Wahlen in der Türkei - Demokratie oder Erdoganistan

Erdogan hat geschafft, was keinem Präsidenten der Türkei vor ihm gelungen ist: Das Land ist so gespalten wie nie. Am Sonntag könnte seine Regentschaft nun endlich enden. Doch ob Sieg oder Niederlage: Viele Türken befürchten das Schlimmste.

Am Sonntag wird in der Türkei gewählt / picture alliance
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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„Ich befürchte das Schlimmste“ ist ein Satz, der in diesen Tagen in Gesprächen mit säkularen Türken oft zu hören ist. Einerseits sind die Chancen auf einen Regierungswechsel in der Türkei im Zuge der Wahlen am Sonntag so hoch wie selten in den letzten 20 Jahren. In Umfragen liegt das Oppositionsbündnis gegen Erdogan mit Kemal Kilicdaroglu als Kandidat vorne, sogar bei AKP-nahen Umfrageinstituten.

Andererseits dürfte sich Erdogan einmal mehr auf die Stimmen der Deutsch-Türken in Deutschland verlassen können. Und die Freude auf einen möglichen Regierungswechsel wird überschattet von Befürchtungen eines Bürgerkriegs. Wird Erdogan abgewählt – so sind sich viele sicher – folgen gewaltsame Auseinandersetzungen auf türkischen und vielleicht auch auf deutschen Straßen. Denn längst vereint Erdogan hier wie dort salafistische und gewaltbereite Extremisten, die ihm treu ergeben sind. 

Am Ende verlieren die Liberalen, die Frauen, die Kinder

„Ich befürchte das Schlimmste“, schrieb ich meinen deutschen Freunden im Jahr 2011 aus Istanbul. Ich war zu der Zeit für einen Forschungsaufenthalt im Rahmen meines Studiums am Bosporus. In zahlreichen Buchhandlungen lagen Bücher mit Titeln wie „Kochen für Muslime“ oder „Muslimische Kindererziehung“ aus. Das war ein Novum. Für uns säkulare Muslime, kemalistisch sozialisiert, waren es Vorboten einer neuen Ära, vor der wir immer gewarnt hatten. Als dann selbst linke Intellektuelle und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die AKP unterstützte und sich hinter ihre politischen Handlungen stellte, war Kemalisten des Landes klar, wohin die Reise gehen würde.

Im Nahen Osten – das zeigt die Geschichte eindrücklich – verlieren am Ende die Liberalen, die Frauen, die Kinder, die Intellektuellen, wenn die Politik religiöse Vorgaben macht. So auch in der Türkei. Aus einem ehemals nicht perfekten, aber für orientalische Verhältnisse vergleichsweise demokratischen und laizistischen Land, formten Erdogan und seine Handlanger in den darauffolgenden Jahren einen autokratische islamischen Staat – ganz im Sinne der Muslimbrüder, deren glühender Verehrer Erdogan ist.

Damit einher ging eine in der türkischen Geschichte einmalige Verhaftungswelle, der jeder zum Opfer fallen konnte, der sich regierungskritisch äußerte. Türkische Serien, Exportschlager in alle Welt, präsentierten zunehmend patriarchale Familienstrukturen. Vermeintliche Islam-Gelehrte wurden lauter und präsenter. Sie sprachen von der Sündhaftigkeit der Frau und legitimierten Kinderehen. Auch die Veröffentlichungen der Religionsbehörde wurden frauenfeindlicher. Die Türkei hat heute eine der weltweit höchsten Femizid-Raten. Und während Social-Media-Sperren die freie Kommunikation einschränkten, sahen sich türkische Ärzte zunehmend mit Gewalt durch Patienten und deren Angehörige konfrontiert. Es folgte ein einmaliger Brain Drain türkischer Ärzte ins Ausland.

