US-Geheimdienstdokumente zum Nord-Stream-Anschlag - „Wir müssen jetzt auf Aufklärung drängen“

Neue Recherchen und geleakte Dokumente weisen darauf hin, dass es Vorwissen über den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline gegeben hat. Der Militärexperte Ralph Thiele spricht im Cicero-Interview über mögliche Täter, die Quellen von Seymour Hersh und politische Konsequenzen.

Aufnahme der schwedischen Küstenwacht am Tag des Nord-Stream-Anschlags, 27. September 2022 / dpa
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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Oberst a. D. Ralph Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin. Er diente unter anderem im Planungsstab des Verteidi­gungsministers, im Private Office des Nato-Oberbefehlshabers sowie als Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr. Thiele ist Herausgeber des Buches „Hybrid Warfare“ ( 2021 ).

Herr Thiele, aus geleakten US-Geheimdokumenten, über die unter anderem die Washington Post berichtet, geht hervor, dass die US-Regierung bereits im Juni 2022 – also drei Monate vor dem Anschlag – von einem ukrainischen Plan erfahren hat, die Nord-Stream-Pipeline zu sprengen, und die Bundesregierung darüber informiert hat. Wie glaubwürdig sind diese Dokumente?  

Ich gehe davon aus, dass hier echte Dokumente kopiert wurden, die das wiedergeben, was auch im Pentagon oder in den Geheimdiensten zirkuliert. Das sind echte Dokumente. Die wurden schließlich kritisch geprüft, und am Ende musste dann stillschweigend konzediert werden, dass sie eben echt sind.   

Es heißt in diesen Dokumenten, dass die USA von einem europäischen Verbündeten von einem geplanten Anschlag auf die Pipeline informiert worden seien. Welcher Verbündete kann das gewesen sein, welcher Geheimdienst hat die Amerikaner informiert?   

Hier kann man derzeit nur vermuten. Die verlässlichsten europäischen Partner der USA sind die Briten. Nichtsdestoweniger arbeitet unter den „neuen Europäern“, also den mittelosteuropäischen Staaten, die neu in die Nato dazugekommen sind, insbesondere Polen ganz besonders eng mit Amerika zusammen. Man merkt das auch an der Ausrüstung der Streitkräfte, die kaum in Europa beschafft wird, sondern von den Amerikanern und ihren Verbündeten stammt, etwa Panzer aus Südkorea. Das sind Geheimdienste, die ganz besonders eng zusammenarbeiten. Natürlich gilt das auch für die baltischen Staaten. Aber das sind Kleinststaaten, während Polen schließlich eine Mittelmacht ist und damit über ein ganz anderes Geheimdienstportfolio verfügt. Von der Größenordnung und den Ressourcen sind die anderen doch sehr klein, sodass ich nicht davon ausgehe, dass deren Geheimdienste Wesentliches beitragen können außer vielleicht im Cyberbereich, wo die Balten ausnehmend gut aufgestellt sind. Die Vermutung fällt also auf Polen oder England.   

Welches Interesse hätte denn Polen, die Informationen an die USA weiterzugeben?  

In den Geheimdiensten gilt das Prinzip „do ut des“, ich gebe, damit du gibst. Man versucht, etwas herauszufinden, was die anderen noch nicht haben, und tauscht es dann gegen deren Wissen. Davon leben beide Seiten gut. Das ist die Intention, weshalb ein Geheimdienst – ob der britische oder der polnische, ich habe mich da jetzt nicht festgelegt – sich erst einmal spezifisch mit den USA austauscht. Hinzu kommen natürlich bestimmte politische Präferenzen. Nord Stream 2 behagte den Polen zum Beispiel überhaupt nicht, den Amerikanern auch nicht oder den Balten, auch nicht den Ukrainern, obwohl sie selbst noch russisches Gas und Öl nutzten. Von daher steht natürlich auch eine politische Intention dahinter, den deutschen Diskussionen über die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ein endgültiges Ende zu bereiten. Entsprechend sind diese Informationen über eine beabsichtigte Aktion der Ukraine natürlich ein politisch hochrelevantes Wissen.   

