„Auf Videos keine Katastrophenlage erkennbar“ - SPD und Grüne in Rheinland-Pfalz: Kernschmelze von Verantwortung

Hätten die Behörden in Rheinland-Pfalz mehr unternehmen können, um Menschen in der Flutnacht im Ahrtal das Leben zu retten? Ja, das hätten sie – weswegen es im laufenden Untersuchungsausschuss auch um den Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung im Amt geht. Doch die heillos überforderte und ignorante Landesregierung will ihre Verantwortung bis heute nicht einmal dann erkennen, wenn sie überlebensgroß direkt vor ihr steht.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat die Verantworung, die ihre Staatskanzlei für die Todesopfer der Flutkatatrophe im Ahrtal trägt, bisher erfolgreich disloziert. / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Stellen Sie sich vor, Sie mussten sich vor den innerhalb weniger Minuten herantobenden Wassermassen bereits in das oberste Stockwerk Ihres Hauses retten und vom Dachfenster aus mit einer Taschenlampe SOS-Zeichen geben. Ein Polizeihubschrauber naht, filmt Sie, filmt auch Ihre ebenfalls bereits in Lebensgefahr befindlichen Nachbarn, filmt noch ein kopfüber in der rasenden Flutwelle treibendes und voll beleuchtetes Auto – und dreht wieder ab, mangels Seilwinde, wie es später heißen sollte. Die Besatzung holt auch nicht etwa Hilfe. Erst recht landet die insgesamt 40-minütige Videodokumentation – Stand jetzt, Änderungen vorbehalten – nicht unverzüglich dort, wo sie selbstverständlich hingehört: Im Lagezentrum des Landesinnenministeriums und von dort unverzüglich beim Minister. Es geschieht – so der aktuelle Stand aller Aufklärungsversuche – wenig bis nichts (sehen Sie hier: Polizei-Video 1, Polizei-Video 2 und Polizei-Video 3).

Dabei hätte dieses Material jedem Merkbefreiten mit Wahrnehmungsstörung schon nach oberflächlicher Sichtung klarmachen können und müssen, dass alles, was auf diesen sieben Filmen zu sehen ist, in jener Nacht kurz darauf, also nach 22:40 Uhr, auch in den weiteren Orten an der Ahr flussabwärts geschehen wird, eine nie gesehene Flutkatastrophe, die alles wegreißt und umbringt, was ihr im Weg steht. Doch es wird – Stand jetzt, Änderungen vorbehalten – behandelt wie ein beliebiger Aktenvermerk und verschwindet für über ein Jahr in irgendeinem nachgeordneten Behördenschreibtisch. So jedenfalls bis heute die Darstellung des verantwortlichen Dienstherren, Landesinnenminister Roger Lewentz, sowie einiger Beamter, die ihn durch das Eingeständnis eigener Versäumnisse zu entlasten versuchen. Die Menschen weiter flussabwärts bleiben ahnungslos und ungewarnt, bis dieser Binnentsunami auch sie innerhalb von Minuten einschließt und elend ertrinken lässt.

Lewentz will die Videos erst Ende August oder Anfang September erstmals zur Kenntnis genommen haben. Woher er dann aber bereits in der Flutnacht das Detail mit den SOS-Zeichen der Taschenlampen kannte, ein Faktum, das aus keiner anderen Quelle hervorgeht, außer eben diesen Aufnahmen, ist eine der vielen offenen Fragen, die seine Glaubwürdigkeit von Tag zu Tag mehr beschädigen. Noch problematischer seine jüngsten Einlassungen, nach denen er selbst im vollen Wissen um die Inhalte der Videos in der Nacht zum 15. Juli 2021 nicht im Mindesten anders gehandelt hätte, als er es tat. Zum einen sei, so Lewentz, das, was da gezeigt wird, zwar schon ziemlich schlimm, aber eben nicht wirklich schlimmer als frühere Hochwasser. Tote seien in den Aufnahmen nicht erkennbar, ein losgerissener, im Wasser treibender Tank löse bei ihm keine Bestürzung aus und ob in diesem kopfüber in der rasenden Ahr treibenden Auto noch Menschen eingeschlossen gewesen seien, lasse sich nicht erkennen.

Verheerendes Organisationsversagen der Staatskanzlei

Und selbst wenn, so der Innenminister in seinen aktuellen Ausführungen weiter, ihm diese Bilder eine andere, neue Qualität von Hochwasserkatastrophe hätten deutlich machen müssen, hätte er auch nicht anders agiert als in jener Nacht geschehen. Katastrophenschutz und -bewältigung sei nun einmal eine vor allem kommunale Angelegenheit. Nur vor Ort kenne man die in solcher Situation relevanten Gegebenheiten, Fließ- und Fluchtwege. Ein Innenminister könne da durch Übernahme der Einsatzleitung und Einmischung in fremde Kompetenzen alles nur noch schlimmer machen. Auf den Videos seien zudem Blaulichter erkennbar; die örtlichen Feuerwehren seien also bereits zur Stelle gewesen.

Jeden anderen Ressortchef hätten solche Vorgänge, Verhaltensweisen und Ausreden in einem halbwegs ordentlich geführten Bundesland längst das Amt gekostet. Nicht so in Rheinland-Pfalz. Lewentz ist nämlich zugleich auch Vorsitzender der rheinland-pfälzischen SPD und in dieser Funktion seit Jahr und Tag wichtigste Stütze und Bollwerk der Ministerpräsidentin. Und tatsächlich hat die mit dem Morgengrauen des 15. Juli 2021 bei Marie-Luise Dreyer einsetzende Dislozierung von Verantwortung für die Todesopfer, die Verletzungen, die Nicht-Warnungen, die Milliardenschäden und zerstörten Existenzen an irgendeinen Sankt-Nirgendwo-Ort, für ein verheerendes Organisationsversagen ihrer Staatskanzlei, bis vor kurzem perfekt funktioniert.