Die Türkei ist so gespalten wie nie

Erdogan hat etwas geschafft, was keinem mächtigen Politiker der Türkei vor ihm gelungen ist: Die Türkei ist so gespalten wie nie. Dabei ist die Spaltung und das Auseinanderbrechen das größte Trauma des Landes. Nach dem Vertrag von Sevres von 1920 war die Türkei in mehrere Interessensgebiete der Alliierten aufgeteilt worden. Erdogan bediente wie kein anderer Politiker die Urängste der türkischen Nation und sprach von westlichen Mächten, die erneut eine Aufteilung der Türkei beabsichtigen würden. Mit diesem ewigen Schwur auf die Einheit konnte er ungebildete Wähler manipulieren und seine eigenen undemokratischen Taten verwischen. 

Wie hoch zudem das Gewaltpotential der Erdogan-Wähler mittlerweile ist, zeigte sich in den vergangenen Wochen. Fast täglich wurden Schüsse auf Parteizentralen der Opposition abgegeben. Auch Ekrem Imamoglu von der sozialdemokratischen CHP, der Oberbürgermeister von Istanbul, bekam die Machtdemonstrationen von AKP-Anhängern bei seiner Wahlveranstaltung im ostanatolischen Erzincan zu spüren: Schwere Steine verletzten Teilnehmer der Kundgebung. Aus Sicherheitsbedenken beendete Imamoglu die Kundgebung, während die Polizei die Angreifer gewähren ließ.
 

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Die Angriffe folgten wenige Tage, nachdem er von Politikern, die dem Regierungsbündnis angehören, zur Zielscheibe gemacht wurde. Darunter Devlet Bahceli, Vorsitzender der ultranationalistischen Partei der Grauen Wölfe. Süleyman Soylu, türkischer Innenminister, Parteifreund und enger Wegbegleiter Erdogans, verurteilte den Angriff auf Imamoglu jedoch nicht, sondern bezeichnete ihn stattdessen als „Provokateur“ und als „größten Betrüger der Geschichte“.

Tatsächlich gilt Imamoglu, der wie Erdogan vom islamisch-konservativ geprägten Schwarzmeer stammt, als Präsident der Zukunft, als Charismatiker, der es rhetorisch mit Erdogan aufnehmen kann und der von Kilicdaroglu im Falle eines Wahlsiegs auf seine künftige Rolle als Präsident vorbereitet werden könnte. Imamoglu punktet nicht nur bei kemalistischen Wählern, er genießt auch bei gläubigen Wählern wegen seiner fundierten Religionskenntnisse große Sympathien.

Sie präsentierte den Abgeordneten die Patronen

Schüsse auf mehrere Parteibüros der sozialdemokratischen Partei (CHP) und auf die Parteizentralen der IYI-Partei von Oppositionspolitikerin Meral Aksener, waren in den letzten Wochen auch im türkischen Parlament thematisiert worden. Aksener sprach Erdogan persönlich an, präsentierte den anwesenden Abgeordneten die Patronen, die auf ihre Parteizentrale abgefeuert worden waren und kündigte rechtliche Schritte gegen Erdogan an. Auch andere Oppositionsparteien, deren Büros Angriffen ausgesetzt waren, sowie Politiker wie Imamoglu und Kilicdaroglu, sehen Erdogan und seine radikalen Anhänger aus salafistischen sowie kurdisch-dschihadistischen Kreisen als Verursacher an.

Kurz vor den Wahlen bezeichnen AKP-Politiker und Erdogan selbst Oppositionelle, also Bürger, die einen Wechsel möchten, als „Terroristen“ und machten sie zur Zielscheibe des Volkszorns. Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Linke, Feministinnen, Minderheiten – ein beträchtlicher Teil der türkischen Bevölkerung wird für die AKP und ihre radikalen Bündnispartner, die von der türkischen Opposition wegen ihrer radikalen Tendenzen in ihrer Gesamtheit als „Taliban-Bündnis“ bezeichnet werden, zur „Bedrohung der Einheit der Nation“ erklärt.

Marginalisierung und Diffamierung

Hass und Gewalt wurden in der Regierungszeit der AKP, die die meisten politischen Gefangenen seit der Gründung der Republik verzeichnet, immer mehr zu einem politischen Instrument der Marginalisierung und Diffamierung anderer. Dabei holt sich Erdogan Unterstützung aus Kreisen der türkischen Religionsbehörde und von Geistlichen, die Kemalisten als „Religionsfeinde“ und AKP-Gegner als „Terroristen“ bezeichnen. Priester, die die Aufrufe von AKP-Politikern, ihre Gemeindemitglieder geschlossen zur Wahl Erdogans zu bewegen, Widerstand leisteten, wurden Konsequenzen wie Kündigungen oder Gewalt angedroht. 

