Roderich Kiesewetter zur aktuellen Lage im Ukraine-Krieg - „In den letzten 14 Tagen sind über 1.500 ukrainische Soldaten gefallen“

In der Ukraine sehen sich die heimischen Truppen massiver Artillerie-Angriffe durch Russland gegenüber. Der Oberst a.D. der Bundeswehr und CDU-Politiker Roderich Kiesewetter schätzt im Interview die derzeitige Lage ein, erklärt, was es mit dem Kriegsziel der Rückeroberung der Krim auf sich hat, warum Frankreich die Führungsrolle Deutschlands in Europa übernehmen könnte und was er sich von Olaf Scholz und dessen Reise mit Macron und Draghi nach Kiew erhofft. Wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnt, so Kiesewetter, werde das weitreichende geopolitische Folgen haben.

Auf dem Posten: Ukrainischer Soldat in Sjewjerodonezk / Oleksandr Ratushniak, picture alliance
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Roderich Kiesewetter (CDU) ist Oberst a.D. der Bundeswehr. Seit 2009 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages und vertritt als Direktkandidat den Wahlkreis Aalen-Heidenheim. Er ist Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss.

Herr Kiesewetter, in der Nacht auf Mittwoch sollen russische Truppen gleich mehrere Sturmangriffe in der Ostukraine durchgeführt haben. Aus Kiew hieß es zuletzt unter anderem, man kämpfe in Sjewjerodonezk um jede Straße. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Ukraine ein?

Gegenwärtig erleben wir sehr klar, wie der Ukraine-Krieg in einen Abnutzungskrieg übergeht. Dabei kommt die materielle Überlegenheit der Russen zum Tragen. Wir sehen eine Artillerie-Überlegenheit der Russen von 20 zu eins teilweise von 70 zu eins und einen furchtbaren Bombenterror, der die ukrainischen Soldaten massiv zermürbt, weil die Ukraine nicht rechtzeitig weitreichende oder auch schwere Waffen erhalten hat, um sich gegen die russischen Kriegsverbrechen und das militärische Vorgehen Russlands zu wehren. Strategisch verfolgt Wladimir Putin zwei Interessen: Geländegewinne, die er macht, auch zu behalten. Und zweitens, dass der Krieg langsam aus den Schlagzeilen gerät. Aus Deutschland müssen deshalb endlich konzertiert schwere Waffen geliefert werden, weil ansonsten ein Zerfall der Ukraine und ein Festbeißen Russlands droht, das den Krieg nach einer Erholungspause fortsetzen würde. 

Wie lange kann die Ukraine noch standhalten?

Klar ist, dass es derzeit extrem schwer ist für die Ukraine. Den Soldaten fehlt zum Beispiel weitreichende Artillerie, um die Russen fernzuhalten. Und es fehlt nötige Logistik, weil die Frontlinie immer größer wird. Die gesamte Front ist jetzt über 2.300 Kilometer lang und auf etwa 1.200 Kilometern davon finden gerade Kampfhandlungen statt. Wir sollten deshalb nicht spekulieren, wie lange die Ukraine durchhalten kann, sondern solchen Spekulationen im Gegenteil entgegentreten. Wir brauchen eine klare Botschaft aus der Europäischen Union, dass stärkere Lieferungen kommen, und auch Deutschland muss die vom Bundestag am 28. April zugesagten Lieferungen schwerer Waffen endlich umsetzen.

Welche Waffensysteme braucht die Ukraine insbesondere?

Es geht darum, dass die Ukraine nicht aufgeben will. Um dieses Durchhalten zu ermöglichen, hat die Ukraine schon vor Wochen zum Beispiel eine Liste benötigter Waffensysteme an Deutschland gegeben. Auf dieser Liste standen unter anderem Kampfpanzer wie der Leopard, Schützenpanzer wie der Marder, Geschütze wie die Panzerhaubitze 2000 und Raketenwerfer wie das System MARS. Die Bundeswehr hat ausreichend Bestände und die Industrie ist in der Lage, diese Waffensysteme zu liefern. Außenministerium und Wirtschaftsministerium haben dem zugestimmt, wie ich höre. Es fehlt die Ausfuhrgenehmigung des Bundessicherheitsrates unter Vorsitz des Kanzleramtes, der solche Waffenlieferungen ermöglichen muss.

