Krieg in der Ukraine - Wie die Gewalt enden könnte

Ein Ende des Ukrainekrieges ist nicht in Sicht, denn die Führung der jeweils gegnerischen Seite ist nicht bereit, nachzugeben. Mit der Zeit wird das Gefühl der Unmöglichkeit eines Sieges allerdings zu Friedensgesprächen führen – aber erst, wenn die Realität dies erzwingt.

Ältere Menschen werden aus Cherson evakuiert. Viele Zivilisten flüchten aus der südukrainischen Stadt, um dem Beschuss zu entkommen, nachdem die Stadt erst vor wenigen Wochen als zurückerobert galt. / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Der Ukrainekrieg zieht sich in die Länge. Keine der beiden Seiten scheint in der Lage zu sein, den Gegner zu schlagen oder zumindest Bedingungen für ein funktionierendes Friedensabkommen zu formulieren. Die Russen verhandeln mit Weißrussland, Indien und allen anderen Staaten, die sich dafür noch anbieten. Aber niemand kann ihnen auf dem Schlachtfeld oder bei der Munitionsbeschaffung genug Unterstützung bieten, um das Blatt zu wenden.

Die Ukrainer sprechen mit den Vereinigten Staaten, der Nato und allen anderen, die ihnen zuhören, damit sie weiterhin Waffen erhalten – vielleicht sogar einige neue. Doch die Ukraine hat Russland noch nicht militärisch gebrochen, denn sie ist damit beschäftigt, den Kollaps im eigenen Land zu verhindern – was sich als schwierig erweisen könnte. Auf dem Schlachtfeld gibt es auf beiden Seiten Bewegung, aber Bewegung allein bringt nicht den Sieg mit sich. Wann also enden Kriege, wenn die Führung der jeweils gegnerischen Seite nicht nachgeben will? Die Geschichte zeigt, dass es mehrere Antworten auf diese Frage gibt.

1. Ein Krieg endet, wenn einer Seite das Material zum Weitermachen fehlt. Deutschlands Feldzug im Zweiten Weltkrieg endete, als es nicht mehr in der Lage war, die für den Kampf gegen die alliierten Mächte erforderlichen Waffen herzustellen und einzusetzen.

2. Ein Krieg endet, wenn die Kampfmoral einer Seite erschöpft ist – wenn Soldaten und Zivilisten einfach nicht mehr bereit sind, die Last des Krieges zu tragen, selbst wenn ein Sieg theoretisch möglich wäre. Bei den Vereinigten Staaten war das im Vietnamkrieg der Fall.

3. Ein Krieg endet, wenn es keine Hoffnung auf eine radikale Steigerung der militärischen Gewalt gibt und wenn eine ausländische Intervention unmöglich ist. Im Zweiten Weltkrieg hielt Großbritannien durch, obwohl es wusste, dass es Deutschland nicht besiegen konnte, aber vernünftigerweise eine amerikanische Intervention erwartete.

4. Ein Krieg endet, wenn die Folgen einer Niederlage für die Zivilbevölkerung erträglich erscheinen. Im Zweiten Weltkrieg sah die italienische Öffentlichkeit die Besetzung durch die Alliierten als die bessere Alternative an. (Umgekehrt werden Nationen weiter kämpfen, wenn die Kosten einer Niederlage als katastrophal hoch erscheinen.)

Furcht vor einer Schreckensherrschaft

Sicherlich gibt es andere Umstände, unter denen ein Volk sich gegen jede Hoffnung wehrt – und andere, unter denen ein Volk bereitwillig kapitulieren würde, anstatt den Krieg zu erdulden. Aber bei der Beurteilung eines Krieges kommt es weniger auf die Bereitschaft des Militärs zum Widerstand an. Denn Kämpfen ist die Aufgabe des Militärs. Sondern vielmehr auf den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung, die Kriegsmaterial produziert und Verluste sowie Schmerzen erträgt.

Um zu verstehen, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte, müssen wir alle diese Aspekte (und noch einige mehr) berücksichtigen. Aber ein besonderes Augenmerk gilt der Bereitschaft der Zivilbevölkerung, den Krieg weiter zu ertragen. Die Öffentlichkeit ist zweifellos auf beiden Seiten ermüdet: auf russischer Seite durch die vielen Toten und die sich daraus ergebende Einberufung weiterer Wehrpflichtiger; auf ukrainischer Seite durch die ständigen russischen Angriffe auf Zivilisten und auf die zivile Infrastruktur.

Die russische Führung würde sich ein Ende des Kriegs wünschen, aber nicht um den Preis einer Rebellion der Familien, deren Söhne einberufen wurden. Für die Ukrainer ist die Furcht davor bestimmend, dass ein Zugeständnis an die Russen eine Schreckensherrschaft nach sich ziehen könnte. In diesem Fall hat die kriegsmüdeste Nation auch die größte Angst vor den Folgen einer Niederlage.


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Keines der beiden Länder macht sich allzu große Sorgen über den Verlust von Material, auch wenn sie sich mehr davon wünschen. Die Russen haben ihre eigenen Industrieanlagen und importierten Waffen aus Ländern wie dem Iran. Die Ukraine wird massiv mit Waffen aus dem Westen versorgt, insbesondere aus den Vereinigten Staaten. Dies hat zu einem stabilen, aber nicht enden wollenden Krieg geführt. Wenn das so weitergeht, besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Zivilbevölkerung ihre Durchhaltekraft verliert.

Moskau wird daher dafür sorgen wollen, dass seine Industrieanlagen und Lieferbeziehungen intakt bleiben, und gleichzeitig versuchen, die Lieferungen an die Ukraine zu untergraben. Die Ukraine wird sich vergewissern, dass die USA zumindest ihre Waffenlieferungen aufrechterhalten, während sie gleichzeitig versucht, den Zustrom von Waffen aus dem Ausland nach Russland zu minimieren.

Friedensgespräche infolge innerer Unruhen

Da beide Seiten mit dem Problem des Durchhaltewillens der Zivilbevölkerungen konfrontiert sind, werden sie jeweils versuchen, ihren Bürgerinnen und Bürgern Mut zuzusprechen. Solange die Ukraine jedoch eine Niederlage gegen Russland befürchtet, ist eine Kapitulation praktisch unmöglich. Das Gleiche kann man von Russland nicht behaupten.

Das wahrscheinlichste Ergebnis werden daher Friedensgespräche sein, die durch innere Unruhen in beiden Ländern erzwungen werden. In Russland gibt es bereits einige Unruhen, in der Ukraine hingegen kaum. Die Russen waren nicht in der Lage, in der Ukraine Unruhen zu schüren, und werden daher eine noch intensivere Terrorkampagne führen müssen – wenn sie dazu in der Lage sind.

Friedensgespräche wird es aber erst geben, wenn auf beiden Seiten das beschriebene Ungleichgewicht herrscht. Es muss ein Element des Zwangs geben. Der Schlüssel liegt also in der Manipulation der Zivilbevölkerung auf der jeweils gegnerischen Seite, in der Verteidigung der einheimischen Bevölkerung sowie beim Einsatz neuer und effizienter Waffen, die dem Gegner Schmerzen verursachen, ohne eine ausländische Intervention auszulösen. Mit der Zeit wird das Gefühl der Unmöglichkeit eines Sieges zu Friedensgesprächen führen – aber erst, wenn die Realität dies erzwingt.

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