Einmalig ist allerdings die Geschlossenheit der türkischen Opposition und der Rückhalt, den sie in der Bevölkerung genießt. Bei Wahlveranstaltungen, die von Hunderttausenden besucht werden, halten junge Menschen Plakate wie „Sie werfen mit Steinen, wir reichen ihnen Rosen“ in die Luft. Sie zeigen, dass sie anders als AKP-Anhänger nicht zu Gewalt bereit sind. Andere begrüßen Kemal Kilicdaroglu mit Plakaten wie „Herzlich willkommen, demokratischer Opa“. In Dutzenden Städten in allen Teilen des Landes, die das oppositionelle Sechserbündnis gemeinsam besucht, formen die Menschen mit ihren Händen Herzen und erklären ihre bedingungslose Unterstützung. 

Was im Falle einer Wiederwahl Erdogans droht

„Das ist der letzte Weltfrauentag, an dem du uns als Schlampen bezeichnest“, war auf Plakaten türkischer Feministinnen am Weltfrauentag zu lesen, den sie trotz Verbote seitens der Städte umsetzten. Erdogan und seine konservativen Politiker fielen in der Vergangenheit öfter mit verbalen Attacken auf weibliche Abgeordnete oder Feministinnen auf. Die Türkei verzeichnet unter der Regierungszeit der AKP den höchsten Anstieg an Gewalttaten gegenüber Frauen.

Es sind vor allem westlich orientierte, säkulare Frauen, die sich einen Regierungswechsel wünschen, weil sie wissen, was ihnen im Falle einer Wiederwahl Erdogans droht. Schon jetzt ließ ein Bündnispartner Erdogans, Fatih Erbakan von der islamisch-konservativen Yeniden Refah Parti, verkünden, dass die Lehrpläne das Jenseits priorisieren und eine islamische sowie moralische Jugend hervorbringen werden. Und der Weg dahin sei die Scharia.

Erdogans Bündnis-Partner von der kurdisch-dschihadistischen HÜDA-PAR kündigte derweil an, nach der Wahl mit „Islam-Feinden“ und „Feinden der Familienordnung und Moral“ abzurechnen. Erdogans Bündnis ist das konservativste der türkischen Geschichte. Der Begriff „Taliban-Bündnis“ stammt vom inhaftierten kurdischen Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas. 

Deutsch-Türken: Das Zünglein an der Waage

Auf die Stimmen der 1,5 Millionen Deutsch-Türken konnte sich die AKP bisher verlassen. Mittlerweile berichteten türkische Medien von Ungereimtheiten bei den Wahlen der Auslandstürken. Manchen seien Doppelwahlen ermöglicht worden, andere Stimmen seien für ungültig erklärt worden. Mit den Vorwürfen konfrontiert, erwiderte die Wahlbehörde, das sei kein Skandal, man habe das Problem ja gelöst.

Während Moscheen in Deutschland ihre Wähler in Bussen zum Konsulat fuhren, damit sie von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen konnten, ist eine ähnliche Organisation unter Säkularen Türken selten. Dennoch entsteht der Eindruck, dass es bei dieser Wahl, bei der es für viele um „alles“ geht, eine sehr viel höhere Wahlbeteiligung als in der Vergangenheit gegeben haben dürfte (in Deutschland wurde bis zum 9. Mai gewählt). Alevitische, kemalistische und andere Vereine, die sich nicht dem islamisch-konservativen Milieu zuordnen, forderten ihre Mitglieder, anders als die Jahre zuvor, zur Teilnahme an den Wahlen auf. 

Sicherheitspolitische Bedenken, auch in Deutschland

Der Ton der AKP gegenüber Oppositionellen hat sich in den letzten Wochen und Tagen also verschärft. Mehr denn je werden Politiker anderer Richtungen bedroht und zur Zielscheibe gemacht. Für die Tage nach den Wahlen rechnen Türken in Deutschland wie in der Türkei deshalb mit dem Schlimmsten.

