Obdachlosigkeit in den USA - Zwangsbehandlungen gegen ein strukturelles Problem

In New York und anderen großen Städten der USA versuchen Politiker, die Obdachlosenkrise unter anderem durch Zwangseinweisungen psychisch kranker Obdachloser zu entschärfen. Denn viele dieser Menschen leiden unter psychischen Problemen. Daran gibt es massive Kritik.

Obdachlose wohnen in einem Zelt in New York City / picture alliance
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Autoreninfo

Lisa Davidson ist Journalistin, freie Autorin und Podcast-Host. Sie lebt in Virginia, USA. 

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Die Obdachlosigkeit in den großen Städten der USA ist eine langsam rollende Krise, die immer gravierender wird. Während die Hintergründe facettenreich sein können, spielen psychische Erkrankungen häufig eine Rolle. Laut Angaben der American Psychiatric Association leiden knapp 20 bis 25 Prozent der Obdachlosen in den Vereinigten Staaten unter schweren psychischen Problemen. In der Gesamtbevölkerung sind es um die vier bis sechs Prozent. Psychische Probleme sind in dem Zusammenhang aber nicht nur ein Prädiktor. Obdachlosigkeit verschlimmert und erhöht das Risiko für psychische Probleme auch. 

Doch wie sollen schwer psychisch kranke Menschen, die auf der Straße oder in der U-Bahn leben, und die Behandlung mit Medikamenten verweigern, untergebracht und behandelt werden? Diese Frage stellen sich aktuell immer mehr US-amerikanische Politiker und suchen entsprechend nach Antworten. Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom etwa hat kürzlich ein Gesetz unterzeichnet, das die Zwangsbehandlung von Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen erleichtert. Die New York Times berichtete, der Bürgermeister von Portland, Oregon, erwäge ähnliche Maßnahmen. Und in New York City hat der Appell von Bürgermeister Eric Adams für unfreiwillige Einweisungen Obdachloser eine kontroverse Debatte ausgelöst.

Die Wurzeln der amerikanischen Obdachlosenkrise

Wer das Ausmaß der Obdachlosenkrise verstehen will, muss einen Blick in die Geschichtsbücher werfen. Denn die Wurzeln des Problems lassen sich bis zur Deinstitutionalisierungsbewegung Mitte des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen. Damals führte ein vehementer Kampf um Bürgerrechte, einhergehend mit einer Hoffnung auf neue Behandlungsmethoden zur Schließung jahrzehntealter öffentlicher psychiatrischer Krankenhäuser. Was als Durchbruch für Bürgerrechte angesehen wurde, führte gleichwohl dazu, dass Patienten mit Schizophrenie und anderen psychischen Erkrankungen von heute auf morgen entlassen und damit sich selbst überlassen wurden. 

Im Laufe der Zeit bekamen ehemalige Patienten dann zunehmend Probleme bei der Wohnungssuche oder bei der Suche nach anspruchsvollen Betreuungsdiensten. Das Resultat: Landesweit landeten Tausende von ihnen auf der Straße oder in Notunterkünften, Gefängnissen und Notaufnahmen. Einige wurden zu einer Gefahr für sich selbst und andere.
 

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Ereignisse der vergangenen Jahre haben sich negativ auf die bereits zuvor brenzlige Notlage ausgewirkt. Die Corona-Pandemie, der rasche Anstieg der Lebenshaltungskosten in den USA und die unzureichende Behandlung psychisch Kranker haben das Obdachlosigkeitsproblem verschärft. Einige US-amerikanische Politiker gehen sogar so weit, psychisch instabile Menschen für den Anstieg bestimmter Arten von Kriminalität verantwortlich zu machen.

New York City ist dafür das perfekte Beispiel. Das neue Programm, mit dem Bürgermeister Adams den hartnäckigsten und am deutlich sichtbarsten Kern der amerikanischen Obdachlosenkrise angehen will, soll der Schlüssel zum Erfolg sein. Im Mittelpunkt stehen dabei Menschen, von denen bekannt ist, dass sie aufgrund unbehandelter psychischer Erkrankungen ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können. Adams spricht in dem Zusammenhang davon, dass die Stadt eine „moralische Verpflichtung“ habe, hier einzugreifen.

