Verteidigungspolitische Richtlinien - Die neue Kriegstüchtigkeit

Kriege sind nach Europa zurückgekehrt, und Deutschland und seine Verbündeten müssen sich wieder mit militärischen Bedrohungen auseinandersetzen. Kriegstüchtigkeit heißt das Schlagwort. Auf große Worte müssen jetzt sinnvolle Taten folgen.

Rekruten kommen zum feierlichen Gelöbnis zum 68. Gründungstag der Bundeswehr / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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In den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius jüngst erlassen hat, wird mit der veränderten Rolle Deutschlands in Europa und der Welt argumentiert. Die Verstörung ist gewollt. Schon seit Tagen trägt der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt das Wort „Kriegstüchtigkeit“ auf den Lippen. Nun hat er es in einer Rede so häufig wiederholt, dass es auch dem letzten seiner Zuhörerinnen und Zuhörer nicht entgangen sein kann. 

Etwas markig und zu weit gegriffen kommt auch die Formulierung daher, dass sich die Rolle der Bundeswehr „fundamental“ geändert habe. Fehler werden in der Vergangenheit ausgemacht: „Als Staat und Gesellschaft haben wir die Bundeswehr jahrzehntelang vernachlässigt“‚ so haben es der Verteidigungsminister und sein Generalinspekteur Carsten Breuer im gemeinsam verfassten Vorwort formuliert. Vieles klingt fanfarenhaft: es ist eine fundamentale Anklage an die Prioritätensetzung aller Bundesregierungen bis zur Ausrufung der Zeitenwende im Februar 2022.

Ein ramponiertes Gut

Damit ist zugleich das Dilemma beschrieben, in dem Pistorius steckt und das ihn ganz offenkundig umzutreiben scheint. Nach weitgehend übereinstimmendem Urteil aller Beobachter hat er seinen Job bislang gut gemacht. Er strahlt Ernsthaftigkeit und Überlegtheit aus, vermittelt den Eindruck, zugleich zupackend zu sein und zuhören zu können. Der Bundeswehr hat er neues Selbstvertrauen eingeflößt, ein für die Erfüllung des besonderen Auftrages, der den Einsatz von Leib und Leben erfordert, notwendiges und leider in den letzten Jahren allzu sehr ramponiertes Gut.

Die Bundeswehrtagung, die bis morgen stattfindet, dient der Selbstvergewisserung des Auftrages nach innen und der Darstellung nach außen. Die Erwartungen, insbesondere in den Reihen der deutschen Streitkräfte, an ministerielle Gestaltungsvorgaben sind hoch. Es geht um Orientierung und Verlässlichkeit, und es geht um die nächsten Schritte. 

Worte indes verpuffen, wenn ihnen keine Taten folgen. Der Auftritt des Bundeskanzlers bei der Bundeswehrtagung ist ein Zeichen der Wertschätzung, und die von Olaf Scholz getroffene Aussage, er habe die Bundeswehr in den vergangenen Monaten häufig besucht, „weil es mir wichtig ist, nachzuvollziehen, wie die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit und der Bundeswehr vorankommt“, ist in der Wertigkeit nicht hoch genug einzuschätzen. Ein Regierungschef, der den Streitkräften politischen Rückhalt versichert und im Gespräch bleiben will, ist der Idealfall. Das war in der Vergangenheit nicht immer so.

Worin bestehen die neuen Akzente?

Verteidigungspolitische Richtlinien sind ein strategisches Grundlagendokument, das den nationalen Anspruchsrahmen definiert und verbindlich für die daraus abzuleitende Konzeption der Bundeswehr ist. Es verwundert, dass sie keinen Bezug auf die im Juni dieses Jahres verabschiedete Nationale Sicherheitsstrategie nehmen. Damit entwerten sie den strategischen Anspruch, der an ein nationales Dachdokument auf strategischer Ebene gestellt wird und bekräftigen die kritischen Fragen danach, wie ernst es Deutschland wirklich mit der Zeitenwende meint.

 

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Worin bestehen nun die neue Akzente der jetzt vorgelegten Verteidigungspolitischen Richtlinien, die auf künftige Veränderungen im Fähigkeitsprofil, in der Ausrüstung, im Personalkörper und in der Wehrform schließen lassen? Die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen wird wie in dem Vorgängerdokument aus dem Jahr 2011 betont, der Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung in allen Planungskategorien als „handlungsleitend“ bezeichnet. Das Bekenntnis zur Gesamtverteidigung wird erneuert, und die Dauereinsatzaufgaben, wie die Sicherheit im Luftraum, im Cyber- und Informationsraum sowie die Weltraumnutzung „werden aufgrund zivil-militärischer Schnittstellen ressortübergreifend oder gegebenenfalls sogar ressortübergreifend“ etabliert. 

Welche organisatorischen Veränderungen dies in der Bundesregierung nach sich ziehen wird, ist eine spannende Frage, auf deren Antwort wir in den nächsten Wochen hoffen dürfen. Bisweilen kommt in dem Dokument auch eine bürokratische Sprache zum Vorschein, etwa, wenn davon die Rede ist, dass die Rolle Deutschlands als „Anlehnungspartner für Verbündete ... weiter auszugestalten“ sei. Auch hier wird Entscheidendes von der Umsetzung abhängen.

Gestanzte Bürokratensprache am Ende

Die Grundsatzrede des Ministers auf der Kommandeurtagung, von der weitere Aufschlüsse darüber, wie er die Bundeswehr, aber auch das Ministerium für die Zukunft aufgestellt sieht, bleibt jedoch hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. Der Eindruck jedenfalls, dass der fest im Sattel sitzende Minister sich schon ganz in den Fängen seiner Status quo-orientierten Bürokratie wiederfindet, hat weitere Nahrung bekommen. 

Ein größerer Umbau des Ministeriums und des nachgeordneten Bereichs, den man nach neun Monaten hätte erwarten können, ist ausgeblieben. Die angekündigten organisatorischen Veränderungen im Ministerium, auch der Umstand, dass das Grundsatzdokument der Verteidigungspolitischen Richtlinien abrupt mit Selbstverteidigungsbemerkungen zu Rüstungspolitik und Beschaffung in gestanzter Bürokratensprache endet, verheißt wenig Gutes. 

Forderung eines Mentalitätswechsels

Indes nur die Forderung nach einem Mentalitätswechsel zu erheben, ist zu einfach. Den Mentalitätswechsel in der Praxis herbeizuführen, ist eine Aufgabe, für die zunächst die Staatsführung, und das heißt die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien als ganzes die Voraussetzungen stellen und die sodann in Bundeswehr und Gesellschaft nachvollzogen werden müssen. Die strategischen Herausforderungen an die Bundeswehr als Instrument deutschen Sicherheitspolitik werden weiter steigen. Die eigentlichen Bewährungsproben stehen Bundesminister Pistorius noch bevor.

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