Wenn nun die Amerikaner wiederum ihr Wissen mit der Bundesregierung geteilt haben, was ist da das Interesse? Wollten die USA Deutschland warnen, damit es Vorsichtsmaßnahmen einleiten kann? Ein Ende von Nord Stream 2 wäre doch auch im amerikanischen Interesse. Warum wurde die Information überhaupt mit Deutschland geteilt?   

Ralph Thiele / ISPSW

Das ist tatsächlich eine Schlüsselfrage in dem ganzen Kontext. Ich würde das noch mal zuspitzen auf die Frage: Was ist eigentlich, wenn dein Freund für deine Sicherheit und Prosperität gefährlicher ist als dein Feind? Hier haben die Amerikaner die Deutschen wissen lassen, was passieren könnte, damit sie ihre Hände hinterher in Unschuld waschen können. Beim Krieg in der Ukraine sieht man, dass die amerikanischen Geheimdienste eine kommunikative Führungsrolle ohne Beispiel eingenommen haben, unter anderem, indem sie ständig frühzeitig mit Informationen an die Öffentlichkeit gehen. Da geht es nicht unbedingt darum, Wahrheit zu verbreiten, sondern durch tendenziöse Informationen die eigene Politik zu unterstützen. Und es geht so weit – man liest das in dem einen oder anderen der Blätter der amerikanischen Spezialkräfte oder hört es von Leuten, die früher in den Spezialkräften gedient haben –, dass die Amerikaner auch versuchen, Sabotageakte in Russland anzuregen oder zu unterstützen. Nicht, indem sie mit eigenen Kräften dort hingehen, aber bei der Planung und Auswahl helfen. Dabei spielen durchaus auch britische und polnische Kräfte eine Rolle. Die Amerikaner sind keineswegs nur Beobachter, sie sind auch Gestalter. Und andere Geheimdienste sehen sich in einer Art Mitarbeiterfunktion für die US-Geheimdienste. Das ist die unübersichtliche Gemengelage, in der sich die Planung der Sabotageakte auf Nord Stream abgespielt hat.

Dieser „Nebel des Krieges“ ist natürlich auch ganz nützlich, weil man immer sagen kann, es ist ja nicht ganz klar, ob das wirklich so passiert ist. Eine beliebte Unterstellung: Vielleicht wollen es ja die Russen in einer False-Flag-Aktion den Ukrainern in die Schuhe schieben? Und schon kann die Bundesregierung auch begründen, warum sie nichts unternommen hat, weil sie behaupten kann: Wir haben das alles gar nicht geglaubt. Denn das hat ja eine hohe Brisanz für unsere Partnerschaft mit den USA, für unsere Unterstützung der Ukraine, für unsere Regierung, die ja Schaden abwenden soll vom deutschen Volk – und der Schaden ist ganz offensichtlich, mit den gestiegenen Energiepreisen. Das ist alles nicht leicht erklärbar für die Beteiligten, wenn sie es wussten und nichts getan haben.   

Wie ist es denn zu erklären, dass Deutschland nichts getan hat, sondern passiv geblieben ist und keine Vorkehrungen getroffen hat – beziehungsweise hinterher so getan hat, als hätte man überhaupt keine Hinweise, wer dahintersteckt?   

Sie erinnern sich an die Diskussion um das Abhören des Telefons von Kanzlerin Merkel. Wer im Kalten Krieg in Berlin lebte, wurde bisweilen von zehn Geheimdiensten gleichzeitig abgehört. Das hat sich nach der Einheit eher erhöht aufgrund der technologischen Möglichkeiten. Und wer Einblick in das Thema Verfassungsschutz hat, der weiß, dass wir insbesondere unsere Verbündeten diesbezüglich haben gewähren lassen. Das ist so eine Art zeitgeschichtlich erworbenes Laissez faire: Man lässt die früheren Siegermächte immer noch gerne über das eigentlich Vertretbare hinaus gewähren. Man sagt sich: Das sind ja unsere Verbündeten, von daher ist es nicht so schlimm.