Ein nach eigener Einschätzung von Anfang an heillos überforderter und längst aus dem Amt ausgeschiedener Landrat sowie ein ihm zugeordneter Feuerwehrmann sollten der Mainzer SPD-Grüne-FDP-Koalition als willige Sündenböcke dienen. Dass die Grünen-Politikerin Anne Spiegel von ihrem Totalversagen als ehemalige Landesumweltministerin und Stellvertreterin von Dreyer vor, in und nach der Flutnacht im April 2022 noch in Berlin eingeholt wurde und als Bundesfamilienministerin zurücktreten musste, lag seinerzeit nicht etwa an neuen Erkenntnissen, sondern an der Macht von Bildern. Bilder, die sie allerdings, anders als nun Lewentz, selbst erzeugt hatte mit einem erratischen Live-Aufritt vor laufender TV-Kamera, woraufhin selbst ihre eigene Partei innerhalb von Stunden den Daumen senkte und sie ohne viel Federlesens durch eine robustere und noch radikalere Grüne ersetzte.

Die Koblenzer Staatsanwaltschaft spielte dieses miserable Blinde-Kuh-Spiel bisher 14 Monate lang mit und weigerte sich beharrlich, die Möglichkeit einer Ausweitung ihrer Ermittlungen auf höherrangige Instanzen und Personen auch nur einmal öffentlich anzudenken, mochten sich die Faktenlage und die Reaktionen der Führungsebene auch noch so niederschmetternd darstellen, dokumentiert durch seither vier staatsanwaltschaftliche Pressemitteilungen sowie eine ganze Reihe von Antworten auf schriftliche Anfragen von Cicero, die den Stand der Nichtermittlungen gegen Mitglieder der Landesregierung, amtierende wie ehemalige, etwa Anne Spiegel, stets aufs Neue bestätigten. Allerdings scheint in dieser Behörde mit dem 25. September, dem Tag, an dem die Staatsanwälte eine Kopie der Hubschrauber-Videos erhielten, ein Umdenken eingesetzt zu haben. Ein Umdenken mit eventuell gravierenden Folgen für die ganze Mainzer Ampel-Koalition.

Plötzlicher Eifer des Südwestrundfunks

SWR-Intendant Kai Gniffke, seit Studentenzeiten SPD-Mitglied, der sein 30.000-Euro-Monatsgehalt niemand anderem verdankt als Ministerpräsidentin Dreyer, die ihn 2019 in einem hinreichend klandestinen Verfahren als neuen Senderchef durchsetzte, fällt immer wieder durch ein merkwürdiges Verständnis von Journalismus auf, aber ein Dummer ist er gerade im Vergleich etwa zu den Kollegen von WDR und NDR nicht. Offenbar erkannte er unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Existenz kompromittierender Aufzeichnungen noch vor der Regierungschefin selbst, welche Gefahr von Innenminister Lewentz für Dreyer und die gesamte Landes-SPD ausgeht, warf den Hebel nach – auch dank eigener schwerer Versäumnisse in den Stunden vor und während der Katastrophe – überwiegend bräsiger und abwartender Behandlung um und ließ den Mann unter Dauerfeuer nehmen.

Natürlich wird Gniffke bestreiten, diesbezüglich auch nur eine einzige Anweisung gemurmelt zu haben. Aber wenn öffentlich-rechtliche Redakteure eines besitzen, dann ein ultrafeines Sensorium für hierarchieinduzierte Änderungen der Windrichtung. Und genau eine solche fand mit Beginn der letzten Septemberwoche statt. Dank SWR wurden die folgenden Fakten innerhalb weniger Tage zu unbestrittenem Allgemeinwissen, weshalb wir sie im Folgenden bedenkenlos als aktuellen Erkenntnisstand immer wieder wörtlich wiedergeben können.

Polizei filmte Menschen in Not       

Der Polizeihubschrauber flog am Abend des 14. Juli 2021 zwischen 22:14 und 22:42 Uhr die Ahr aufwärts. Deutlich auf den Aufnahmen zu sehen: überflutete Landstriche, Wasser, das bis zu den Dächern steht, Häuser, die komplett von den Wassermassen eingeschlossen sind. Und Menschen, die in größter Not versuchen, auf sich aufmerksam zu machen.

Anfangs hatte Innenminister Lewentz gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses Martin Haller (SPD) noch versucht, in der Ahnung der emotionalen Wucht dieser Bilder eine Veröffentlichung zu verhindern unter Verweis auf angeblich höherrangige Persönlichkeitsrechte angeblich identifizierbarer Personen. Nachdem aber nicht einmal der Landesdatenschutzbeauftragte dieser Behauptung folgen wollte und auch die Koblenzer Staatsanwaltschaft signalisierte, in der Hoffnung auf neue Zeugenhinweise neben den Medien durchaus auch selbst an einer Publikation interessiert zu sein, scheiterte die Lewentz-Haller-Argumentation innerhalb von nicht einmal 24 Stunden. Vielmehr musste Lewentz sich fragen lassen, ob er ernsthaft behaupten wolle, zwar eine nie dagewesene Flutwelle nicht als solche erkannt zu haben, die von einer Wärmebildkamera erzeugten weißen Flecken, die Gesichter einzelner Opfer mehr symbolisch darstellen, aber sehr wohl.

