tun?

Große politische Stiftungen, wie etwa die Friedrich-Ebert-, die Konrad-Adenauer- oder die Bosch-Stiftung, haben recht aktuell Untersuchungen vorgelegt, wie es um das demokratische Verständnis der Bürger steht. Bundespräsident Steinmeier fordert eine Rückbesinnung auf demokratische Traditionen, wie etwa die der Paulskirche, und hofft damit, eine De-Demokratisierung durch eine Veränderung von Überzeugungen verhindern zu können. Die Ereignisse in der Paulskirche sollen Anlass sein, darüber nachzudenken, welche positiven demokratischen Traditionen wir haben.

Die Bundeszentrale für politische Bildung wirbt seit mehr als 15 Jahren dafür, „Demokratie lernen“ im Bildungssystem zu verankern. Schon im Kindergarten soll demokratische Partizipation erfahrbar gemacht werden. In meinem Bundesland Bayern gibt es seit dem Schuljahr 2021/22 einen großen Versuch, an der Grundschule partizipatives demokratisches Denken zu stärken und demokratisches Bewusstsein schon bei unseren Jüngsten hervorzurufen. Dahinter steht die pädagogische Idee, dass die Erfahrung von Partizipation im Bildungssystem auch späteres demokratisches Denken und Handeln fördere. Andere Bundesländer verfügen über ähnliche Programme.

Dies geschieht vor dem Hintergrund vieler empirischer Untersuchungen, die der Schule bescheinigen, Schülern nur eine Scheinpartizipation zu gewähren, sie kaum in echte Aushandlungsprozesse einzubinden. Die alte Idee von Kant, Menschen in Unfreiheit zur Freiheit zu erziehen, wird von den Kindern und Jugendlichen als unauflösbarer Widerspruch empfunden und nicht als ein gut begründeter Prozess der Entwicklung.

Naive Politik

Hinter der Förderung all dieser Programme steckt eine naive politische und nicht pädagogische kausale Idee: Man pflanzt etwas in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen, und diese Saat, genannt demokratisches Denken und Handeln, geht auf, und nachher sind dann alle gute Demokraten. Diese Idee ist aus politischer Perspektive sehr praktisch, denn sie entlastet die Politik davon, selbst ein gutes Modell zu bieten. Das Bildungssystem wird es schon richten! Warum geht diese so praktisch gedachte Saat nicht auf?

 

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Im Kontext meiner Wissenschaft kann man dies wie folgt erklären: Lernen ist ein Prozess, der in Auseinandersetzung und Interaktion mit der Umwelt stattfindet. In dieser Auseinandersetzung, so die gängige theoretische Annahme, werden bei richtigem Arrangement langfristige Veränderungen von Wissen, Überzeugungen und Handlungen ermöglicht. Das Problem ist, dass die Auseinandersetzung mit der Umwelt viele Möglichkeiten bietet, an der Demokratie zu zweifeln. Wir haben nicht nur die Schule mit ihrer Scheinpartizipation oder die Familie, sondern auch all das, was außerhalb der Schule passiert, und dort passiert viel, das Kinder und Jugendliche an Demokraten und Demokratie zweifeln lässt.

Demokratie verlernen

Was lernen die Kinder über Demokratie und Demokraten außerhalb der Schule? Sie lernen, dass demokratisch gewählte Politiker wie etwa Donald Trump oder Benjamin Netanjahu rücksichtslos für ihre eigenen Interessen eintreten – der eine möchte Präsident bleiben, der andere nicht wegen Korruption angeklagt werden. Es ist eine komplexe Aufgabe für Pädagogen, deutlich zu machen, dass in diesen beiden Fällen die demokratische Struktur noch funktioniert. Beide haben sich bisher nicht durchgesetzt. Das kann man als Erfolgsgeschichte der demokratischen Struktur verstehen.

Jedoch, wie argumentiert man in der Schule, wenn sich die beiden doch durchsetzen? Ähnliches gilt für Polen und Ungarn. Beide Staaten werden mit Sanktionen bedroht, aber vielleicht gehen sie auch als Sieger aus der Konfrontation mit der Europäischen Union hervor; dann hat es sich gelohnt, sich nicht an demokratische Spielregeln zu halten.

Man muss in diesem Kontext nicht nur ins Ausland schauen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beklagt, dass Gesetze in unverhältnismäßig kurzer Zeit, die kaum Möglichkeiten für eine intensive Auseinandersetzung in Gremien und im Bundestag lässt, durchgesetzt werden. Letztlich ist auch dies ein Beugen demokratischer Spielregeln, um eigene Interessen durchzusetzen – zum Beispiel Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Begründet wird auch dies mit einer überlegenen Moral, den Bürgern möglichst pragmatisch schnell zu helfen. Wie vermittelt man demokratische Überzeugungen Kindern und Jugendlichen, wenn demokratische Spielregeln dauernd gebeugt werden? Ein Verständnis für die dauernde Etablierung von Ausnahmen zu entwickeln, ist pädagogisch eine sehr schwere Aufgabe.

Politik ohne Moral

Schaut man auf die deutsche Situation, muss man feststellen, dass viele Politiker neben ihrer Bereitschaft, Spielregeln zu beugen, vielerlei Zweifel an ihrer moralischen Integrität aufkommen lassen. Die Zahl der Personen aus der Politik, die ihre Dissertation plagiiert haben oder es mit Quellenangaben nicht ganz so genau nehmen, würde etliche Zeilen füllen.

Wenn sie mächtig genug sind, gelingt es ihnen mit einem blauen Auge davonzukommen – zum Beispiel einer Rüge ihrer Universität, die nicht zu einem Aberkennen des Titels führt. Ähnliches gilt für die Coronaprofiteure aus der Politik, die Geld dafür kassiert haben, Masken verfügbar zu machen. Aus der Perspektive des Modelllernens ist das schlechte Beispiel, das diese Politiker liefern, nur zu einem Teil von Bedeutung. Ebenso wichtig ist die Reaktion innerhalb der Politik auf dieses Fehlverhalten.

Modelle, so der Lernpsychologe Bandura, wirken dann besonders stark, wenn das Modellverhalten Anerkennung erfährt oder zumindest nicht sanktioniert wird. Bundeskanzlerin Merkel fand das Fehlverhalten von Guttenberg und Schavan zunächst mäßig gravierend. Zu jenem bemerkte sie, sie habe einen Verteidigungsminister und keine wissenschaftliche Hilfskraft eingestellt. Die andere wird nach der Aberkennung ihrer Dissertation auf einen lukrativen Botschafterposten abgeschoben. Die Maskenprofiteure haben nach 45 Tagen Untersuchungsausschuss in Bayern ebenfalls nichts zu befürchten, formal sei alles weitgehend korrekt gelaufen. Lediglich für die Zukunft wurde festgestellt, dass Geschäfte von Politikern mit dem Freistaat zu unterlassen sind.

Alle tricksen

Was lernen Kinder und Jugendliche in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt aus diesen Beispielen? Innerhalb demokratischer Institutionen werden Verletzungen von Spielregeln nur begrenzt ernst genommen. Demokratie heißt anscheinend, sich durchzumogeln, die eigenen Interessen auch entgegen demokratischen Prinzipien durchzusetzen. Man muss sich nicht davor fürchten, dass der demokratische Staat die Verletzung seiner Regeln allzu hart sanktioniert, denn schließlich tricksen wir doch alle ein bisschen – nicht wahr?

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