Eine Lehre aus der Causa Aiwanger - Wir brauchen eine Kultur der zweiten Chance

Die Rufe aus Politik und Medien nach einem Rücktritt Hubert Aiwangers waren nach den Flugblatt-Vorwürfen in der vergangenen Woche laut. Doch auch Spitzenpolitiker haben verdient, dass ihre Jugendsünden vergessen werden. Das lässt sich sogar aus dem Grundgesetz ablesen.

Solidarität mit Hubert Aiwanger bei einem Wahlkampfauftritt / picture alliance
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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In meiner Jugendzeit habe ich auch „mal Scheiß“ gemacht. Das sagt Hubert Aiwanger zu den Anschuldigungen, die von zumeist anonymen „Zeitzeugen“ gegen ihn erhoben werden. Niemand bestreitet, dass das Flugblatt, um das es geht, scheußlich und inhaltlich völlig inakzeptabel ist. Das hat Markus Söder gut auf den Punkt gebracht, als er von „Dreck“ sprach, der ekelhaft, widerlich und Nazi-Jargon ist. 

In der öffentlichen Diskussion ging es völlig undifferenziert um die Frage, ob Aiwanger zurücktreten muss oder nicht. Dahinter stecken natürlich auch machttaktische Überlegungen. Denn egal, wie Söders Entscheidung zur Entlassung Aiwangers aussehen würde: Sie hat mit großer Wahrscheinlichkeit Auswirkungen auf die Endphase des Landtagswahlkampfs in Bayern und die Zusammensetzung der neuen Regierung. Die Entscheidung ist jetzt gefallen, für Aiwanger und die Fortsetzung der Regierungskoalition. Lässt sich aus der Causa Aiwanger etwas lernen, das über die aktuelle Politik hinausgeht?  

Jugendsünden – oder Makel für immer? 

Was Aiwanger erlebt, ist nichts Neues. Er ist bei weitem nicht der erste – und ganz sicher nicht der letzte – Politiker oder Prominente, den Jugendsünden, Verfehlungen oder schlimme Taten nach Jahrzehnten einholen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Literaturnobelpreisträger Günter Grass. 2006 gestand er, kurz vor Kriegsende – als 17-Jähriger – Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. War das eine verzeihliche Jugendsünde, die keinen Schatten auf sein Leben und sein Werk wirft? Oder ist das ein Makel, den er nie wieder loswird?

Genau darum geht es auch in der Causa Aiwanger und den zahlreichen vergleichbaren Fällen. Nach welchen Maßstäben wird das entschieden? In der Politik geht es hier – wie immer – um parteipolitische Machtfragen. Die Logik ist einfach. Ist es einer von uns? Dann sind es verzeihliche Jugendsünden, die lange her sind. Ist es ein politischer Gegner, der mit Vorwürfen konfrontiert wird? Dann handelt es sich um schwere Verfehlungen, die endgültig und auf ewig für ein politisches Spitzenamt disqualifizieren.

Das ist die übliche politische Heuchelei, die das Messen mit zweierlei Maß zur parteipolitischen Kunstform entwickelt hat. Selbstverständlich merken die Bürger das – und wenden sich angewidert ab. Gibt es andere, bessere Kriterien, als politische Opportunität, um Jugendsünden zu beurteilen? 

Maßstäbe aus dem (Verfassungs-)Recht 

Es gibt einen wichtigen Bereich der Gesellschaft, der sich schon immer mit dieser Problematik befassen muss – nämlich das Recht. Vielleicht hilft ein Blick auf das Recht im Allgemeinen und das Verfassungsrecht im Besonderen, um bei dieser Frage weiterzukommen. 

In nahezu allen Rechtsgebieten gibt es das Rechtsinstitut der Verjährung. Die Idee ist einfach: Die Zeit relativiert fast alles. Besonders deutlich wird das im Strafrecht. Nach Ablauf der Verjährungsfrist verfolgt und bestraft der Staat eine Straftat nicht mehr. Kein Täter muss für den Rest seines Lebens mit der Verfolgung seiner Tat durch die Justiz rechnen. Eine einzige Ausnahme gilt für Mord. Den hält der Gesetzgeber für eine so schlimme Tat, dass es keinen Verzicht auf Verfolgung und Bestrafung geben kann. Selbst Straftäter haben also das Recht auf eine zweite Chance. 

Das Strafrecht kennt auch ein weiteres rechtliches Instrument, das Straftätern eine zweite Chance gibt. Eine Strafe kann unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden. Bleibt ein Täter während der Bewährungsfrist ohne weitere Straftaten, ist seine Strafe damit abgegolten. Er muss keine Haft antreten. 