Spätestens dieser weitere erratische Blockadeanlauf zeigte Beobachtern, dass der Mann politisch und moralisch nicht zu retten und ab sofort vielmehr maximale Distanzierung angesagt ist.

Kommentar von CDU-Obmann Dirk Herber im Untersuchungsausschuss: Geben Sie mir die Dateien, die verpixele ich Ihnen innerhalb von zehn Minuten, während wir hier weiterarbeiten. In diesem Sinne geschah es dann auch: Das Innenministerium selbst machte vergangene Woche eine Reihe von Personen unkenntlich, aber ihre verzweifelten Versuche, sich mit Taschenlampen bemerkbar zu machen, sind nicht zu übersehen, und, so beteuert das Haus Lewentz, die Videos seien auch nicht geschnitten worden. Laut Polizei wurden die Ortschaften von Mayschoß bis Schuld mit dem Hubschrauber abgeflogen und gefilmt.

Wer hat die Filme wann gesehen?

Hätten die Behörden in Rheinland-Pfalz, so fragt nun auch der SWR, den Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtages zitierend, mehr unternehmen können, um Menschen in der Flutnacht das Leben zu retten? Hätten sie verhindern können, dass im Juli 2021 im Ahrtal mindestens 134 Menschen ums Leben gekommen sind und mehr als 700 weitere verletzt wurden? Das große Narrativ der Entscheidungsträger aus Politik und Behörden ab Landrat aufwärts bis eben zur Landesregierung in Mainz, sie hätten am Abend des 14. Juli nicht umfassend und genau genug gewusst, was im Ahrtal in jenen Minuten und Stunden vor sich geht, um angemessen handeln und wenigstens flussabwärts warnen zu können und zu müssen, steht nach Lage der Dinge dank der Videos vor dem Zusammenbruch. Womit die für jenen Personenkreis noch gefährlichere Frage in den Mittelpunkt rückt: Wer hat diese Videos wann gesehen?

Lagezentrum: Wir wussten von nichts

Am 23. September, vor zweieinhalb Wochen also, wurden die Filme unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Untersuchungsausschuss gezeigt. Die Abgeordneten, zunächst völlig perplex, dass solche Bewegtbilder überhaupt existieren und nun mit derartiger Verspätung eher zufällig vorgelegt wurden dank eines sieben Monate alten weiteren Aktenbeiziehungsbeschlusses von Freien Wählern und AfD, zeigten sich von den Inhalten anschließend regelrecht geschockt und tief berührt. Das Lagezentrum des Innenministeriums habe den Polizei-Hubschrauber zwar zu dem Flug aufgefordert, um sich in der Nacht ein Bild von der Situation zu machen, sagte daraufhin ein Beamter laut SWR aus. Die Videos hätten dem Lagezentrum in dieser Juli-Nacht dann aber nicht vorgelegen und er wisse auch nicht, wo sie hingekommen seien.

Rechtfertigungsversuche

Fünf Tage nach dieser denkwürdigen Sitzung, der von Beobachtern das Etikett eines Game Changers zuerkannt wurde, also einer entscheidenden Wende in der Aufklärungsarbeit des Landtages, versuchte das Landesinnenministerium eine Erklärung, warum die Videoaufnahmen bis vor kurzem nicht aufgefallen seien. Wiederum laut SWR hörte sich das an wie folgt: Als der Untersuchungsausschuss bei den Behörden zum ersten Mal Akten über die Vorgänge in der Flutnacht angefordert habe, habe das Gremium wegen der Masse an Daten darauf verzichtet, Videomaterial anzufordern. Der Ausschuss sei aber über deren Existenz informiert worden. Am 28. Oktober 2021, also rund dreieinhalb Monate nach der Katastrophe, sei eine Liste mit dem Hinweis auf die Videos an den Ausschuss geschickt worden, so das Innenministerium. Im Februar 2022 habe der Ausschuss die Filme angefordert. Die Hubschrauberstaffel sei davon ausgegangen, dass die Dateien abgeholt worden seien und die Polizei Koblenz sie habe. Dort hätten sie jedoch nicht vorgelegen. Erst durch eine neue Prüfung seien die Aufnahmen dem Innenministerium am 29. August 2022 bekannt geworden. Daraufhin habe das Innenministerium nach eigenen Angaben die Videos als vertraulich eingestuft und dem Ausschuss übermittelt.

Die CDU erklärte daraufhin, die Landesregierung hätte die Aufnahmen dem Untersuchungsausschuss selbstverständlich unaufgefordert und früher vorlegen müssen. Roger Lewentz erwiderte, auch er habe sie erstmals in der Sitzung vom 23. September gesehen, also keinen Moment früher als der Ausschuss. Nur war es sein Ministerium selbst, das die Aufnahmen des Polizeipräsidiums Koblenz dem Untersuchungsausschuss übergeben haben soll, und zwar – so der Landtag – vier Tage zuvor, also am 19. September. Lewentz' Erklärung dieser Merkwürdigkeit: Er habe sich die Videos bewusst nicht früher angeschaut, um nicht Gefahr zu laufen, sich vor seiner Zeugenaussage einen unzulässigen Vorteil zu verschaffen.
 