Falls die AKP gewinnt, wird sie wohl ein klassisch orientalisches Land: Armut, Inflation, Brain Drain, Femizide, Kinderehen, Minderheitenverfolgungen, Pogrome. Inklusive einer Verhaftungswelle wahrscheinlich, die selbst die bisherigen in den Schatten stellt und einer Sprache, mit der die Hälfte der Bevölkerung zu Terroristen erklärt wird. Außerdem drohen bürgerkriegsähnliche Zustände, für die die Schüsse auf Büros der Oppositionspolitiker nur die Vorboten sein könnten. Falls die AKP gewinnt, wird es eine dunkle Türkei, in der die Herzlichkeit und das Lachen der Menschen von Argwohn und politischer Ohnmacht gekennzeichnet sein werden.

Keine Wahl, sondern ein geplanter Putsch

Verliert die AKP, rechnen viele damit, dass Erdogan und seine engsten Weggefährten der Opposition einen Putsch vorwerfen werden und das Militär und die Polizei Teile der Opposition verhaften könnten. Andeutungen, dass der 14. Mai keine Wahl, sondern ein geplanter Putsch sei, gab es in den vergangenen Wochen etwa seitens des Innenministers Süleyman Soylu. Aber auch in Deutschland wird es zu Auseinandersetzungen kommen, sind sich viele sicher.

Denn Teile der in Deutschland lebenden Auslandstürken gehören zu den nationalistischsten und konservativsten in Europa und der westlichen Welt. Hier ist auch die deutsche Politik gefragt, zu verhindern, dass Migranten, die nach Deutschland kommen, die Konflikte ihrer Heimatländer auf deutschen Straßen austragen. Ein erster wichtiger Schritt wäre es, wenn deutsche Parteien aufhören würden, auch in demokratiefeindlichen Kreisen um Stimmen zu werben. Und stattdessen verstärkt auf säkulare deutsche-türkische Verbände zugingen, um mit ihnen zu kooperieren. 

Persönliche Worte der Autorin

Ich habe meine Kindheit in der Türkei und in Deutschland verbracht. Deutschland ist meine Heimat, die Türkei das Land meiner lachenden Tanten, Cousins und Großeltern, die mich am Flughafen begrüßten. Das Land, in dem die Solidarität und die Herzlichkeit der Menschen und der Zusammenhalt unter Nachbarn überwältigend waren. Ein Land, in dem wir Mädchen und Frauen im Vergleich zu anderen Ländern des Nahen Osten keine Angst vor Kinderehen hatten. Ein Land, in dem Juden und andere Minderheiten des Landes von führenden Politikern nicht als „Abschaum“ bezeichnet wurden.

Doch die letzten 20 Jahre haben die fröhlichen, die herzlichen und solidarischen Türken erschüttert, ja, traumatisiert. Angst, Wut, Misstrauen und politische Ohnmacht sind heute allgegenwärtig. Ein Land, das von der überwältigenden Mehrheit seiner Bevölkerung wegen seiner beeindruckenden Landschaften und geografischen Vielfalt als Paradies auf Erden bezeichnet wird, wird leider regiert von denen, die dieses Volk mit der drohenden Hölle und angeblichen Feinden aus dem Ausland ängstigen. Für die, die wie ich das Privileg hatten, in zwei Ländern zuhause zu sein, wiegt der Verlust des einen Landes zwar schwer, aber wir haben noch eine Heimat, in der wir uns sicher fühlen.

Mein Appell an die deutsche Politik, dem sich säkulare türkische Demokraten und Angehörige von Minderheiten aus der Türkei und anderen Ländern des Nahen Ostens anschließen dürften: Lassen Sie nicht zu, dass in Deutschland die gleichen dunklen Mächte die Deutungshoheit über muslimisches und migrantisches Leben gewinnen. Für Sie wie für uns stehen der Verlust der Demokratie und unserer Sicherheit auch hier auf dem Spiel – und unsere schönen Erinnerungen an unsere Kindheit in ehemaligen Ländern der Freude und Solidarität.

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