Recht auf Vergessen

In vielen Rechtsordnungen bedeutet eine lebenslängliche Strafe im wörtlichen Sinn lebenslänglich: Ein Täter kommt für den Rest seines Lebens in Haft. Das ist im Rechtsstaat des Grundgesetzes anders. Nach 15 Jahren kommt ein Täter in der Regel frei, auch wenn er zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die Strafe wird danach zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährung gilt allerdings lebenslänglich. 

Ein Beispiel aus einem völlig anderen Rechtsgebiet: Das europäische Datenschutzrecht kennt das sogenannte Recht auf Vergessen. Dahinter steht der Gedanke, dass negative Informationen über eine Person nicht ewig in der Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. Deshalb müssen persönliche Daten, die einen Menschen belasten, nach einiger Zeit gelöscht werden. Sie sollen vergessen werden können. 

Aus den erwähnten rechtlichen Instrumenten lässt sich ein Grundgedanke extrahieren. Jedenfalls das Recht räumt jedem eine zweite Chance ein. Wenn man das Recht als angewandte Ethik verstehen will, kann das nicht nur in der Causa Aiwanger eine Orientierung geben. 

Menschenwürde: Das Recht auf eine zweite Chance 

Dass jeder ein Recht auf eine zweite Chance hat, lässt sich aus der Verfassung ableiten. Die Verfassung – und damit die gesamte Rechtsordnung – wird von der Menschenwürde geprägt. Die Menschenwürde ist der fundamentale soziale Wert, den jeder Mensch hat, einfach, weil er Mensch ist. Jeder hat Anspruch darauf, dass dieser Wert von allen geachtet wird, völlig unabhängig davon, was für ein Mensch man ist. Es reicht, dass man ein Mensch ist. 

 

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Das hat eine Konsequenz: Niemand darf für immer stigmatisiert und auf Dauer aus der Gesellschaft ausgestoßen werden. Stigmatisierung und Ausstoßung waren probate – und barbarische – Mittel in archaischen Gesellschaften, um Regelverstöße zu bestrafen. Selbstverständlich werden auch im demokratischen Rechtsstaat Regelverstöße und Straftaten sanktioniert. Anders geht es nicht. Aber niemand wird auf Dauer stigmatisiert und ausgeschlossen. Das ist ein wichtiger zivilisatorischer Fortschritt, den wir nicht in hysterischen Diskussionen um die Jugendsünden von Politikern vergessen sollten. 

Jugendsünden als Normalfall 

Kein Mensch kommt als fertige Persönlichkeit auf die Welt. Menschen entwickeln sich in einem langen, anstrengenden und schwierigen Prozess. Das ist eine grundlegende Erkenntnis der Psychologie – und der jahrtausendealten Alltagserfahrung. Besonders heikel kann die menschliche Entwicklung in der Jugend sein. In dieser Phase suchen die Menschen ihre Identität und experimentieren. Sie reagieren oft viel zu impulsiv, haben aber gleichzeitig wenig Lebenserfahrung. Die Folge: Sie treffen völlig unüberlegte Entscheidungen, und sie gehen unvernünftige Risiken ein. Mit anderen Worten: Sie tun vieles, was sie später bereuen.

Die Psychologie lehrt uns aber: Jugendsünden sind notwendig und normal. Vor diesem Hintergrund ist es wissenschaftlich Unsinn, von Jugendlichen ein gefestigtes, wohldurchdachtes und vernünftiges Weltbild zu erwarten. Sie haben es in der Regel nicht. Und sie können es nicht haben. 

Darf man – wie es das Flugblatt macht – mit dem absoluten Schrecken der Judenvernichtung spielen? Das ist unerträgliches Nazi-Denken – und das darf man sicher nicht. Aber das ist das Wesen von Jugendsünden, dass sie gegen Regeln verstoßen – manche sind harmlos, manche schlimm und manche unerträglich. Solange Menschen sind, wie sie sind, wird sich das nicht ändern lassen. Jugendsünden gehören zur menschlichen Entwicklung dazu. Deshalb brauchen wir eine Kultur der zweiten Chance. Wer seine Jugendsünden hinter sich lässt und sich zu einer respektablen erwachsenen Persönlichkeit entwickelt, hat verdient, dass seine Jugendsünden vergessen und verziehen werden. Das gilt für Spitzenpolitiker – und für uns alle.

 

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