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Letztlich, so der Innenminister und SPD-Landesvorsitzende, spiele der Zeitpunkt der ersten Kenntnis des Materials durch ihn ohnehin keine Rolle, denn sie, die Kenntnis, hätte nichts geändert. Er sehe da zwar „ein ganz großes starkes Hochwasser“. Die „hauptausschlaggebenden Elemente für diese Katastrophe“ sehe er auf den Videos aber nicht: keine einstürzenden Häuser, keine Sturzflut und auch keine Toten. Er meine das nicht relativierend, fügte er – weiter nach Schilderung des SWR – hinzu. Aber das Ausmaß der Katastrophe, wie es am Tag danach sichtbar geworden sei, habe er auf den Videos nicht erkennen können. Damit hätten die Bilder „wohl nichts geändert“, wenn sie bereits in der Flutnacht bei ihm angekommen wären, denn man sehe auf den Videos auch Rettungskräfte, sagte Lewentz. Er hätte keine Hilfsmöglichkeit gehabt außer den Einsatzkräften, die ohnehin schon ins Ahrtal geschickt worden seien.

Der Innenminister versucht auf diese Weise dem Ausschuss klarzumachen, er könne sich bezüglich der Frage, wann er die Hubschrauberbilder erstmals zu Gesicht bekam, wieder entspannen, weil das auf die weiteren Abläufe und seine ganz persönlichen Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen keinerlei Einfluss gehabt hätte.

Widerspruch von Hydrologen

Nicht nur der Innenminister hat im Landtag mit einer mehr und mehr heiklen Beweislage zu tun. Auch Anne Spiegel (Die Grünen), damals verantwortliche Umweltministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin, sieht sich nun erneut dem Vorwurf ausgesetzt, ihr Haus und ihr nachgeordnete Behörden hätten nicht adäquat in den Stunden vor, während und nach der Flut agiert und reagiert. Ihr Staatssekretär und Vertrauter Erwin Manz (Die Grünen) sah in der Nacht ein wenig fern, trank noch ein Bierchen und ging dann zufrieden schlafen. Manz ist unbehelligt von jedem Ermittlungsverfahren nach wie vor im Amt. Seine damalige Chefin Spiegel ging zehn Tage nach der Katastrophe erst einmal für vier Wochen in Urlaub. Ihre spätere Verteidigung, sie habe sich auch von Frankreich aus zu Kabinettssitzungen zuschalten lassen, erwies sich als glatt gelogen.

Manz selbst hatte noch am Nachmittag vor der Katastrophe eine Pressemitteilung herausgegeben, nachdem da schon etwas aufs Land und seine Flusstäler zukomme, es ganz so schlimm aber schon nicht kommen werde. Fatal war das schon deshalb, als der SWR diese krasse Fehlinformation für bare Münze nahm und in den Nachrichten als gesicherte Tatsache verbreitete (obwohl auch der Sender es längst hätte besser wissen können und müssen). Als Manz noch vor 18 Uhr von den eigenen Leuten klargemacht wurde, dass er krass falsch liegt, unterließ er es, seine Pressemitteilung zu korrigieren – mit, wie man heute weiß, endgültig verheerenden Folgen.

Nach Überzeugung des als Sachverständiger geladenen Bonner Hydrologen Thomas Roggenkamp hat das rheinland-pfälzische Landesamt für Umwelt am Tag der Ahr-Flut erst spät und dann nicht ausreichend gewarnt. Trotz anderslautender Prognosen habe das Amt erst nach 17 Uhr die höchste Warnstufe ausgerufen. Das Hochwasser sei bis zuletzt unterschätzt worden. Der Aachener Professor Holger Schüttrumpf ergänzte, auf den Videos seien hohe Strömungsgeschwindigkeiten der Ahr zu erkennen, und zwar an der Farbe und Schlieren, die das Wasser gebildet habe. Sie zeigten extrem hohe Fließgeschwindigkeiten der Ahr an bestimmten Stellen, extrem hohe Wasserstände, Wellenbildungen sowie überströmte Brücken. Es handele sich um Effekte, die man sofort erkenne, so der Experte.

Der Aachener Hydrologe Holger Schüttrumpf vollendete den Verriss der Darstellungen und Wertungen des Innenministers und des Umweltressorts durch die Feststellung, bereits anhand der früher bekannten Fotos auf dem Minister-Handy sei klar zu erkennen gewesen, dass die Ahr eine hohe Fließgeschwindigkeit gehabt habe. Schüttrumpf: Angemessen wäre in solchen extremen Fällen eine Generalwarnung an die Bevölkerung im Sinne von „Rette sich, wer kann!“. Die gebe es im Ausland, in Deutschland aber leider nicht, obwohl sie hier dringend notwendig gewesen wäre.

Ich selbst, aufmerksam geworden bereits ab Montag durch Jörg Kachelmanns Warnungen auf Twitter, schickte meiner Herzallerliebsten in Bad Godesberg am Dienstag, 13. Juli 2021, um 12:37 Uhr eine E-Mail folgenden Inhalts:

„Falls Dein Autochen in der Tiefgarage steht, frag doch mal herum, ob die schon einmal voll Wasser gelaufen ist. Dann stellst Du es vielleicht lieber ins Freie, sogar irgendwo oben auf den Berg, aber weg von jedem Bach. Das gleiche gilt für den Keller. Empfindliche Dinge vielleicht hochstellen oder herausnehmen. Da könnte jetzt auch in Bad Godesberg allerhand herunterkommen.“

Das war 30 Stunden, bevor das Unheil an der Ahr seinen Lauf nahm, 40 Kilometer südwestlich von Bad Godesberg. Bis an den Rhein reichte der Binnentsunami dann nicht, aber wenn ein Laie anhand von lilafarbenen und eigentlich idiotensicheren Projektionen schon am Vortag erkennt, dass sich in der Gegend ein verheerendes Ereignis mit bisher unbekannten Folgen zusammenbraut, hätte es den Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hundertmal auffallen müssen.

