Gespräch über Krieg und Zeitenwende, Teil I - „Das böse Erwachen für die Europäer“

Der Historiker und Oberst Markus Reisner ist derzeit einer der gefragtesten Militär-Analysten im deutschsprachigen Raum. Im ersten Teil des Interviews spricht er über Objektivität in Zeiten des Ukrainekrieges, Geschichte, die sich wiederholt, und das mögliche Auftauchen des Schwarzen Schwans - also eines Ereignisses, mit dem niemand gerechnet hat.

Eine Frau in einem durch russische Raketenangriffe zerstörten Gebäude im Zentrum der Stadt Kramatorsk / picture alliance
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Frank Lübberding ist freier Journalist und Autor.

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Im Frühjahr 1945 fand vom 16. März bis zum 15. April die „Schlacht um Wien“ statt. „In den Kämpfen“, so heißt es in einem gleichnamigen Buch, „taten sich junge Menschen gegenseitig Dinge an, die man in unserer aufgeklärten Gesellschaft nicht für möglich“ hielte. Man war davon ausgegangen, „dass diese extremen Gewalthandlungen eingehegt auf ewig der Vergangenheit“ angehörten. Autor ist der promovierte Historiker und Oberst in der österreichischen Armee Markus Reisner. Er schloss das Manuskript im August 2020 ab.

Reisner konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was knapp 18 Monate später in der Ukraine passieren sollte. Russland griff die Ukraine an, und es entwickelte sich ein konventioneller Krieg, den es in dieser Form seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa nicht mehr gegeben hatte. Der Kommandant des Gardebataillons des Bundesheeres wurde nach Kriegsausbruch zu einem der gefragtesten Militär-Analysten im deutschsprachigen Raum. Wer das Buch über die „Schlacht um Wien“ liest, weiß auch warum: Es schildert die militärischen Operationen der sowjetischen Streitkräfte in diesen 31 Tagen eines Ringens, das am Ende zehntausende sowjetische und deutsche Soldaten das Leben kostete, hinzu kommen die toten Zivilisten.  

Die Darstellung beschreibt die Schlacht aus verschiedenen Blickwinkeln: vom Generalstab, der ihn auf Karten führt, bis zum einfachen Soldaten, der ihn aus dem Blickwinkel seines Kampfpanzers erlebt und erleidet. In der Rückschau wissen wir, dass der Krieg zu diesem Zeitpunkt entschieden war. Aber die Wehrmacht war noch nicht geschlagen, das wussten die Sowjets. So verstehen wir als Leser, dass eine Schlacht aus zahllosen Gefechten besteht, wo Fehlkalkulationen genauso vorkommen wie Glück oder Pech. So erklärt sich die besondere Position Reisners im heutigen Krieg. Ihm sind als Offizier diese Unwägbarkeiten bewusst, und er hat vertiefte Kenntnisse über das russische Militär.

Das folgende Gespräch wurde in Reisners Büro in der Wiener Maria-Theresien-Kaserne geführt. Es verzichtete bewusst auf Tagesaktualität, sondern soll den militärischen und politischen Hintergrund dieses Krieges sichtbar machen; vor allem aber, wie er beendet werden könnte. Die so häufig deklarierte Zeitenwende versteht man nur in ihrer historischen Einordnung. Angesichts der Entwicklung am vergangenen Wochenende um den Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin stellt sich allerdings heute die Frage, ob dieser Aufstand der im Interview angesprochene „Schwarze Schwan“ sein könnte. So nennt Reisner Entwicklungen, die unsere bisherigen Annahmen und Erwartungen plötzlich über den Haufen werfen. Für ihn hätte Prigoschins „Rebellion“ dieses Potential zwar haben können. Doch „weder das russische Militär und der Sicherheitsapparat noch die russische Bevölkerung“ hätten einen großen Willen zu einem solchen Umbruch gezeigt, so Reisners Einschätzung.

