Folgen des Ukrainekriegs - Russisches Roulette

Durch den Krieg in der Ukraine verliert Russland andere Regionen in seiner Peripherie aus dem Blick – insbesondere im Kaukasus und in Zentralasien. Die Vereinigten Staaten nutzen diese Situation, um dort selbst an Einfluss zu gewinnen. Diplomatische Aktivitäten der vergangenen Wochen zeigen, wie sehr Washington das aktuelle Machtvakuum ausnutzt.

Armeniens Außenminister Mirzoyan und US-Außenminister Blinken bei einem Treffen in Washington am 3. Mai / picture alliance
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Länder, die sich im Krieg befinden, setzen um des Sieges willen üblicherweise sämtliche Ressourcen ein, die sie anderswo realistischerweise entbehren können. Was wiederum dazu führt, dass durch die Kriegsanstrengungen wichtige Angelegenheiten in den Hintergrund treten oder der Staat im In- und Ausland anfällig wird für Versuche, ihn zu schwächen. Dies ist auch bei Russland im Zusammenhang mit der Ukraine der Fall: Der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen sondieren derzeit die russische Position in anderen Peripherien des Landes, einschließlich des Kaukasus und Zentralasiens, wo die russische Macht ebenso wirtschaftlicher wie militärischer Art ist.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist keine logistische Kleinigkeit. Treibstoff und Nachschub müssen beschafft und verfrachtet werden, Soldaten müssen ausgetauscht, Verletzte versorgt und beschädigte Ausrüstung muss repariert werden. Dies erfordert enorm viel Geld, das für den Kreml immer knapper wird. Vereinfacht gesagt, konzentriert sich ein Großteil der russischen Anstrengungen, Aufmerksamkeit und des Materialaufwands auf den Westen des Landes.

Für die Sicherheit Russlands bedeutsam

Andere Gebiete an Russlands Grenzen stehen deshalb momentan weniger im Fokus. Dazu gehören insbesondere zentralasiatische Länder, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem Aufbau ihrer Wirtschaft und der Neutralität Vorrang einräumten, damit internationale Konflikte ihre instabile Wirtschaft nicht beeinträchtigen. Auch der Südkaukasus fällt in diese Kategorie: ein Transitknotenpunkt zwischen Asien und Europa und ein Rohstofflieferant für westliche Staaten. Alle diese Gebiete sind für die Sicherheit Russlands von entscheidender Bedeutung. Angesichts des russischen Militäreinsatzes in der Ukraine stellt sich die Frage, wie lange und in welchem Umfang Russland sie ignorieren kann.

Grundsätzlich hatten die USA bisher kein direktes Interesse an Zentralasien oder dem Südkaukasus. Das ändert sich allmählich, da Europa nach alternativen Routen für Energielieferungen sucht. Tatsächlich aber kümmert sich der Westen vor allem deshalb um diese Regionen, weil sie für Russland so wichtig sind; sie puffern Russland nach außen hin ab und sind wirtschaftlich von ihm abhängig. Dadurch erhält Moskau dort eine Menge Einfluss – aber die Kehrseite ist, dass Länder wie die Vereinigten Staaten die strategischen Bedürfnisse Russlands ausnutzen können. Genau aus diesem Grund hält Washington seine Positionen in Georgien aufrecht, sucht nach neuen Möglichkeiten, Armenien aus der russischen Einflusssphäre herauszulösen, verstärkt die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan und stellt in Zentralasien Finanzmittel bereit, die Russland nicht aufbringen kann.

Die diplomatischen Aktivitäten des vergangenen Monats zeugen davon, wie Washington die Gelegenheit beim Schopfe packt. Der leitende Berater des US-Außenministeriums für Verhandlungen im Kaukasus war vom 24. bis zum 29. April in Baku, um den Berg-Karabach-Konflikt zu erörtern, während der stellvertretende US-Außenminister für europäische und eurasische Angelegenheiten am 27. und 28. April mit aserbaidschanischen Behörden zusammenkam. Am 2. Mai traf sich der armenische Außenminister Ararat Mirzoyan mit US-Außenminister Antony Blinken, um einen strategischen Dialog einzuleiten. Bei den Gesprächen bekräftigten Armenien und die Vereinigten Staaten ihr Engagement für den Ausbau der bilateralen Beziehungen in allen Bereichen. Dies ist bemerkenswert, weil Armenien bisher von Washington als zu eng mit Russland verbunden angesehen wurde, um zu intervenieren. Möglicherweise erleben wir gerade den Beginn eines Wandels in den bilateralen Beziehungen.

Moskau ist misstrauisch

Erst vorige Woche gaben die USA bekannt, dass sie die Ausbildung von kasachischen Grenzschützern für das unbemannte Luftfahrzeug Raven abgeschlossen haben; es geht darum, die von den USA bereitgestellten Raven-Drohnen zur Überwachung der kasachischen Grenzen einzusetzen. In Anbetracht der Tatsache, dass Kasachstan eine lange Grenze mit Russland hat und Russland früher ein wichtiger Sicherheitspartner Kasachstans war, steht Russland diesem Programm, gelinde gesagt, misstrauisch gegenüber.