Polizisten wollen Dienstherrn entlasten

Auf wenig Verständnis traf im Ausschuss auch ein Versuch zweier hochrangiger Polizeibeamter, ihren obersten Chef und Dienstherr vom Vorwurf einer Verschleppung oder Unterdrückung von Beweismitteln zu entlasten. Die Polizeipräsidenten Christoph Semmelrogge und Karlheinz Maron räumten ein, „dass die Polizei bezüglich der Videos gegenüber dem Untersuchungsausschuss schon vor dem Beweisbeschluss vom 29. August 2022 vorlagepflichtig gewesen wäre“, so ihr Statement, das die Pressestelle des Ministeriums am 30. September verbreitete. Allerdings seien hier ein „Dokumentationsfehler“ und ein „Missverständnis“ geschehen. Die Videos seien erst kürzlich auf der externen Festplatte eines Mitarbeiters der Hubschrauberstaffel gefunden worden. Es habe aber nie die Absicht gegeben, die Aufzeichnungen unzugänglich zu machen.

CDU-Landes- und Fraktionschef Christian Baldauf nannte diese Einlassungen „einen unanständigen Versuch von Lewentz“, von der eigenen Schuld abzulenken. „Lewentz hatte alle Informationen, die er brauchte, um eine Katastrophe historischen Ausmaßes zu erkennen. Er wusste von einstürzenden Häusern, von Menschen, die um ihr Leben kämpften – und handelte nicht.“ Statt in der Flut die Kommandobrücke zu betreten, so der Oppositionsführer, habe der Innenminister vom Ufer aus der Ferne zugesehen, wie das Schiff langsam untergegangen sei.

Erst der Beginn des großen Sterbens

Dazu muss man wissen, dass die vom Hubschrauber aus dokumentierten Ereignisse ja nur den Anfang des großen Sterbens im Ahrtal markierten. Das nahm in den Stunden danach richtig Fahrt auf. Insofern ist die Frage nach dem Kenntnisstand des obersten Katastrophenschützers, Polizei-, THW- und Feuerwehrchefs und seiner Schlussfolgerungen aus Fotos und Videos um 23 Uhr in der Flutnacht alles andere als theoretisch-akademischer Natur, um ihm irgendwie am Zeug zu flicken. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte man durch eine rechtzeitige Warnung in der Stunde vor Mitternacht unter anderem in Sinzig 20 Kilometer flussabwärts ab Mayschoß jene zwölf Menschen mit geistiger Behinderung in einem Heim der Lebenshilfe retten können, die alle bis zuletzt ahnungs- und schutzlos blieben und ertranken. Die Nachtwache habe es noch geschafft, einige Bewohner in den ersten Stock des Wohnheims zu bringen. „Als er die nächsten holen wollte, kam er schon zu spät“, sagte der Geschäftsführer des Landesverbands der Lebenshilfe Rheinland-Pfalz, Matthias Mandos, eineinhalb Tage später. Am Gebäude war da eine drei Meter hoch reichende Schlammschicht zu sehen, über die Fenster des Erdgeschosses hinaus.

Woraus folgt: Selbst eine Warnung eine halbe Stunde vor der Flutwelle hätte noch ausgereicht, alle Heimbewohner in Sicherheit zu bringen. Und zwischen dem Ende der Hubschrauber-Aufnahmen und der Katastrophe von Sinzig lagen da noch dreieinhalb Stunden.

Allerdings ergaben sich nach Recherchen von Focus online vom Juli 2022 aufgrund staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen erhebliche Widersprüche zu den Darstellungen von Heimleitung und Nachtwache im Vergleich zu jenen der örtlichen Feuerwehr, die die Abläufe in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen. Geeignet, den Landesinnenminister zu entlasten, sind sie nicht, denn es ist davon auszugehen, dass auch die Nachtwache von Sinzig nach einer flächendeckenden, unmissverständlichen und kompromisslosen Warnung anders reagiert hätte, als es laut Medien sich nun darstellt.

„Stelle fest: Sie verweigern Antwort“

Roger Lewentz selbst nutzt unterdessen jede Gelegenheit der Selbstverteidigung und Rechtfertigung seiner damaligen Entscheidungen und Vorgehensweisen. Legendär heute bereits jenes TV-Interview, das er dem SWR am Abend des 5. Oktober 2022 gab. Auszüge:

„Ich war ab dem Morgen danach nahezu jeden Tag dort [im Ahrtal] und habe das Leid und das Elend der Menschen hautnah gesehen. Ich habe aber auch diese Zerstörung gesehen, diese unvorstellbaren Zerstörungen, die - das wissen wir ja heute - Tsunami-ähnlich durch Flutwellen verursacht wurden. Wir haben in dem Video ein Auto - tatsächlich sind es bis zu 10.000 Autos gewesen. Wir haben viele zerstörte Häuser am nächsten Tag sehen müssen. In dem Video sieht man keine zerstörten Häuser.“

„Also, es gibt da ja eine klare Regelung: Der Katastrophenschutz ist kommunal, das heißt von den Verbandsgemeinden aufbauend auf die Ebene des Kreises. Und deswegen war ich in der technischen Einsatzleitung des Kreises. Dort kann man die Dinge vor Ort beurteilen. Dort kann man sagen, die und die Straßenzüge sind zu evakuieren. Dort und dort kann man gefahrlos hingehen, beim Evakuieren. Das sind Entscheidungen, da muss man die Ortskenntnisse haben.“

„Wir hätten nicht warnen können, weil wir die örtliche Situation nicht kennen. Wir wussten ja, dass das so ein schweres Hochwasser wird. Aber ich habe dieses Video 14 Monate später erstmals gesehen. Mir war dies nicht vorstellbar, was ich am nächsten Morgen sehen musste. Ich glaube, es ging allen so. Diese Zerstörungskraft! 62 Brücken, 10.000 Häuser, die beschädigt oder zerstört waren, in Mitleidenschaft genommen wurden. Die vielen toten und verletzten Menschen. Diese Vorstellungskraft hatte ich nicht in der Nacht. Ich vermute, die hatte keiner.“