Russlands Geschichte sei „voller Beispiele, in welchen sich die Bevölkerung gerade in Zeiten der Krise noch enger an den Tyrannen“ binde. Von ihm erwarte es „den erfolgreichen Kampf gegen die äußere und auch innere Bedrohung“. Trotzdem habe nur „der erste Akt in diesem russischen Drama seinen vorläufigen Abschluss“ gefunden. Man könne „davon ausgehen, dass die Beteiligten auch im zweiten Akt eine Rolle haben werden“. Deshalb dürften wir „weitere Überraschungen erwarten“, so Reisner. 

Herr Reisner, Kriegsberichterstattung hatte schon immer mit einem Problem zu kämpfen. Einerseits will sie objektiv informieren, andererseits gibt es politische Überzeugungen. Also neigt sie dazu, sich das militärische Geschehen aus der gewünschten Perspektive anzusehen. So waren alle vom Versagen der Russen in der Frühphase des Krieges überrascht, was unsere Berichterstattung bis heute prägt. Wie nehmen Sie das wahr?       

Was viele aus meiner Sicht nicht verstehen: Wir haben eine sehr ernste Situation und immer noch nicht verstanden, was das möglicherweise bedeutet, auch für die nächsten Monate und Jahre. Und es hilft aus meiner Sicht überhaupt nicht, dass man die Russen lächerlich macht, weil das dem Charakter der russischen Seele nicht gerecht wird. Natürlich kann es Ereignisse wie den Oktober 1917 geben, oder wie den Mauerfall 1989 oder den Kollaps der Sowjetunion 1991. Die Historiker werden dann später sagen, das war völlig klar, aber jetzt ist das nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Wir haben keine Indikatoren, die das mehr oder weniger voraussehen lassen würden. Es scheint eine sehr gefestigte Situation zu sein. Das ist das Problem: Die russische strategische Kultur zeichnet sich historisch dadurch aus, dass sich die Leute in Zeiten der Krise um den Tyrannen scharen, egal wie brutal der ist. Aber für sie ist er der Garant für das Überleben. 

Das gilt aber nicht nur für Tyrannen, sondern auch für Demokratien. 

Ja, natürlich. Wer ist stärker: die Demokratie oder das totalitäre Regime? Und ich argumentiere, dass am Beginn der Krise die Demokratie scheinbar ins Hintertreffen gerät. Die Leute müssen immer erst verstehen, wie ernst die Lage tatsächlich ist. Hier hat das totalitäre Regime Vorteile, weil es zentralistisch agieren kann. Aber wenn die Demokratie beginnt, Widerstand zu leisten, und die Leute vom Sinn des Krieges überzeugt sind, lässt sich eine Veränderung in ihrem Sinne herbeiführen. Dann gibt es auch Druck auf das totalitäre Regime, und es finden sich die ersten Risse. Diese Risse lassen sich sehr schwer kitten.  

Im Kosovo gab es vor wenigen Tagen ein erneutes Aufflammen der Konflikte zwischen Serben und Kosovaren, auch mit Verletzten bei den dort stationierten KFOR-Einheiten. Die Situation im Kosovo war seit 1999 immer angespannt. Was ist das Besondere nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges? 

Markus Reisner / Foto: Mafalda Rakos

Wir haben auf der Welt immer kulturell bedingte regionale Herausforderungen. Ob Streitigkeiten aus der Zeit der Kolonialzeit mit willkürlich gezogenen Grenzen, oder ob sie sich aus dem Kulturraum ergeben, weil sich unterschiedliche Völker mehr oder weniger aneinander reiben. Wenn ein Konflikt plötzlich eine globale Systematik bekommt, dann können diese Regionalkonflikte ein Teil davon werden. Und im Falle der Ukraine kommen wir zunehmend in eine Auseinandersetzung, wo sich der globale Norden offensichtlich gegenüber dem globalen Süden mit seiner Idee des Wertesystems durchsetzen muss. Und der globale Süden widerspricht dieser Auffassung. So geraten wir in eine Auseinandersetzung, die man schon ein bisschen mit dem Kalten Krieg vergleichen kann, der ja auch immer wieder heiß geworden ist. In diesen Stellvertreterkonflikten können regionale Auseinandersetzungen instrumentalisiert werden, wie man es jetzt am Balkan sehr schön sieht.