Die US-Staatssekretärin für zivile Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte besuchte Kirgisistan am 14. April nach einem Aufenthalt in Kasachstan, wo sie über strategisches Engagement sprach. An anderer Stelle kündigten die Vereinigten Staaten an, dass sie Tadschikistan Sicherheitshilfe im Wert von mehr als 60 Millionen Dollar zukommen lassen und Lastwagen im Wert von 2,3 Millionen Dollar in das Land liefern werden. Für Washington ist dies ein Spiel mit geringem Risiko und hohen Chancen – insbesondere wenn es gelingt, einige zentralasiatische Beamte davon zu überzeugen, dass sie andere Möglichkeiten haben, als mit Russland zusammenzuarbeiten.

Vor allem handeln die USA nicht allein, sondern greifen auf wichtige Nato-Verbündete zurück, die ein unmittelbares Interesse an Zentralasien haben. Ein solcher Verbündeter ist die Türkei, die an den Ressourcen der Region interessiert ist und diese als einen unerschlossenen Markt mit großem Wirtschaftspotenzial betrachtet. Nicht zuletzt zielt Ankara darauf ab, bei den Turkvölkern außerhalb der eigenen Grenzen wieder an Einfluss zu gewinnen. Zu diesem Zweck hat die Türkei übrigens äußerst enge Beziehungen zu Aserbaidschan aufgebaut, die noch verstärkt wurden, als Ankara sich im jüngsten Berg-Karabach-Krieg auf die Seite Bakus stellte. Um sich die Hilfe der Türkei zu sichern, hat Washington angedeutet, womöglich ein Waffengeschäft zu genehmigen, das F-16-Kampfjets einschließt – nachdem es Ankara zuvor bestimmte Flugzeuge wegen des Kaufs von S-400-Raketenabwehrsystemen aus russischer Produktion verweigert hatte.

Auch an anderen Stellen hat die Türkei den Ukraine-Konflikt genutzt, um ihren Einfluss in Russlands Peripherie auszubauen. So leitete Ankara etwa den Prozess der Normalisierung seiner Beziehungen zu Armenien und der Stärkung der Zusammenarbeit mit Zentralasien ein. Der türkische Präsident Erdogan erörterte mit dem kasachischen Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew die Aussichten für die Entwicklung kasachisch-türkischer strategischer Partnerschaften. Bei einem Telefonat mit dem tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon sprach Erdogan auch über die Ausweitung der tadschikisch-türkischen Zusammenarbeit und unterzeichnete zuvor ein Abkommen über die militärische Kooperation; außerdem unterhielt er sich mit dem Präsidenten Kirgisistans über die bilateralen Beziehungen.

Washington bleibt aktiv

Durchaus möglich, dass nichts davon Russland ernsthaft erschüttern wird. Immerhin ist Moskau tief in die zentralasiatischen und kaukasischen Volkswirtschaften und Sicherheitssysteme integriert. Es bleibt ein wichtiger Wirtschaftspartner für diese Länder, lenkt Investitionen und leistet bei Bedarf militärische Unterstützung. Durch die Entsendung von Friedenstruppen nach Berg-Karabach und durch den Vertrag über kollektive Sicherheit in Zentralasien hat sich Moskau in den Pufferzonen fest verankert. Darüber hinaus sind Kasachstan, Kirgisistan und Armenien in die Eurasische Wirtschaftsunion einbezogen und haben durch die Mitgliedschaft ihre eigenen Vorteile: bevorzugte Energieressourcen, leichteren Zugang zum russischen Markt und so weiter. 

Zentralasien und der Kaukasus benötigen zweifelsfrei große und konstante Investitionsströme und einen wirksamen Mechanismus zur Abwehr von Unruhen und regionalen Konflikten. Derzeit scheint es jedenfalls wenig wahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten die erforderlichen Mittel aufwenden werden, um alles, was diese Region benötigt, bereitzustellen. Dennoch ist die erneute Aktivität Washingtons eine unvorteilhafte Entwicklung für Russland. Einige zentralasiatische und kaukasische Länder, die als Transit-, Finanz- oder Technologiezentren fungieren, befürchten, dass sie durch die zahlreichen russischen Sanktionen in Mitleidenschaft gezogen werden. Da ihre ohnehin schwachen Volkswirtschaften einen weiteren Schock nicht verkraften könnten, versuchen sie, sich die Tür zum Westen offen zu halten – für den Fall der Fälle.

Tatsächlich wird es für Moskau jetzt immer schwieriger, alle Interessen an seiner Grenze unter einen Hut zu bringen – und die USA handeln entsprechend. Obwohl Russland weiß, dass Washington nur in begrenztem Umfang bereit und in der Lage ist, den Ländern in seiner Pufferregion beizuspringen, kann es sich nicht leisten, diese Entwicklung zu ignorieren. Aber weil ein Großteil der russischen Streitkräfte durch den Ukrainekrieg gebunden ist, sind Engpässe durchaus realistisch.

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