Wie junge Berliner wählten - Der linksgrüne Vollkasko-Staat ist sehr attraktiv

Obwohl die Erwartungen der Grünen und der Linken bei der Berlin-Wahl insgesamt nicht erfüllt werden konnten, kamen sie unter jüngeren Wählern ausgesprochen gut an. Gerade in den „hippen“ Berliner Bezirken drückt sich damit jedoch eher ein Lebensgefühl als eine politische Haltung aus.

Die deutsche Hauptstadt der Selbstverwirklicher und selbsternannten Avantgardisten: Berlin / picture alliance
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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In Berlin sind die Träume der Grünen von der stärksten Kraft nicht in Erfüllung gegangen. Auch die Linke hat ein eher „suboptimales“ Ergebnis erzielt. Wo Schatten ist, ist meist auch Licht. Beide Parteien links von der Mitte haben bei den jüngeren Wählern überdurchschnittlich gut abgeschnitten. 

Laut Forschungsgruppe Wahlen (FGW) erreichten die Grünen in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen 26 Prozent, die Linke 19 Prozent. Infratest dimap hat für die kleinere Gruppe der 18- bis 24-Jährigen folgende Werte ermittelt: Grüne 23 Prozent, Linke 17 Prozent. Damit liegen beide Parteien deutlich über ihrem Gesamtergebnis von 18 beziehungsweise12 Prozent. Im Vergleich dazu sehen die einstigen Volksparteien ziemlich alt aus. Die CDU erzielte in diesen Wählergruppen 14 beziehungsweise 12 Prozent, die SPD 10 beziehungsweise 11 Prozent. 

Eher ein Lebensgefühl als eine politische Haltung

Nun kommen die Grünen bei jüngeren Wählern schon lange sehr gut an. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Das Thema Klima spielt für Jüngere bei der Wahlentscheidung eine größere Rolle als für Ältere. Zudem ist Grün bei jungen Leuten einfach „in“. Wer sich als Anhänger der Öko-Partei outet, der gehört damit automatisch zu den Guten, bewegt sich somit im Freundes- und Kollegenkreis auf sicherem Terrain. Da rümpft niemand die Nase.

Ohnehin ist Grün eher ein Lebensgefühl als eine politische Haltung. Fürs Klima und den Frieden zu sein, für Frauenrechte und die Respektierung sexueller Minderheiten, fürs Gendern und fleischlose Ernährung, für Rad statt Auto, kurz gesagt: die Welt retten und gleichzeitig verbessern – das alles haben die „alten“ Parteien nicht zu bieten. Da klingt das Bekenntnis zu Grün fast wie ein religiöses Glaubensbekenntnis.

 

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Diese Einstellung ist gerade in den „hippen“ Berliner Bezirken weit verbreitet, vor allem in Mitte, Kreuzberg und Prenzlauer Berg. Dort wohnen nicht nur viele junge Leute. Dort ist auch der Traum von einer Multi-Kulti-Idylle noch lebendig und feiert die „woke“ Identitätspolitik fröhliche Urständ. Jung und hedonistisch, das ist der Boden, auf dem die grüne Saat aufgeht. 

Die Berliner Wahl hat wieder einmal belegt, dass die Grünen unverändert eine Partei der Jüngeren sind. Bei den Wählern über 60 blieben sie mit 9 Prozent weit unter ihrem Gesamtergebnis von 18 Prozent. Bei der Linkspartei bietet sich dasselbe Bild: Das starke Abschneiden bei den Jüngeren kontrastiert mit den vergleichsweise mageren 11 Prozent bei den über 60-Jährigen. Offenbar hat ein Großteil der ehemaligen SED-Anhänger, die nach der Wende ihrer umbenannten Partei stets die Treue gehalten haben, inzwischen das Zeitliche gesegnet. Wobei man nicht vergessen darf, dass die verbliebenen Alten zahlreicher und wahlfreudiger sind als die Jungen.

Generation Vier-Tage-Woche

Den Linken-Wählern in der Altersgruppe unter 30 Jahren kann man keine DDR-Nostalgie unterstellen. Doch hat die Linkspartei ebenfalls vieles im Angebot, was junge Wählerherzen begehren: Pazifismus, Feminismus, Klimapolitik, Identitätspolitik. Damit kommt die Linke in vielen Teilen der Republik nicht mehr an, aber umso besser in bestimmten Kiezen und Szenen der Hauptstadt.

Aus vielen Wahlanalysen ist bekannt, dass jüngere Wähler weniger Wert auf Fleiß, Leistung und Regeln legen als andere Altersgruppen. Für junge Menschen, die lieber von der „Work-Life-Balance“ im Sinne einer „Life-Work-Balance“ reden und für die Leistungsprinzip eher ein Unwort ist, bieten Grüne und Linkspartei geradezu maßgeschneiderte, ziemlich identische Programme. Grüne wie Linke propagieren den Vollkasko-Staat. Da wird nicht gefragt, was der Einzelne leisten kann und soll. Stattdessen wird herausgestellt, was der Einzelne unbedingt braucht – finanziert von der Allgemeinheit. 

Atmen den Geist vom alten Marx

Grüne und Linke trennt vieles, gerade in der Außen- und Verteidigungspolitik. Aber sie haben sich weitgehend überschneidende Programme für junge Wähler. Die atmen den Geist vom alten Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.“ Das heißt heute: staatliche Rund-um-Versorgung für alle – finanziert von den „Reichen“. Das ist ein Modell, das niemals funktionieren kann – aber offenbar attraktiv ist für junge Leute, die sich schon beim Berufseintritt Homeoffice, Vier-Tage-Woche und vorzeitigen Ruhestand wünschen. 

Man sollte aus dem Wahlverhalten jüngere Menschen indes keine allzu weitreichenden Schlüsse ziehen. Die SPD war in den 1970er-Jahren für junge Wähler äußerst attraktiv. Wären alle Willy-Wähler ihr alle treu geblieben, hätte die CDU niemals wieder den Kanzler gestellt. Wer im Lateinunterricht nur ein wenig aufgepasst hat, weiß: Tempora mutantur, et nos mutamur in illis (Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen). Das gilt selbst für Wähler, selbst für junge in Berlin.

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