Taurus-Debatte - „Eine diffuse Angst vor Putin lähmt uns“

Olaf Scholz will keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Im Interview spricht der Sicherheitsexperte Nico Lange über fadenscheinige Argumente und die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung des Westens.

Ukrainischer Soldat an der Front / dpa
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Nico Lange ist Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz und Senior Fellow bei Center for European Policy Analysis in Washington D.C. Er leitete von 2019-2022 den Leitungsstab des Bundesministeriums der Verteidigung. Lange lehrt am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam und an der Hertie School of Governance.

Herr Lange, Bundeskanzler Olaf Scholz hat sein Nein zur Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine in der Kanzlerbefragung am Mittwoch bekräftigt. Was, denken Sie, ist der Grund für seine Haltung?

Mein Eindruck ist, dass es für diese Entscheidung keine sicherheitspolitischen Gründe gibt. Es liegt auf der Hand, dass die Ukraine den Taurus braucht, da Präzisionswaffen mit großer Reichweite von hoher Priorität für die Streitkräfte der Ukraine sind. Eine Lieferung ist möglich, sofern ein politischer Wille hierzu besteht. Deutsche Bundeswehrsoldaten müssten nicht vor Ort sein, um den Ukrainern bei der Zielprogrammierung zu helfen. Alternativ könnten die ukrainischen Soldaten diese selbst steuern, wenn wir sie entsprechend ausbilden würden.

Taurus hat eine Reichweite von 500 Kilometern. Das wäre die Distanz zwischen der Ostukraine und Moskau. Fürchtet sich Scholz vor einem ukrainischen Beschuss russischen Territoriums mit deutschen Waffen?

Ein einfacher Blick auf die Landkarte zeigt: Auch mit einer deutschen Panzerhaubitze 2000 könnte das ukrainische Militär auf russisches Territorium schießen. Die Ukraine hält sich kategorisch an die Vereinbarungen mit ihren westlichen Partnern, russisches Gebiet mit den von ihnen gelieferten Waffen nicht zu attackieren, obwohl das völkerrechtlich bei militärischen Zielen absolut legal wäre. Die Ukraine hat Interesse daran, in sicherheitspolitischen Fragen auch zukünftig eng mit ihren Partnern aus dem Westen zusammenzuarbeiten.

Doch stellen wir uns das Szenario vor, dass die Ukraine noch größere militärische Niederlagen erleiden muss und mit dem Rücken an der Wand steht. Wäre es in einer derlei verzweifelten Situation nicht sogar verständlich, dass die Ukraine russisches Gebiet mit den deutschen Marschflugkörpern angreift?

Ich halte das für ein vorgeschobenes Argument. Die Reichweite des Taurus könnte durch den Hersteller sogar technisch begrenzt werden. Die oft diskutierte und von Ihnen beschriebene Gefahr besteht in der Realität nicht. Was die Reichweitenberechnung betrifft: Man darf sich das militärisch nicht so vorstellen, dass das ukrainische Militär mit einem Flugzeug an die äußerste östliche Grenze fliegen und von diesem Punkt aus Moskau beschießen kann. Die Realität ist, dass die ukrainischen Flugzeuge sehr weit hinter der eigenen Frontlinie fliegen müssen, damit sie nicht von russischen Luftverteidigungssystemen erfasst werden. Das Szenario eines möglichen Beschusses der russischen Hauptstadt Moskau ist eine sehr unmilitärische Betrachtung.

Scholz fürchtet offensichtlich eine direkte Konfrontation der Nato mit Russland. Für wie wahrscheinlich halten Sie ein solches Szenario? Hat Putin überhaupt ein Interesse daran?

Völkerrechtlich kann man durch die Unterstützung eines überfallenen Landes nicht zur Kriegspartei werden. Putin hat durch den russischen Angriff entschieden, dass die Ukraine in einen Krieg hineingezogen wird. Die Lage ist völkerrechtlich eindeutig. Das entbindet uns allerdings nicht davon, genau zu überlegen, welche Schritte wir mit unseren Partnern im Einzelnen gehen können und wie die Reaktion Russlands darauf sein könnte. Gegen eine kluge Abwägung ist argumentativ nichts einzuwenden.

Putin hat durch seine Invasion in der Ukraine bereits gezeigt, dass er keine Skrupel davor hat, das Völkerrecht zu brechen. Am Ende entscheidet doch der Kreml, ob er deutsche Taurus-Waffenlieferungen an die Ukraine als Kriegsteilnahme interpretiert …

Eine diffuse Angst vor Putin lähmt uns. Schauen Sie: Das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim ist mit britischen und französischen Marschflugkörpern angegriffen worden und es kam zu keiner „Eskalation“ des Krieges. In mehr als zwei Jahren Krieg sind die befürchteten und oft diskutierten Reaktionen auf Angriffe auf die Krim oder die Nutzung westlicher Waffen schlichtweg nicht eingetreten. Daraus müssen wir Rückschlüsse ziehen. Wir können doch nicht immer weiter behaupten, es bestünde die Gefahr von Eskalation, wenn das nachweislich nicht stimmt. Es verwundert mich sehr, dass diese Analyse in unserer Debatte nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz warf Scholz in der Kanzlerbefragung vor, dass er mit der Kriegsangst der deutschen Bevölkerung spiele. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Die Ängste werden von Wladimir Putin geschürt, der das ganz strategisch und gezielt forciert. Putin weiß, dass seine psychologische Kriegsführung in Deutschland auf fruchtbaren Boden fällt. Wir müssen als Gesellschaft und Politik lernen, damit souverän umzugehen. Angesichts der nuklearen Drohungen müssen wir abgebrühter werden. Natürlich muss man zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen in Deutschland Angst vor einem möglichen Krieg haben. Umso wichtiger ist es deshalb, dass die politisch Handelnden Sicherheit und Ruhe ausstrahlen und nicht zu einer Verschärfung der Ängste beitragen oder diese sogar gezielt bewirtschaften, weil sie sich davon bessere Umfragen versprechen.