SWR-Moderator Sascha Becker: „Treten Sie zurück, Herr Lewentz?“

Lewentz: „Herr Becker, ich kriege auch viele Aufforderungen ... die da lauten: Wir müssen nach vorne schauen. Wir erwarten von euch, von Ihnen im Innenministerium, dass der Wiederaufbau mit aller Kraft vorangetrieben wird. Dass wir wieder eine Zukunft bekommen, das ist ihre Verantwortung, Herr Lewentz: den Katastrophenschutz neu auszurichten ... Und auch an mich wird diese Erwartungshaltung geäußert. Und der will ich mich stellen.“

Moderator: „Das war aber keine Antwort. Schließen Sie aus, zurückzutreten? Wollen Sie das wirklich durchhalten?“

Lewentz: „Ich glaube, verantwortlich ist, zu helfen, dass die Zukunft der Menschen dort so gut wie möglich und so schnell wie möglich organisiert wird. Das ist die Aufgabe eines Innenministers.“

Moderator: „Schließen Sie einen Rücktritt aus, für die nächsten Wochen?“

Lewentz: „Das habe ich Ihnen gerade gesagt, das ist die Aufgabenstellung, der ich mich stellen möchte.“

Moderator: „Ich stelle aber fest: Die Frage nach einem Rücktritt beantworten Sie nicht.“

Ministerpräsidentin MaLu Dreyer (SPD) lehnt eine Entlassung ihres Innenministers unverändert ab. Die Staatskanzlei teilte dem Südwestrundfunk mit, die Ministerpräsidentin vertraue Roger Lewentz.

CDU-Obmann Dirk Herber brachte der Verlauf dieses Interviews auf die Idee, die Aufnahmen zu vergleichen mit Ansichten vor der Flut. Ergebnis: Erkennbar wurden ganze Häuser weggerissen. „Man muss auf Videos keine wegschwimmenden Häuser erkennen, aber man erkennt hinterher, dass sie nicht mehr da sind.“ Dass Lewentz nicht ortskundig sei, tue nichts zur Sache. Die Aussagen, in den Wassermassen seien keine eingestürzten Häuser zu sehen, zeuge von Lewentz Unfähigkeit, die Lage richtig einzuschätzen.

„Senioren gehen bei Alarm in Keller“

Nach verschiedenen Polizeibeamten unternahm am Wochenende auch der Präsident des Landesfeuerwehrverbandes einen Entlastungsversuch, „um Feuer aus der Debatte um die Rolle von Innenminister Roger Lewentz zu nehmen“. Frank Hachemer behauptet laut dpa, eine damalige Evakuierung des gesamten Ahrtals hätte wegen überlasteter Straßen und einer möglichen Massenpanik noch zu weitaus mehr Todesfällen führen können. Lewentz habe sich ja offensichtlich „durchaus“ um Informationen bemüht und auch die Technische Einsatzleitung des Kreises Ahrweiler am frühen Abend der Flutnacht aufgesucht. „Er hat also durchaus gehandelt.“ Viel mehr habe Lewentz nicht mehr machen können.
Lautsprecherwagen hörten nicht alle, zum Beispiel bei dreifach verglasten Schlafzimmerfenstern. Sirenentöne könnten nicht alle richtig interpretieren. Und Senioren gingen bei Sirenengeheul vielleicht wie im Weltkrieg in den Keller, „was bei einer Flut ganz falsch ist“. Wäre wirklich am Flutabend das gesamte Ahrtal evakuiert worden, hätte es nach Hachemers Einschätzung mehr als 1000 Tote geben können. Energischer Widerspruch von lokalen Feuerwehrleuten ließ nicht lange auf sich warten. Auf Facebook distanziert sich der Feuerwehrverband des Eifelkreises Bitburg-Prüm von den Äußerungen des Präsidenten Frank Hachemer.

Eiliger Bau einer medialen Brandmauer

Unterdessen bedarf es keines übertriebenen Misstrauens in die Arbeit öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten oder gar eines AfD-ähnlichen Vernichtungswillens, um in der aktuellen Vorgehensweise des Südwestrundfunks einen nicht uncleveren Versuch zu erkennen, zwischen Lewentz und dem Rest der Landesregierung sowie zwischen Lewentz und der rheinland-pfälzischen SPD eilig eine Brandmauer hochzuziehen, wenn schon Marie-Luise Dreyer das bisher aus irgendwelchen Gründen versäumt hat. Dazu sind die Indizien viel zu eindeutig, die Konzentration aller Berichts- und Aufklärungsbemühungen auf Lewentz viel zu auffällig.

Die Regierungschefin selbst und ihr übriges Kabinett inklusive des mindestens ebenso schuldigen Grünen-Teils sollen vom absehbaren Scheitern des Innenministers, der dann selbstverständlich auch als SPD-Landeschef nicht länger tragbar wäre, möglichst wenig beschädigt werden. Im Falle der Frau Spiegel hat das aus SPD-Sicht ja schon einmal hervorragend geklappt, wobei genau diese Sicht der Dinge bei den Grünen im Lande eine bis heute nicht wirklich verheilte Wunde geschlagen hat. Ob nach dem Sturz ihres zuletzt komplett vereinsamten Stars Anne Spiegel, etwa in der Fraktion, noch eine Rechnung gegenüber den Genossen offen ist, wird sich vielleicht schon bald zeigen.