Nun kann man darüber streiten, in welchem Ausmaß das passiert oder nicht. Russland versucht, Öl ins Feuer zu gießen. Jetzt kann man nur diskutieren, ob etwa die Serben bereit sind mitzumachen. Damit gerät ein regionaler Konflikt in die Mühlen der Weltpolitik. Die russische Wagner-Gruppe ist ein weiteres Beispiel. Wir schauen jetzt alle in die Ukraine, aber ich vergleiche das immer mit dem Spiel „Risiko“, wo es darum geht, seine Spielfiguren auf der ganzen Welt zu platzieren. Während wir auf Bachmut schauen, hat uns Russland mit Hilfe von Wagner in Afrika einige Spielfiguren weggenommen. Die Franzosen sind aus Mali abgezogen, das war bis vor kurzem undenkbar. 

Sie sind Oberst in der österreichischen Armee und seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges mit Ihren nüchternen militärischen Analysen bekannt geworden. Die waren schon sehr verschieden von dem, was man sonst im deutschsprachigen Raum gesehen hat. Wie beurteilen Sie eigentlich diese Form von Ideologisierung – Sie erwähnten gerade den Kalten Krieg –, wenn etwa von den westlichen Werten gesprochen wird? 

Man sieht in diesem Konflikt sehr viele Parallelen in der Vergangenheit. Man sagt, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie folgt denselben Mustern. So sieht in diesem Konflikt auch wieder diese Dehumanisierung oder das Absprechen der Satisfaktionsfähigkeit des anderen einem selbst gegenüber. So schließt man kategorisch aus: Mit denen kann man nicht reden. Erstens seien die völlig falsch abgebogen, zweitens müsste man ja Zugeständnisse machen. Das kennen wir auch aus der Vergangenheit, wo der Gegner entmenschlicht worden ist im Sinne einer Dehumanisierung: Mit denen können wir nicht reden, denn wir sind die Guten, und nur wir sind die Gewinner. Erst im Verlaufe des Konflikts hat man dann gesehen: So wird das nicht ausgehen, man muss also aufeinander zugehen, und alle Kriege, trotz der Tatsache von Kapitulationen, haben in letzter Konsequenz am Verhandlungstisch geendet.

Ein weiteres Beispiel: Wir erleben eine Lagerbildung in Europa. Wie gehen wir damit um? In manchen Lagern ist es zu einer absoluten Verschärfung in der Rhetorik gekommen, wo das Reden ausgeschlossen wird. Und die Kriegsparteien leben das seit einem Jahr. Die Russen nennen die Ukrainer „Faschisten“ und „Schweine“, die Ukrainer die Russen „Orks“. Es ist eine komplett verfahrene Situation. 

Wie beurteilen Sie die politischen Zielvorgaben vor dem Hintergrund der militärischen Ereignisse? Was hat sich im Laufe des Krieges fundamental verändert? 

Eine Menge. Die Russen haben sich zu Beginn des Krieges völlig verschätzt. An dieser Stelle sage ich immer, der Einmarsch der Russen in die Ukraine war dasselbe Fiasko wie der Abzug des Westens aus Afghanistan. Es gibt eine schöne Parallelität: In der Ukraine haben die russischen Nachrichten- und Geheimdienste angenommen, dass die ukrainische Armee zusammenbrechen wird, das war nicht der Fall. Und in Afghanistan haben die westlichen Nachrichten- und Geheimdienste angenommen, dass die afghanische Armee halten wird. War auch nicht der Fall. Beide haben also Annahmen getroffen, die sich nicht umsetzen ließen.