Ist also die Bürokratie das Problem?

Ich sehe das Problem eher im politischen Willen.

Aber Bundeskanzler Olaf Scholz sagt doch, Deutschland stünde fest an der Seite der Ukraine. 

Wenn der politische Wille wirklich da wäre, würde man viel mehr tun. So wie wir seinerzeit unter Ursula von der Leyen den Kurden geholfen haben gegen den IS, indem wir den Peschmerga Panzerabwehrraketen vom Typ Milan geliefert haben. Das war damals das notwendige Mittel gegen die Terroristen. Heute sind die notwendigen Mittel Kampfpanzer, Artillerie und Schützenpanzer. Und ich glaube, dass es ganz entscheidend ist, dass die Industrie – die ja schon seit Ende Februar sagt, dass sie liefern kann – auch die Genehmigungen dafür erhält. Aber nochmal: Es ist nicht die Bürokratie, es ist der politische Wille. Und den sehe ich zumindest im Bundeskanzleramt bisher nicht.

Warum?

Der Kanzler sagt, dass Russland nicht gewinnen darf. Aber er sagt nicht, dass die Ukraine gewinnen soll, sondern, dass sie fortbestehen muss. Das würde auch auf eine Ukraine zutreffen, die deutlich weiter westlich liegt. Der ukrainische Präsident hat ja schon gesagt, dass man sich vor einem Minsk III, also einer neuen Waffenstillstandslinie, fürchtet, hinter der sich Russland eingraben kann. Wie schon vor einigen Jahren hinter Minsk II. So könnten die Russen ihre Kräfte wieder sammeln und den Angriff schließlich fortsetzen.

Was befürchten Sie?

Das Ziel Russlands ist nicht nur die Eroberung des Donbass, sondern die Ukraine zu vernichten, um dann gegen Moldau und das Baltikum vorzugehen. Das hat Putin letzte Woche sehr deutlich gesagt, indem er sich mit Peter dem Großen verglichen hat. Der hat einst Schweden angegriffen und sich genommen, was er für Russland beanspruchte. Wir müssen endlich begreifen, dass Putin imperiale Absichten hat. Und wir sollten nicht glauben oder darauf vertrauen, dass mit Putin ein Verhandlungsfrieden zu erreichen ist. Deshalb ist es so entscheidend, dass die Ukraine die Chance hat, ihre Grenzen zumindest vom Januar dieses Jahres wiederherzustellen.


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Russland stand vor wenigen Wochen noch vor Kiew, dann haben sich die Kampfhandlungen sukzessive in den Osten und Süden des Landes verlagert. Heißt: Eigentlich wurden die Russen bereits zurückgedrängt. Nun warnt aber auch das US-Verteidigungsministerium davor, dass Putin weiterhin vorhabe, große Teile der Ukraine zu erobern. Wo sehen Sie die konkreten Anzeichen dafür, dass dem so ist?

Ich sehe dafür ganz klare Anzeichen. Erstens, dass Russland massiv weiter im Osten vorgeht und versucht, die noch verbliebenen etwa 40.000 ukrainischen Soldaten einzukesseln. Russland geht dabei vor wie eine Dampfwalze oder, um das noch plastischer und ziviler auszudrücken, wie wenn man etwas auf Löschpapier gießt: langsam, aber stetig. Und die Russen beginnen ja sofort mit der Besetzung und mit einer Russifizierung der eroberten Gebiete. Waisenkinder oder Kinder, deren Eltern man nicht findet, werden zur Adoption in Russland freigegeben. Wir sprechen von etwa 100.000 Kindern, die davon bedroht sind. Es werden Screening-Lager eingerichtet und Putin hat die Devise ausgegeben, dass die Ukraine nicht weiterbestehen darf. Das heißt, wenn der Donbass genommen ist und die ukrainischen Truppen eingekesselt sind, dann wird der Kampf weitergehen. Dann könnte auch der Kampf um Kiew neu entflammen. 