New York ist zwiegespalten im Kampf gegen die Obdachlosigkeit

Doch so einfach ist es nicht. Und der teils deutliche Widerstand zeigt, was für New York und den Rest der USA auf dem Spiel steht. Ein praktisches Problem ist beispielsweise der erhebliche Mangel an psychiatrischen Krankenhausbetten und Unterkünften, die psychisch Kranke angemessen behandeln können. Zudem könnte das resolute Eingreifen bereits instabile Personen weiter traumatisieren. Die Gefährdung ihrer bürgerlichen Freiheiten kommt noch hinzu. 

Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Kritik an Adams selbst, sondern auch die Argumente, die gegen seinen politischen Kurs in der Sache formuliert werden. Liberale Politiker und gemeinnützige Gruppen, die sich um Obdachlose kümmern, schlagen ebenso Alarm wie die New Yorker Polizei, die dafür verantwortlich ist, solche Zwangseinweisungen durchzuführen.

Polizisten sind keine Gesundheitsexperten

Öffentliche Proteste gegen die Behandlung von Zivilisten durch die Polizei, die Inflation und die relativ niedrige Bezahlung haben die Moral untergraben und zu einem zunehmenden Mangel in den Reihen des New York Police Departments geführt. Laut New York Times behauptet Patrick J. Lynch, der Präsident der größten New Yorker Polizeigewerkschaft, dass die neue politische Ausrichtung der Stadt eine Belastung für ein bereits stark unterbesetztes, überarbeitetes und eben auch unterbezahltes Polizeiwesen sei.

Zudem stellt sich die Frage, ob Polizeibeamte überhaupt die entsprechende Ausbildung und das medizinische Verständnis haben, schwer psychisch Kranke von der Straße zu holen. Polizisten werden nicht als Gesundheitsexperten ausgebildet, und Begegnungen mit psychisch kranken Menschen können schnell zu Konflikten führen oder gar eskalieren.

Sind Obdachlose der Grund für New Yorks Kriminalität?

Bei der Debatte um die steigenden Obdachlosenzahlen und die Zwangseinweisungen psychisch Kranker sollte Adams Hintergedanke nicht vergessen werden: der Kampf gegen die Kriminalität in den U-Bahnen New Yorks. Laut CNN haben die Straftaten in der New Yorker U-Bahn um  40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Während es sich bei den meisten Vorfällen um Diebstahl von Smartphones oder Taschen handelt, haben auch Raubüberfälle und Körperverletzungsdelikte merklich zugenommen, um knapp 34 Prozent respektive 17 Prozent. Dabei sind Obdachlose selbstverständlich nicht ausschließlich für die steigende Kriminalitätsrate verantwortlich. Zudem gehen Forscher davon aus, dass nur ein kleiner Prozentsatz der schweren Verbrechen auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind.

Letztlich mutmaßen Historiker, die sich seit Jahrzehnten mit der Verbindung von Obdachlosigkeit und psychischen Erkrankungen in New York befassen, dass Adams' Initiative lediglich eine Art Wiederholung gescheiterter ähnlicher Bemühungen früherer Generation sei. Denn New York hat seit langem die Möglichkeit, schwer psychisch Kranke, die gewalttätig werden oder sich in einer akuten psychiatrischen Krise befinden, zur Behandlung in Krankenhäuser einzuweisen. In der Praxis wurde dies Möglichkeit bisher aber kaum angewendet. 

Selbst wenn sich dies bald ändern sollte, wird das Problem aber auch nur kurzfristig umgeleitet. Für einen kurzen Zeitraum kommen Obdachlose in Notaufnahmen und Notunterkünfte, landen hinterher aber wieder in den Gassen New Yorks. Um das Problem bei der Wurzel zu packen, bräuchte es eigentlich strukturelle Lösungen, die auch Probleme wie den Mangel an Wohnraum und die Finanzierung von Unterstützungsprogrammen angehen. Sonst kann die Obdachlosenkrise weder in New York noch in anderen Teilen Amerikas gelöst werden.
 

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