Das Entscheidende am Beginn des Ukrainekonflikts ist nicht nur der 4. und 20. Februar vergangenen Jahres, sondern schon die Jahre davor. Vor allem der Sommer 2014, wo es mit der Inbesitznahme der Krim und dann in den Separatistengebieten losgegangen ist. Damals haben die Russen angefangen zu testen, wie sie die hybride Kriegsführung anwenden können, die in dem berühmten Aufsatz von Valeri Gerasimov (Generalstabschef der russischen Armee) formuliert wurde. Aus ihrer Sicht war das ein Erfolg, der aber aus russischer Sicht nicht zu Ende geführt worden ist. Für die Ukraine war es ein Warnsignal, und sie haben Zeit bekommen, sich vorzubereiten. Die Ukrainer haben auch immer gesagt, dass die Russen wiederkommen werden. Wir wollten es nicht wahrhaben.  

 

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Dann kommt es im Februar zu dieser neuen Auseinandersetzung. Und dort ist die Rede Wladimir Putins vom 21. Februar 2022 entscheidend. Er hat hier drei Punkte formuliert: Erstens hat die Ukraine kein Recht auf Staatlichkeit. Das ist schon eine sehr harte Aussage. Das gibt es in dieser Form sonst nur im Verhältnis des Iran zu Israel. Zweitens kann es Russland nicht zulassen, dass die Ukraine als Teil der Nato Waffen stationiert, die möglicherweise Moskau bedrohen können – also ihm der Westen das Messer an den Hals setzt. Darin fühlt man sich auch durch die Drohnenangriffe auf Moskau bestätigt, weil sie aus der Ukraine heraus passieren, und ausgerechnet aus dem Raum, den die Russen schon für sich in Besitz genommen betrachtet haben.

Und das Dritte, Entscheidende war, dass Putin gesagt hat, die Zeit der Sowjetunion war eine Zeit, wo Recht und Ordnung geherrscht haben. Und seit es das nicht mehr gibt, besteht Chaos. Daraus lässt sich aus meiner Sicht eine größere Ambition ableiten, zumindest zum damaligen Zeitpunkt. Das Stichwort heißt baltische Staaten. Das ist das Russland, das Putin immer im Kopf hat. Es ging nicht um das bolschewistische Russland oder die Sowjetunion, sondern das Russland des Zaren. 

Putin sieht sich in dieser Tradition. Das war das klare Ziel, dann sind sie einmarschiert und haben sich gewaltig verschätzt. Es stand allerdings auf der Kippe. Die ersten Tage waren entscheidend. Da gab es bekanntlich nordwestlich von Kiew den Flugplatz, den sie zwar eingenommen haben, aber es ist nicht gelungen, schweres Gerät nachzuschieben. Es dauerte zwei Tage, bis die Bodentruppen gekommen sind, und diese zwei Tage haben die Ukrainer genutzt, sie hatten einen Abwehrerfolg, und das hat auf der russischen Seite einen Dominoeffekt ausgelöst. Es war nicht nur diese taktische Abwehr erfolgreich, sondern die Aufklärungsergebnisse der Amerikaner waren ein entscheidender Faktor. Die Ukrainer kannten die russischen Gefechtsstände, wo die Generäle anzutreffen waren. Dazu kamen noch die westlichen Waffenlieferungen. Die Russen hatten ab diesem Moment ein Riesenproblem. Das ist so, als wenn sie in einen Kampf gehen und unzureichend bewaffnet sind. 

Der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer formuliert immer ein Argument: Mit einer 190.000 Mann starken Interventionsarmee kann ich die Ukraine nicht besiegen. Ihr fehlen die Mittel, um das Land zu besetzen. Sie beschreiben Putins ideologischen Ziele aus dieser berühmt gewordenen Rede. Viele haben sie wahrscheinlich gar nicht verstanden, etwa Putins Exkurse über Stalins Nationalitätenpolitik. Die Russen erwarteten die Kapitulation der Ukraine: Menschen stehen mit Blumen an der Straße und begrüßen ihre Befreier. Moskau setzt eine andere Regierung ein, verschwindet wieder aus Kiew und alles wird gut. Das ist, mit Verlaub, kein richtiger Plan. Hatten die Russen überhaupt einen Kriegsplan? 