Ich habe vor gut zwei Wochen mit dem Militärökonomen Marcus Matthias Keupp über den Ukraine-Krieg gesprochen. Der sagte damals: „Der Krieg lief für die Ukraine noch nie so gut wie jetzt.“ Was hat sich in der kurzen Zeit verändert, dass dem nicht mehr so ist?  

Die Ukrainer haben ihre Munitionsvorräte aufgebraucht und sie haben so hohe Verluste, dass sie große Schwierigkeiten haben, diese auszugleichen. Pro Tag sterben derzeit etwa 100 ukrainische Soldaten, weitere 500 verliert die Armee durch Verwundung. Das heißt, in den letzten 14 Tagen sind über 7.000 Soldaten verwundet worden und über 1.500 Soldaten gefallen. Das macht auch etwas mit der Psyche der Überlebenden. Hinzu kommt, dass die Russen äußerst massiv Artillerie einsetzen. Sie können sich vielleicht vorstellen, was es bedeutet, wenn auf einem Kilometer Frontlinie alle 50 Meter ein Geschütz steht. Die Russen setzen am Tag zwischen 20.000 und 30.000 Artillerie-Granaten ein. Dem können die Ukrainer derzeit 500 bis 600 entgegensetzen, obwohl sie 5.000 bis 6.000 einsetzen müssten. Als ich mit Friedrich Merz die Ehre hatte, mit Selenskyj sprechen zu dürfen, wurde sehr deutlich, wie sehr die Ukraine auf die Waffenlieferungen aus Deutschland vertraut hat. Nun schwindet die Zuversicht und Bitterkeit macht sich breit, die sich massiv auf die Motivation der ukrainischen Politik und auch der ukrainischen Streitkräfte auswirkt.

Woran machen Sie das zum Beispiel fest?

Wir sehen das etwa daran, dass Wolodymyr Selenskyj gar nicht mehr sagen kann, dass er die Ukraine in den Grenzen vom Januar dieses Jahres wieder haben will, ohne, dass zum Beispiel Kritik aus der Opposition kommt. Dann heißt es: „Schau mal, die Europäer lassen dich hängen – und jetzt willst du auch noch die Krim aufgeben!“ Ähnlich enttäuscht von Deutschland sind die Polen und die Balten. Da wird eine Brigade versprochen im Baltikum und dann kommt heraus, dass die Brigade aber in Deutschland stationiert sein muss, aus welchen Gründen auch immer. Und die Polen haben Ende März um 400 bis 600 Leopard-Panzer gebeten, damit sie 400 bis 600 Panzer an die Ukraine liefern können. Und was haben wir gemacht? Nichts haben wir geliefert, sodass die Polen der Ukraine nur etwa 200 schicken konnten.

Das ist ziemlich ernüchternd. Der Krieg hat ja nicht erst vorgestern begonnen. 

Der Krieg läuft, während wir sprechen, seit 112 Tagen.

Klar ist aus Ihrer Sicht also, dass die Bundesregierung derzeit keine gute Figur macht. Sind wir gerade dabei, unseren Führungsanspruch in Europa zu verspielen? 

Ich hoffe, dass der Bundeskanzler diesem Eindruck bei seiner Reise mit Mario Draghi und Emmanuel Macron nach Kiew entgegentrat, weil sonst Ihre Befürchtung tatsächlich eintritt: Dann hätten wir unseren Führungsanspruch nicht nur verspielt, sondern für viele Jahre auch das Vertrauen unserer Partner verloren. Wir als größte Oppositionspartei stehen ja hinter dem Bundestagsbeschluss. Wir stehen hinter der Rede von Olaf Scholz, wir unterstützen ihn. Aber wir sehen ja, dass selbst von Mitgliedern der Bundesregierung ein stärkeres Vorgehen gefordert wird. Ich glaube, dass mittlerweile auch in Teilen der Bundesregierung Zweifel bestehen, ob Deutschland seinen Führungsanspruch überhaupt wahrnehmen will.