 

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Wie ist der aktuelle Stand an der Front in der Ukraine? 

Die aktuelle Entwicklung ist vor allem davon geprägt, dass Russland nach der Einnahme von Awdijiwka in der Oblast Donezk weiter in der Initiative ist und an mehreren Frontabschnitten versucht, weiter vorzudringen. Mein Eindruck ist aber, dass die Ukraine es gerade schafft, die Frontlinie westlich von Awdijiwka zu stabilisieren. Das russische Militär hat mit all dem Aufwand und unter einem hohen Verlust an Soldaten und Fahrzeugen in den letzten Wochen nur wenig erreicht. 

Die Russen konnten lediglich die kleine Stadt Awdijiwka und ungefähr acht Kilometer an Land erobern. Das ist weit entfernt von jener angeblichen russischen Überlegenheit, wie sie in letzter Zeit oftmals in den Medien dargestellt wurde. Ganz im Gegenteil: Russland verliert trotz der Umstellung seiner Kriegswirtschaft zum Beispiel derzeit mehr Schützenpanzer als das Land produziert. Insgeheim hofft Putin jedoch neben dem Kriegsschauplatz auf etwas anderes.

Auf was spielen Sie an?

Putin hofft darauf, dass es zu großen politischen Veränderungen im Westen kommt. Dabei hat er insbesondere die Europawahl und die Präsidentschaftswahl in den USA im Blick, möglicherweise auch Wahlen im Osten Deutschlands. Durch einen Sieg von Populisten und Extremisten in Europa und einer möglichen Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten verspricht er sich, dass die Unterstützung der Ukraine im Westen in Frage gestellt wird.

Nico Lange / privat

Wir erleben zurzeit einen Abnutzungskrieg in der Ukraine. Kann die Ukraine der russischen Armee angesichts der schieren materiellen und personellen Unterlegenheit überhaupt etwas entgegensetzen?

Unsere Vorstellungen davon, was Krieg ist, wird sehr stark durch die Bilder der beiden Weltkriege geprägt, die wir tief in unserem kollektiven Bewusstsein haben. Diese müssen wir jedoch beiseitelegen, da sie nur bedingt auf den Krieg in der Ukraine zutreffen. Wir diskutieren oftmals in einer Art, als würde dort gerade stattfinden, was wir aus historischen Dokumentationen kennen. Die Entwicklungen, insbesondere den Munitionsmangel, müssen wir ernstnehmen, aber wir dürfen auch nicht den Eindruck vermitteln, dass die Russen morgen vor Kyjiw stehen würden. Selbst wenn wir die Unterstützung einstellen, bräuchte Russland Jahre, um die Ukraine vollständig einzunehmen.

Das heißt?

Es gewinnt nicht zwangsläufig jene Kriegspartei, die mehr Soldaten hat. Das zeigt uns nicht nur die Militärgeschichte, sondern auch der Kriegsverlauf der letzten Jahre. Das ukrainische Militär hat auch gezeigt, dass sie dem russischen Angriff in den ersten Monaten des Krieges standhalten und 50 Prozent des eingenommenen Gebietes zurückerobern konnte.

Was braucht die Ukraine, um unter den Voraussetzungen des derzeitigen Krieges siegreich sein zu können?

Technologische Überlegenheit und ständige Innovation, bessere Motivation und Führung der eigenen Soldaten, kluges taktisches Vorgehen und Mobilität und Präzision gegen schiere Masse auf diese zentralen Faktoren wird es ankommen.

Braucht der Westen eine strategische Neuausrichtung?

Bisher ging es den westlichen Partnern in erster Linie darum, Putin zu verweigern, dass er seine militärischen Ziele in der Ukraine erreichen konnte. Klar ist aber: Die derzeitige westliche Strategie reicht nicht aus, um Putin in die Situation zu bringen, dass Friedensverhandlungen in seinem Interesse sind. Insbesondere die USA und Deutschland bremsen bei der Durchsetzung einer strategischen Neuausrichtung.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Wir müssen zwei Elemente als Priorität betrachten: Erstens muss die Militärhilfe für die Ukraine im dritten Kriegsjahr industriell unterlegt werden. Das muss in einem Ausmaß geschehen, das die ukrainischen Streitkräfte befähigt, Russland in der Ukraine eine empfindliche Niederlage beizufügen. Nur dann wird sich Putin auch an einen Verhandlungstisch setzen und der Krieg könnte beendet werden. Zweitens: Der Kreml hat die Invasion auf die Ukraine gestartet, um die Sicherheitsordnung in Europa grundsätzlich zu verändern. Daher braucht der Westen eine Antwort auf der Ebene der Sicherheitsordnung, wenn der Krieg zu seinem Ende kommt. Aus meiner Sicht kann nur die ukrainische Mitgliedschaft in der Nato dauerhaft Stabilität und Sicherheit garantieren.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

 

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