Den kennt man mittlerweile aus den erbeuteten Unterlagen der einmarschierten Verbände. Man wollte das Land nicht zerstören, sondern eine Art „moderate Invasion“ mit Skalierung der Waffen. Wir setzen nur das ein, was notwendig ist, schieben also den Regler hoch, wenn es notwendig wird. So hat man erst im Oktober vergangenen Jahres beschlossen, auch die kritische Infrastruktur anzugreifen. 

Was jeden überrascht hat. 

Seit dem Scheitern des Invasionsplans kämpfen die Russen mit den Folgen. Sie versuchen krampfhaft, vor allem mehr Soldaten an die Front zu bekommen. In der Not gab es die Teilmobilisierung der Reservisten, um die entsprechenden Kräfte zu haben. Das war der Übergang in die zweite Phase im Donbass. Das Problem besteht aber bis heute. Was wäre anders gewesen, wenn 500.000 oder 600.000 Mann einmarschiert wären? Es gibt gute Quellen, die sagen, es habe einen Plan A und einen Plan B gegeben. Der Plan A war so verlockend, weil er nur auf den Berufskader zurückgreifen musste. Der Plan B hätte dagegen die Teilmobilisierung erforderlich gemacht, die man aber vonseiten des Präsidenten nicht umsetzen wollte: Man hätte schon vor Kriegsausbruch die Bevölkerung einbeziehen müssen.  

Wie ein Boxer, der schon in der ersten Runde Treffer kassieren musste, versuchten die Russen, in die Offensive zu gehen. Das haben sie mit dem Heranführen frischer Kräfte gemacht. Jetzt haben wir zwischen 350.000 und 400.000 Mann auf russischer Seite, das Doppelte wie vorher. Aber natürlich nicht in der gleichen Qualität, weil sie viele Leute verloren haben. Gilt übrigens auch für die Ukraine. Darum ist der Vergleich mit der Situation des Jahres 1915 im Ersten Weltkrieg plausibel.

Er wurde in diesem Jahr zum Krieg der Reservisten, der Reservist auf der einen Seite hat gegen den Reservisten auf der anderen Seite gekämpft. 1915 war aber vor allem das Jahr der Ernüchterung. Die Annahmen aus dem ersten Kriegsjahr 1914 hatten sich als Irrtum erwiesen. Und wir stehen heute quasi vor dem Sprung in das Kriegsjahr 1916: Der Westen muss Entscheidungen treffen, also etwa über die Erfordernisse einer Kriegswirtschaft. Strategie ist eine Mischung aus „ends, ways and means“. Man definiert ein Endziel, das eigentlich immer der Richtungspunkt bleibt. Dann überlegt man sich die Wege dorthin und welche Mittel eingesetzt werden sollen. 

Das Endziel Russlands kommt in der alten Primakow-Doktrin zum Ausdruck. (Jewgeni Primakow war der letzte Außenminister der Sowjetunion; d. Red.) Er formulierte drei Ziele: Zuerst muss Russland, wo immer möglich auf der Welt, die Amerikaner zurückdrängen. Zweitens sind die ehemaligen Staaten der Sowjetunion russische Einflussgebiete. Das muss so bleiben, weshalb drittens die Nato-Osterweiterung zu verhindern ist. Das war das absolute Ziel Russlands. Und als die Ukraine offensichtlich verlorenzugehen drohte, hat Russland interveniert. Darüber kann man zwar streiten, aber einen Vorwurf kann man den Russen absolut machen: Wenn den Russen die Ukraine so wichtig gewesen wäre, warum haben sie dann nicht „Soft Power“ eingesetzt? Warum haben sie sich gleich für „Hard Power“ entschieden?  

Jemand, der sehr lange in Russland gelebt hat, war darüber ebenfalls überrascht und schockiert. Interessant war seine Erklärung der Vorgeschichte des Krieges. Seine These war, dass Russen und Ukrainer aus dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gelernt hätten. Es ging um die von Aserbaidschan erfolgreich eingesetzten türkischen Drohnen. Aus der von ihm geschilderten russischen Perspektive wollten die Ukrainer mit diesen türkischen Drohnen eine Offensive im Donbass beginnen. Zukünftige Historiker werden sich über solche Thesen streiten. Was er aber nicht verstanden hat: Die Russen hätten nur warten müssen, bis die Ukraine losschlägt, um einen Interventionsgrund zu haben. 