Zweifel scheinen mir ja das Letzte, was wir derzeit brauchen.

Ich denke, dass auch der Bundeskanzler mit mir übereinstimmt, wenn ich sage, dass wir nicht in einem Europa leben wollen, in dem Putin – der uns mehrfach belogen hat – für einen Angriffskrieg auch noch belohnt wird. Waffenstillstandsverhandlungen über die Köpfe der Ukrainer hinweg, darf es nicht geben. In der Ukraine, so viel steht für mich fest, wird auch unsere Freiheit und die Freiheit Europas verteidigt. Und die angebliche Nation Europa hilft derzeit einfach zu wenig, dass die Ukraine in ihren Grenzen vom Januar bestehen kann – daher rühren diese Zweifel. Nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch bei unseren europäischen Nachbarn, was die Rolle Deutschlands in Europa betrifft. 

Sie sprachen gerade von Emmanuel Macron. Macht Frankreich derzeit die bessere Figur? Und könnte das Land den Führungsanspruch sozusagen von Deutschland übernehmen? 

In jedem Fall liefert Frankreich mehr als Deutschland. Sie liefern schwere Artillerie-Systeme, die vergleichbar sind mit der Panzerhaubitze M109, also nicht so modern wie die Panzerhaubitze 2000. Aber Frankreich liefert auch nicht nur sieben Stück, sondern 20 und darüber hinaus Munition. Diese Haubitzen sind schon seit Wochen im Einsatz. Also ist Frankreich, obwohl sie zurückhaltend wirken, deutlich konkreter. Dem Land ist als permanentes Mitglied im UN-Sicherheitsrat und als Nuklearmacht natürlich auch bewusst, wie zurückhaltend hier Deutschland ist und füllt dieses Vakuum. Und ich glaube, dass Macron auch sehr deutlich sieht, dass er mit den Amerikanern in ein Einvernehmen kommen muss.

Warum?

Frankreich hat sehr eigene Interessen, eine militärische Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Etwa, um den Amerikanern zu signalisieren, dass der verlässlichere Partner im Bereich der militärischen Unterstützung Frankreich ist. Macron baut da auch vor, weil er befürchtet, dass Trump wiedergewählt wird. So würde automatisch Frankreich erster Ansprechpartner der USA in Europa.

Im Zusammenhang mit den Waffenlieferungen ist mir heute eine Pressemitteilung der Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen untergekommen. Darin heißt es, dass durch die „massiven Waffenlieferungen“ mittlerweile ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Nato in der Ukraine geführt werde. Was halten Sie von dieser Einschätzung?

Frau Dağdelen – die derzeit in den USA ist – hat ja auch gesagt, es gebe dort Stimmen, die sagen würden, man müsse jetzt einen Verhandlungsfrieden suchen. Da hat sie sich natürlich ganz bestimmte Leute ausgesucht, weil sie ganz eigene Interessen verfolgt, die zu denen von Russland passen. Es geht hier aber um das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der UN-Charta. Jedes Land der Welt hat das Recht, die Ukraine mit den Mitteln, die es für richtig hält, zu unterstützen. Wir dürften sogar mit Soldatinnen und Soldaten unterstützen, wenn wir das wollten. Wir tun es nur nicht, weil die nukleare Abschreckung funktioniert. Insofern ist es jetzt ganz wichtig, der Ukraine, die ja Teil der regelbasierten Ordnung werden will; der Ukraine, die mal die drittstärkste Nuklearmacht der Welt war, zu helfen. Alles andere ist eine Täter-Opfer-Umkehr.

Mit weitreichenden Folgen für die Ukrainer.

