Vereinigtes Königreich im Dauerstreik - God save the NHS!

In Großbritannien streikt am Mittwoch und Donnerstag das Krankenpersonal wegen unter anderem gestiegenen Miet- und Lebensmittelpreisen für 19 Prozent mehr Lohn. Nach 12 Jahren konservativer Regierung steht der öffentliche Gesundheitsdienst vor dem Zusammenbruch.

Krankenpfleger streiken vor einem Universitätsklinikum in London / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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„Wem geht es am schlechtesten? Uns oder den Franzosen?“, trompetet Times Radio vor dem „schwarzen Donnerstag“: „Wo werden die schlimmsten Streiks erwartet?“ In Frankreich stehen am Donnerstag die Züge still. Reisende nach London sprangen deshalb noch schnell am Mittwoch auf den Eurostar, um unter dem englischen Kanal hindurch noch rechtzeitig nach London zu kommen. Im Vereinigten Königreich dagegen ging es schon am Mittwoch mit neuen Streiks im Gesundheitsdienst NHS los. In jedem vierten Krankenhaus streikt am Mittwoch und Donnerstag das Krankenpersonal.

Der negative Wettbewerb ist im Januar 2023 eine traurige Disziplin in den europäischen Wirtschaften. Das Vereinigte Königreich ist besonders hart getroffen. Die Inflation liegt nach neuesten Daten bei 10,5 Prozent. Mit steigenden Mieten und Lebensmittelpreisen – dort liegt der Preisanstieg bei 14 % – können sich gerade im öffentlichen Gesundheitsdienst viele ihr Leben – und ihre Arbeit – nicht mehr leisten. Die Krankenschwestern fordern derzeit 5 Prozent über der Inflation bei Nahrungsmitteln, also 19 Prozent mehr Lohn. Die britische Regierung hat in Verhandlungen mit der Gewerkschaft aber durchschnittlich nur 4,5 Prozent angeboten.

Rettungswägen mit Notfällen werden abgewiesen

„Es ist nicht so, dass Patienten sterben, weil wir streiken“, sagt Pat Cullen: „Wir streiken, weil Patienten sterben.“ Die Generalsekretärin der Gewerkschaft Royal College of Nursing, die 300.000 Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen vertritt, weist darauf hin, dass tausende Jobs in den englischen Krankenhäusern unbesetzt sind, weil die Regierung an den Gehältern spare. Die Regierung kontert, sie habe sich an die Empfehlungen einer unabhängigen „NHS Pay Review“-Körperschaft gehalten. 

Tag und Nacht liefern sich Regierung und Gewerkschaft Schlagabtäusche via Medien. Langsam nähert man sich aneinander an. Pat Cullen hat angedeutet, der Regierung entgegenzukommen. Gesundheitsminister Steve Barclay untersucht derzeit die Option, die für 20-232024 angekündigten Lohnerhöhungen, die erst für April gelten sollten, auf Januar vorzuziehen. Gibt es keine Einigung, soll Anfang Februar wieder gestreikt werden. 

Notfälle sind von den Streiks nie betroffen. Aber die Wartezeiten in den englischen Krankenhäusern, die ohnehin oft lang sind, dehnen sich unter den Streiks auf Tage aus. Arzttermine müssen abgesagt werden. Auch Rettungswägen stehen oft mit Notfällen vor den Eingängen und können Patienten nicht abladen. 
 

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Im Vereinigten Königreich ist die Verwaltung des Gesundheitssektors Aufgabe der vier Nationen. Der jetzige Streik gilt für England und Wales. Schottland macht seine eigenen Regeln, hat 7,5 Prozent Lohnerhöhung angeboten und hat zudem die vom britischen Gesundheitsminister Steve Barclay überlegte Variante, Erhöhungen vorzuziehen, für Schottland bereits implementiert. In Nordirland gibt es derzeit nicht einmal eine eigene Regierung.

Für die britische Regierung unter Tory-Premier Rishi Sunak ist der Streik des Krankenpersonals nur eine von vielen Baustellen. Auch Züge stehen im Vereinigten Königreich immer wieder still. Die Konservativen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, seit 2010 mit ihrer Sparpolitik die öffentlichen Dienste kaputtgespart zu haben. Sunak – der reichste Abgeordnete im Unterhaus dank seiner eigenen Karriere im Finanzsektor und des Erbes seiner Frau – wollte partout die Frage nicht beantworten, ob er lieber eine private Krankenversicherung in Anspruch nimmt als sich öffentlich behandeln zu lassen.

„Niemand will die Büchse der Pandora wieder öffnen“

Da hat es der Chef der oppositionellen Labour Party einfacher. Keir Starmer antwortete am Sonntagvormittag in einer BBC-Talkshow sehr knapp auf die Frage, ob er jemals eine private Krankenversicherung hatte: „Nein.“ Starmer konzentriert sich bei öffentlichen Auftritten und inhaltlichen Diskussionen um größtmögliche Unauffälligkeit, um seine Chancen bei den nächsten Wahlen nicht durch kontroversielle Politiken zu gefährden.

„Niemand will die Büchse der Pandora wieder öffnen“, sagt auch Nick Thomas-Symonds, der Schattenminister der Labour-Partei für internationalen Handel. Während man sich in Sachen Streiks auf die Seite der Gewerkschaften und Arbeitnehmer stellen kann und damit auch sicherem Labour-Boden steht, ist das andere große Thema dieses Winters viel heikler für die Opposition auf ihrem Weg nach Downing Street: der Brexit. Obwohl inzwischen klar ist, dass der Austritt aus der EU für die britische Wirtschaft enorm schädlich ist, will auch Labour nicht an einen Weg zurück in die EU denken: „Niemand will die Debatte wieder eröffnen, es war zu traumatisch.“ Die Parlamentarier hätten 2017 und 2018 nichts anderes getan, als über den Brexit zu streiten.

Konservative Regierung stürzt in Umfragen ab  

Labour möchte lieber die Wähler in der roten Wand im Norden Englands zurückgewinnen. 2019 waren die linken Brexit-Befürworter zu Boris Johnsons Konservativen gewechselt und hatten ihm eine große Mehrheit beschert. Für die nächsten Parlamentswahlen 2024 stehen die Chancen derzeit gut. Die Umfragewerte für die Opposition sind ausgezeichnet, Labour liegt laut Institut YouGov mit 22 Prozent vor den Tories bei 47 Prozent Zustimmung. 

Der Absturz der Beliebtheit der konservativen Regierung wirkt sich auch jetzt bei den Streiks des Krankenpersonals aus. Clint Cooper, ein Krankenpfleger aus der Kardiologie im Scarborough Hospital, macht zwar beim Streik nicht mit: „Ich will meine Patienten nicht allein lassen.“ Doch er solidarisiert sich trotzdem mit den Kolleginnen und Kollegen: „Im Prinzip unterstütze ich ihre Anliegen.“ Er bekennt im Interview mit der BBC, zwar sein ganzes Leben für die konservative Partei gestimmt zu haben. Aber: „Ich kann meine Stimme nicht mehr den Tories geben. Denn die NHS ist in der Krise.“

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