Staatsanwälte verarscht man nicht

Vielleicht glaubt Regierungschefin Dreyer aber auch, sie brauche sich gar nicht selbst die Hände mit einer Entlassung von Lewentz schmutzig zu machen, weil dies demnächst ohnehin de facto die Koblenzer Staatsanwaltschaft für sie erledigen wird – per Ausweitung ihres Ermittlungsverfahrens, etwa auf Lewentz, mit allem, was daraus zwangsläufig folgt bis hin zu morgendlichen Durchsuchungen von Ministerium und Privatwohnsitz, was hierzulande kein Minister politisch zu überleben pflegt. Und genau das, eine Erweiterung des Kreises der Beschuldigten, behielten sich die Oberstaatsanwälte Harald Kruse und Dietmar Moll in ihrer Pressemitteilung vom 26. September ungefragt ausdrücklich vor. Die Rückfrage bei Moll bestätigt die Vermutung: Die Erkenntnis, dass das Innenministerium den Ermittlern über ein Jahr lang Existenz und Inhalt von hochrelevanten Beweismitteln wie Videos aus der Tatnacht verschwiegen und vorenthalten hat, schlug in Koblenz ein wie eine Bombe. Damit, das geht aus den Äußerungen der beiden bisher so vorsichtigen Staatsanwälte hervor, hätten sie nicht im Traum gerechnet.

Moll mochte gegenüber Cicero nicht einmal die Vermutung zurückweisen, seine Behörde fühle sich hier regelrecht verarscht, und das keineswegs lediglich von dem Innenministerium nachgeordneten Stellen wie etwa der Hubschrauberstaffel, zumal, so Moll, auch das im Auftrag der Koblenzer Staatsanwaltschaft konkret ermittelnde Landeskriminalamt bis zuletzt nichts von den Videos gewusst habe. Nein: Da ist bei den bisher geradezu bestürzend nachsichtigen Staatsanwälten etwas kaputt gegangen.

Roger Lewentz hat ein nicht näher definiertes Vertrauen verspielt, eine Gewissheit, dass man so etwas einfach nicht tut, wie es hier geschehen ist. Das könnte dem Mann jetzt auch juristisch den Rest geben. Oberstaatsanwalt Harald Kruse wörtlich: „Nach wie vor wird, wie stets betont, dem gesetzlichen Auftrag der Staatsanwaltschaft entsprechend wie in jedem Ermittlungsverfahren fortlaufend geprüft, ob Ermittlungen auch gegen andere als die bisher als Beschuldigten geführten Personen zu führen sein werden.“ Ergänzung Dr. Moll gegenüber Cicero: „An manchen Tagen prüfen wir das sogar fast stündlich.“

Unverändert gehe es hier um einen eventuellen Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung im Amt, jeweils begangen durch Unterlassen. „Nachträglich“, so Kruse, habe seine Behörde sieben Aufnahmen „übermittelt“ bekommen, die nun eingehend ausgewertet würden. Sie stammten nach derzeitigem Kenntnisstand aus der Zeit vom 14. Juli 2021, 22:14 Uhr, bis 15. Juli 2021, 06:09 Uhr - exakt übrigens der Moment, in dem Umweltministerin Spiegel in Kenntnis der verheerenden Folgen der Flutkatastrophe bereits begann, mit ihrem Pressesprecher Dietmar Brück zu diskutieren, wie man verhindern könnte, dass ihr das Katastrophenmanagement durch ein sozialdemokratisch initiiertes Blame Game (mit Lewentz als Auftraggeber) auf die Füße fällt. Brück versprach, umgehend „Anne eine glaubwürdige Rolle“ zu basteln und ein“Wording, dass man rechtzeitig gewarnt“ habe. Beides existierte zu diesem Zeitpunkt nicht, sonst hätte man es nicht künstlich herstellen müssen.

Fragwürdige SPD-Rolle im Ausschuss

Wie selektiv und unvollständig die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien gerade in dieser Sache unverändert ist, wobei das – ebenfalls in Mainz ansässige und mit noch viel mehr Manpower als der SWR ausgestattete – ZDF seit Juli 2021 wochenlang immer wieder total ausfällt und nur das Nötigste investiert, was sicherlich nichts zu tun hat mit dem Umstand, dass MaLu Dreyer soeben als Vorsitzende des mächtigen ZDF-Verwaltungsrates wiedergewählt wurde, in dem unter anderem alle wichtigen Personalentscheidungen ausgekungelt werden, zeigt ein Blick auf in der Region ansässige, mit viel Liebe und nur zu oft weitgehend ehrenamtlich betriebene Internetportale und Internetzeitungen.

So knöpft sich Willi Willig auf 56aktuell.de ausführlich das Rollenverständnis des SPD-Landtagsabgeordneten Martin Haller vor, von seiner Fraktion als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses durchgesetzt, um seinen Genossen das Schlimmste zu ersparen, was allerdings zusehends weniger funktioniert, weshalb die Schlagzeile „Der Vertuschungs-Ausschuss“ dem Gremium und seinen Resultaten erfreulicherweise von Woche zu Woche weniger gerecht wird. Laut Willigs Beobachtungen werde das „scharfe Schwert der Opposition“ U-Ausschuss unter Hallers Sitzungsleitung aber „eher zum Buttermesser, wahrscheinlich wäre ein Kinder-Kirmes-Schwert aus Plastik das treffendste Bild dazu“. Haller geriere sich „eher wie ein Anwalt der Landesregierung“, zuletzt sogar „als persönlicher Souffleur und Mentor des Innenministers“. Dabei lege er “völlig unterschiedliche Maßstäbe an – sowohl bei der Zeugenbefragung als auch bei den Nachfragen“. Zeugen würden, so Willigs Philippika, darauf hingewiesen, dass sie zwar Aufzeichnungen nutzen könnten, jedoch „möglichst frei sprechen sollen“ und lediglich auf im Beweisbeschluss genau definierte Fragen antworten dürften.