Ein anderer Punkt, den man auch nicht unterschätzen darf: Wir sind professionell in unserer Abwehr nicht gut aufgestellt. Das hängt auch damit zusammen, auch wieder geschichtlich begründet, dass wir sicherstellen wollten, dass staatliche Organe niemals nach dem Big-Brother-Prinzip die eigene Bevölkerung erkunden und manipulieren sollten. Von daher werden unsere Dienste – selbst die Polizei –  z.B. unter dem Thema Datensicherheit geradezu entfähigt, solche Dinge wirklich professionell prüfen zu können. Dazu kommt, dass es zwischen den Verfassungsschutzbehörden der verschiedenen Bundesländer kaum einen unverzüglichen, echtzeitnahen Austausch gibt. Und jetzt sehen wir, dass wir durch diese hybriden Bedrohungen doch sehr bedroht sind. Nord Stream hat alle in Europa aufgeschreckt.

Und zum Dritten mag auch eine Rolle spielen, dass man sich politisch durchwurschteln wollte und einfach nicht wusste, wie man mit dieser Situation umgehen soll. Denn Präsident Biden hat Bundeskanzler Scholz immer ganz klar gemacht, dass er Nord Stream 2 nicht will und auch Mittel hätte, es zu verhindern. Aber mit Blick auf die Folgen bleibt eben die Grundfrage: Was passiert eigentlich, wenn Verbündete mit deutscher Politik nicht einverstanden sind und dann Dinge wie diesen Anschlag zulassen – oder aber mit Stellvertretern selbst agieren? Wie geht man als Bundesregierung mit einer solchen Situation um? Ich glaube, das erfordert noch mal ein ganz gewaltiges Nachdenken auf deutscher Seite. Ich sehe eine enorme Brisanz für die innerdeutsche Diskussion, für die innereuropäische Diskussion und auch für die transatlantische Diskussion.   

 

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Es ist ja ein Unterschied, ob das Telefon der Kanzlerin abgehört wird oder ob die eigene Energieinfrastruktur zerschossen wird. Ist das nicht im Prinzip schon als kriegerischer Akt zu werten?   

Man muss dazu sagen, das war schon damals eine unzulässige Verkürzung, als ob nur das Telefon der Kanzlerin abgehört worden wäre. Das war ja nur die Spitze des Eisbergs. Damals hat mich an der Diskussion gestört, dass gesagt wurde, es sei ja nicht Aufgabe der Kanzlerin, auf ihr Telefon aufzupassen. Sie trägt schließlich die Verantwortung für die ganze Bundesrepublik Deutschland. Das wäre vielmehr der Anlass gewesen, zu prüfen, wie man mit Spionage von Freunden künftig umgehen möchte. Im Übrigen: Wäre jemand in der mittleren Hierarchie der Bundeswehr derart unbedacht mit seinem Privattelefon umgegangen, obgleich ein abhörsicheres dienstliches Telefon bereitsteht, wäre er dafür disziplinarisch bestraft worden, weil er seiner Amtspflicht nicht richtig nachgeht. Aber Sie haben recht, das Zerstören von Energieinfrastruktur für ein Land, das vom Export lebt, woran ja auch Rente, Krankenversicherung, das ganze soziale System der Bundesrepublik Deutschland hängen, das ist schon echt der Hammer.   

Umso erstaunlicher ist das Schweigen der Bundesregierung.   

Wegen der Konsequenzen. Stellen Sie sich mal vor, das gerät jetzt in die öffentliche Diskussion. Was bedeutet das dann für das Wahlverhalten der Bürger? Für das Verhältnis der Bürger zu den regierenden Parteien? Ein richtiges Demokratieverständnis müsste gerade jetzt auf Aufklärung drängen. Dringend. Stattdessen versuchen wir, Nebel darüber zu sprühen.   

Vieles wissen wir ja gar nicht. Zum Beispiel: Kann die Ukraine den Anschlag alleine durchgeführt haben, oder hätte sie der Hilfe von Verbündeten bedurft? Und wer wären diese Verbündeten?   