Das wollte ich sagen: Wenn die Geschichte so stimmt, wie Sie sagen, warum haben sie dann nicht gewartet? Die Ukraine wäre keine so große Herausforderung für die russischen Streitkräfte gewesen. Sie hätten sie nach dem Losschlagen vernichten können, weil sie mit gespannten Bogen gewartet hätten. Aber es stimmt schon: Die Ukraine hat in den letzten Jahren massiv aufgerüstet. Die haben sich dort eingegraben, sie wussten, die Russen werden wiederkommen, aber diese Drohnen haben das Kraut nicht fett gemacht.

Man hat das auch sehr schön am Beginn des Konflikts gesehen: Die vielgelobten Bayraktar-Drohnen waren in wenigen Wochen vom Himmel verschwunden. Warum? Diese Drohne hat immer super funktioniert, wenn sie es mit einem Gegner ohne Fliegerabwehr zu tun hatte. Das war bei den Russen nicht der Fall, und innerhalb von wenigen Wochen waren die Drohnen abgeschossen. Sie haben das nicht so gehört, weil wir im Westen in unserer Informationsblase von den Bildern dominiert waren, die uns die Ukraine gezeigt hat. Im Sinne von: Der ukrainische Soldat hat mit der Panzerfaust in der Hand die russische Armee aufgehalten, aber diese Bilder gibt es so nicht mehr. 

Der ukrainische Traktor, der den russischen Panzer abgeschleppt hat. 

Ja, das war gezielte Informationskriegsführung. Es gibt viele Aspekte, die völlig vergessen werden. Kriege werden heutzutage über verschiedene Domänen geführt. Wir haben die klassische Land-Domäne. Das ist unser Blick auf das Kriegsgeschehen. Im Fernsehen sieht man immer den Panzer, der von A nach B fährt. Dann gibt es die Luft-Domäne: Sie bekommen wir mit, wenn Drohnen Luftangriffe durchführen. Dann sehen wir Bilder von der Schlangeninsel, wo Marschflugkörper von Schiffen abgeschossen werden. Kaum jemand denkt schon an den Weltraum. Aber ohne das Satellitensystem Starlink von Elon Musk wäre die Ukraine schon am Beginn des Krieges gescheitert.  

Hat Elon Musk die Satelliten abgeschaltet? 

Nein, hat er nicht. Es gibt aber Hinweise darauf, dass es auf der Krim nicht funktionieren wird. Und dass man versucht hat, es wieder in der Wirkung zurückzuskalieren. 

So ein System hat militärische Bedeutung. Kann das Elon Musk allein entscheiden, oder entscheidet letztlich das Pentagon und die amerikanische Regierung? 

Ich denke, alle Dinge, die Elon Musk gemacht hat, geschehen immer in Abstimmung mit der Regierung. Er greift mit seiner Firma in hoheitliche Dinge des Staates ein. Also wird er sich sehr genau mit der amerikanischen Regierung abstimmen. Die Regierung in Washington könnte sonst auf die Idee kommen: Es ist zwar nett, was du mit deinen Raketen planst, aber wir betrachten in Zukunft den Weltraum als eine hoheitliche Aufgabe.  

Sie haben in einem ZDF-Interview noch einmal dargestellt, wo es für die militärische Unterstützung der Amerikaner Grenzen gibt: also nicht zu versuchen, die Nutzung russischen Satelliten zu unterbinden. 

Ja, genau. 

Hätten sie die Möglichkeiten, das zu unterbinden? 