Für den Parteigenossen und Innenminister Roger Lewentz gelte dies alles aber offenbar nicht. Der dürfe, geduldet vom Vorsitzenden, ellenlang seine Einlassungen „Wort für Wort ablesen“. Haller habe noch nicht einmal eingegriffen, als Lewentz „schon auf die erste Frage aus dem Beweisbeschluss gar nicht antwortet, sondern möglichst viele Worthülsen um das eigentliche Thema herum platziert“. Und der Ausschussvorsitzende scheue nicht einmal davor zurück, „sogar mit eindeutig untersagten Suggestivfragen“ den Zeugen Innenminister auf dem Pfad der sozialdemokratischen Korrektheit zu halten, wenn dieser sich zu verplappern drohe. Komme dagegen eine Frage aus den Reihen von CDU, Freien Wählern oder AFD, dann, so Willi Willig, dauere es nur „Sekundenbruchteile bis zur Unterbrechung durch Haller“ wegen „unerlaubter Deutung, Auslegung, Wertung oder Wiederholung“.

Mainz&: Da fehlt noch etwas

Noch mehr lernen könnten die mit auskömmlichem Gehalt und schönen Pensionszusagen ausgestatteten Mitarbeiter von Qualitätsmedien von Gisela Kirschstein und ihrer Internetzeitung Mainz&, langjährige Journalistin, Filmemacherin und Buchautorin. Sie warf soeben die Frage auf, ob auch ein schriftlicher Einsatzbericht zum Hubschrauberflug dem Ausschuss vorenthalten worden sei. Der liege ihr exklusiv vor, brisant insofern, als er dem Lagezentrum des Innenministeriums noch in der Nacht übersandt worden sei, dem Ausschuss aber „offenbar bis vor zwei Wochen verborgen [blieb] – dabei hätte er im Aktenbestand des Innenministeriums zu finden sein müssen“. Inhalt laut Mainz&: „So stehen ab der Ortslage Dernau bis zur Ortslage Schuld, in fast allen Gemeinden entlang der Ahr, zahlreiche Häuser bis zum Dach im Wasser. Viele Bewohner konnten sich hierbei nur noch über Taschenlampen (Signalgebung SOS) bemerkbar machen, da nahezu überall der Strom ausgefallen ist. Darüber hinaus war es den Kräften der FFW [Freiwilligen Feuerwehren] aufgrund der starken Strömung nicht möglich, die angesprochenen Häuser mit Booten anzufahren.“

Kirschsteins Schlussfolgerung: „Die Hubschrauber-Besatzung des Polizei-Helis hat das Lagezentrum im Innenministerium in Mainz offenbar noch umfassender von seinem Erkundungsflug über der Ahr am Abend des 14. Juli 2021 berichtet als bisher bekannt.“

Dies sei im Zusammenhang zu sehen mit den unbestrittenen Fotos direkt auf das Handy des Innenministers, die die Orte Altenahr, Liers und Schuld aus der Luft völlig unter Wasser stehend zeigten. Trotzdem behaupte Lewentz nach wie vor, er habe in jener Nacht „nur punktuelle Informationen“ über die Lage an der Ahr gehabt. Damit sei „noch kein Lagebild für die gesamte Ahr“ gegeben. Gisela Kirschstein: „Tatsache ist aber: Der Polizeihubschrauber überflog am Flutabend die gesamte Ahr – von der Mündung bis hinauf nach Schuld am Oberlauf, und damit praktisch die gesamten 40 Kilometer des Ahrtals, die von den Fluten verwüstet werden sollten. Die Eindrücke ihrer Erkundungsmission schilderten die Piloten mündlich offenbar in gleich mehreren Telefonaten auch dem Lagezentrum im Mainzer Innenministerium.“

Anfangsverdacht fahrlässiger Tötung

Kommenden Mittwoch, so die Autorin abschließend, müsse sich Lewentz im Mainzer Landtag öffentlich verantworten, denn CDU und Freie Wähler hätten für den 12. Oktober eine ergänzende Sitzung durchgesetzt. Ab 15.15 Uhr müssten dann nicht nur Lewentz, sondern die gesamte Ampel-Regierung der Opposition Rede und Antwort stehen – eingeplant seien rund drei Stunden.

Es laufen Wetten, ob Roger Lewentz an jenem Nachmittag noch im Amt sein wird. Falls ja, ist das schlecht für Ministerpräsidentin MaLu Dreyer, falls nicht, erst recht, hat sie sich doch in eine ähnlich miserable Lage manövriert wie in Berlin die geschätzte Kollegin Franziska Giffey mit ihrem Wahlverantwortlichen und Vertrauten und Bausenator Andreas Geisel.

„Gott schütze Rheinland-Pfalz“ lauteten 1988 die Abschiedsworte von Bernhard Vogel, die den Beginn einer bis heute andauernden Oppositionszeit der rheinland-pfälzischen Union einleiten sollten. Gott schütze Rheinland-Pfalz. Wann immer das gegolten haben mag – in der Nacht zum 15. Juli 2021 gab es an der Ahr keinen Gott. Nur eine heillos überforderte und ignorante rot-grün-gelbe Landesregierung, die Verantwortung bis heute nicht einmal dann erkennt, wenn sie überlebensgroß direkt vor ihr steht.

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