Ich habe ja schon im September 2022 in Cicero darauf hingewiesen, dass die Arbeiten an der Ostsee von Privatfirmen durchgeführt werden, die auch über Kampfschwimmer und Ausrüstung verfügen. Und auch die Ukraine verfügt über Kampfschwimmer, zu deren Ausbildung auch Sprengen gehört, ebenso wie verdeckte Einsätze. Die Ostsee wird sehr gut überwacht. Deswegen kann man davon ausgehen, dass es bei den Beteiligten, die eng zusammenarbeiten, nicht nur Wissen, sondern auch Arbeitsteilung gab. So ein Angriff mit Spezialkräften beginnt ja zunächst einmal mit Aufklärung, Nachrichtengewinnung, „intelligence“. Diese Zuarbeit kann heute vom Schreibtisch aus geschehen. Eine solche internationale Arbeitsteilung kann vermutlich weitgehend unentdeckt erfolgen zwischen Partnern, die sich vertrauen. Dann bleibt die Frage, welcher Sprengstoff genutzt wurde und wie viel davon dort hingebracht werden musste. Auch da ist eine Arbeitsteilung denkbar, weil von Experten Zweifel laut wurden, inwieweit dieses kleine Boot der mutmaßlichen ukrainischen Täter tatsächlich diese Masse an Sprengstoff hätte transportieren können.   

Vor einiger Zeit hat der amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh seine Recherche veröffentlicht, in der er zu dem Schluss kam, dass die USA Nord Stream gesprengt hätten. Wird Seymour Hersh durch die neuen Erkenntnisse widerlegt oder bestätigt?   

Teils, teils. Es ist durchaus denkbar, dass die Amerikaner einen möglichen Anschlag selbst durchgeplant haben. Amerikaner schauen sich – das ist aus früheren Konflikten bekannt – ein Problem an, spielen eine Aktion theoretisch durch, dann werden operative Einheiten mit einer Eventualfallplanung beauftragt, und dann bleibt immer noch die Frage: Gibt es das politische Go oder nicht? Die Streitkräfte haben den Auftrag, so etwas zu planen und zu schauen, ob das machbar ist. Und wenn dann ein politisches Nein kommt, gibt es immer noch die Überlegung, ob nicht ein Stellvertreter die Aktion durchführen kann. Oder umgekehrt: Sind Teile unserer Vorbereitung, unserer Planung möglicherweise für diesen anderen nützlich? Wenn wir das so betrachten, dann mag Hershs Quelle durchaus von solchen Planungen berichtet haben, ohne dass das verbindlich bewiese, dass die Ausführung am Ende dann auch in den Händen der Amerikaner lag. An Hershs Bericht ist wahrscheinlich etwas dran, es muss sich nur nicht ganz genau so abgespielt haben, sondern die Quelle, auf die Hersh sich beruft, hat eben auch nur Ausschnitte wahrgenommen.   

Wenn sich das tatsächlich alles so zugetragen hat, dass also die Ukraine und/oder die USA hinter der Nord-Stream-Sprengung standen und die Bundesregierung davon wusste, was wären dann die politischen Konsequenzen?   

Das traue ich mich gar nicht zu sagen, weil die Beteiligten alle in Not geraten. Biden muss sich einige Fragen stellen lassen, da er ja die transatlantischen Beziehungen stärken und wiederbeleben wollte – was für die USA wichtig ist, denn die USA sind für die ganzen Aufgaben, die sie in der Welt haben, alleine nicht befähigt und brauchen Verbündete. Es ist sehr wichtig für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten, dass diese Beziehungen gut sind. Wenn er jetzt einen Schlüsselverbündeten schwer geschädigt hat, ist das schwer erklärbar. Das ist auch deshalb ein Biden-Problem, weil es die Europäer dazu drängen dürfte, mehr Eigenständigkeit und weniger Abhängigkeit von Amerika zu wagen. Aber es ist auch ein Problem, wenn Polen beteiligt gewesen sein sollte. Ist das ein Rückschlag für Europa? Kann sich die Europäische Union auf dieser Grundlage weiter integrieren und eng zusammenarbeiten? Dann für die Bundesrepublik Deutschland: Welchen Bestand kann eine Bundesregierung haben, die durch ihr Nichthandeln die kritische Infrastruktur Deutschlands beschädigt und damit in der Konsequenz auch Renten, Krankenversicherung, Sozialsysteme? Wenn sich der Verdacht materialisiert, dürfte das zu enormen politischen Verwerfungen führen. 

Das Gespräch führte Ingo Way.

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