Damit kommen wir zu den Absichten des Westens. Die Russen haben sich beim Einmarsch völlig verkalkuliert. Jetzt versuchen sie sich von diesem Schock zu erholen. Und der große Punkt, den die Russen jetzt für sich in Anspruch nehmen, ist der Faktor Zeit. Die Russen sagen, wir müssen einfach nur durchhalten, denn der Westen wird es sicher nicht so lange aushalten, wie wir das ausgehalten haben. Sie werden versuchen, mit China, Indien, der Türkei, dem Iran, mehr oder minder mit der südlichen Halbkugel, ein Arrangement zu treffen, das es ihnen auf lange Sicht ermöglicht. Und es gibt unterschiedliche Zahlen dazu: 60 Prozent der Staaten unterstützen die westlichen Sanktionen, 40 Prozent nicht. Wie das auch immer berechnet wird: Es sind genug da, dass die Russen ihre Wirtschaft auf lange Sicht noch am Leben halten können. Und wenn nicht der berühmte Schwarze Schwan auftaucht, wird das so bleiben. 

Der Schwarze Schwan? 

Ein Ereignis, das alle Annahmen über den Haufen wirft. Wie der Oktober 1917 in Russland während des Ersten Weltkrieges.

Es gibt viele Aspekte, die das Durchhaltevermögen erklären. Auch die russische Seele, wenn man das so sagen kann, und das Zusammenstehen im Krieg. Damit kommen wir jetzt zum Westen. Aus meiner Sicht gibt es nur einen, der eine Strategie hat, eine, die auch wirklich hinterlegt ist. Die Amerikaner handeln als eine Hegemonialmacht, die zunehmend unter Druck kommt. Das Vorgehen der Russen soll keine Schule machen, wo jemand gegen jede Regel handelt, gegen das Völkerrecht und gegen den UN-Sicherheitsrat, weil er glaubt, das stehe ihm zu.

Jetzt kann man argumentieren, die Amerikaner handelten nicht anders. Was geschah im Kosovo, in Libyen, im Irak und in Afghanistan? Klar. Aber man darf nicht eines nicht vergessen: Die Amerikaner sehen sich als die letzte Supermacht, die nach dem Kalten Krieg übriggeblieben ist. Und es gibt nur amerikanische Interessen in dieser Welt. Das mag uns gefallen oder nicht, aber es ist all jenen gesagt, die sagen: Die Amerikaner sind schuld. Wer ist schuld? Die Europäer, weil sie es zugelassen haben, dass es nur amerikanische Interessen in Europa gibt? 

Eine relevante Frage. 

Wer ist verantwortlich für diesen Zustand? Ist es die Verantwortung der Europäer, ihre Sicherheitspolitik selbst in die Hand zu nehmen? Oder ist die Ursache in dem Sinne zu interpretieren, dass die Amerikaner machen, was sie wollen in Europa, solange sie dort kein Hindernis haben? In Europa werden amerikanische Interessen durchgesetzt, die sie als Hegemon für sich in Anspruch nehmen. Man darf eines nicht vergessen: Auch die Amerikaner kommen mittlerweile massiv unter Druck. Da gab es im letzten Jahr einige Ereignisse, die viele übersehen haben. Es gibt immer dieses Beispiel von dem Raketenangriff der Iraner auf die US-Luftwaffenbasis Ain Al Asasad, der unbeantwortet blieb. Die Iraner haben das registriert und begonnen, immer mehr Ambitionen zu zeigen.

Das ist das böse Erwachen für die Europäer in dieser Situation. Wir müssen uns ernsthafter die Frage stellen: Wollen wir als Europäer in dieser Sicherheitspolitik eigenständig werden oder nicht? Emmanuel Macron hat aus meiner Sicht sehr wohl recht, wenn er diese strategische Autonomie befürwortet. Nehmen wir Nord Stream I und II: Es ist eigentlich völlig egal, wer das gesprengt hat. Aber ist es nicht ein Wahnsinn, dass ein wesentliches Element für die Energieversorgung Europas von jemandem zerstört wird? Wir haben nicht einmal eine Ahnung, wer das war, oder? Oder scheuen uns davor, es zu sagen oder was auch immer. Das zeigt, wie handlungsunfähig wir in dieser Sache sind.

Das Gespräch führte Frank Lübberding. Den zweiten Teil lesen Sie morgen. Darin spricht Reisner über westliche Kriegsziele, einen möglichen Friedensschluss und die drohende Eskalation zu einem globalen Krieg der Weltmächte.

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