Richtig. Ich habe in meiner Berliner Wohnung über die Botschaft Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Die sagen, dass sie auf gar keinen Fall Teil Russlands werden wollen. Sie wollen Teil der Ukraine sein, in der Hoffnung, dass die Ukraine Teil der Europäischen Union wird. Dafür haben sie Selenskyj auch gewählt, damit er die Ukraine von diesen Oligarchen befreit. Wenn Selenskyj nicht die Unterstützung bekommt, die er braucht, schlägt bald wieder die Stunde der Oligarchen, die korrupt sind, die das Land ausplündern und die ihre eigenen Geschäfte mit Russland und der EU machen. Das müssen wir unbedingt verhindern. Und wir müssen dem US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden den Rücken stärken, damit in den USA nicht jene Kräfte überhandnehmen, die fordern, dass die Ukraine eine Waffenstillstandslinie akzeptieren soll. Wenn Russland wieder erstarkt, geht es vielleicht bald schon gegen Moldau und das Baltikum, vielleicht auch gegen Georgien. Mit weitreichenden, globalen Folgen. Es ist also auch in unserem europäischen Interesse, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Einen weiteren Aspekt würde ich in dem Zusammenhang aber gerne noch ansprechen.

Bitte. 

Wir fordern von Marokko und Ägypten und anderen afrikanischen Staaten gute Regierungsführung, ein funktionierendes Steuersystem, den Schutz von Frauen und Minderheiten. Diese Länder sehen aber gerade, wie wir ein Land, das Teil unserer Ordnung werden will, zerbrechen lassen und ihm einen Diktatfrieden aufschwätzen wollen. Dann sagen diese Länder doch: „Moment mal, wenn die ein Land, das so nah dran ist an der Europäischen Union, nicht unterstützen, wieso sollen wir dann mit Europa kooperieren? Im Zweifel lassen die uns hängen“. Und arbeiten dann lieber mit dem lachenden Dritten zusammen: mit China. Denn China schaut diesen Ländern weder in die Bücher, noch pocht es auf Menschen- oder Bürgerrechte oder demokratische Strukturen. China stellt auch keine Forderungen, wonach sich diese Länder irgendeiner Ordnung verpflichten müssten. Wenn die Ukraine fällt, steht also auch unser Standing in Afrika und in anderen Teilen der Welt auf dem Spiel. 

Das sind ja Zusammenhänge, über die kaum diskutiert wird. Müssen wir, insbesondere Deutschland, erst wieder lernen, wie Geopolitik funktioniert?

Absolut. Sie haben gerade Frau Dağdelen und ihre „Stellvertreterkrieg“-Behauptung angesprochen. Genau das Gegenteil von dem, was Frau Dağdelen behauptet, ist richtig. Lassen Sie mich das etwas zuspitzen: Wenn Russland gewinnt, ist das ein Zeichen, dass überall aufgerüstet werden muss. Dann werden andere Staaten, die nicht Blöcken angehören – darunter Südafrika, Indien oder der Iran – nuklear aufrüsten. Der Iran ist ja schon kurz davor. Geopolitik heißt eben auch, ganz klar zu erkennen, dass es Mächte auf der Erde gibt, die die regelbasierte Ordnung ablehnen und die Souveränität und Integrität von schwächeren Staaten nicht akzeptieren, weil sie in Einflusszonen denken. Wenn das so weitergeht, sind wir irgendwann wieder da, wo wir vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Und das müssen wir unbedingt verhindern. Deswegen ist es schon sehr richtig, was Sie sagen, dass wir eine Rückkehr zum Verständnis von Geopolitik brauchen.

Was kann die Bundesregierung hier tun?

Die nationale Sicherheitsstrategie, die bis zum Jahreswechsel vorliegen soll, muss sehr klar mit Blick auf Interessen, Definitionen, Prioritätensetzung und Fähigkeiten aufgedröselt werden. Unser Interesse ist der Erhalt der regelbasierten Ordnung. Und da gehört ein Sieg der Ukraine und eine Wiederherstellung der Souveränität in den Grenzen vom Januar dieses Jahres dazu.

Auch eine Rückeroberung der Krim, die Selenskyj nach wie vor als Kriegsziel ausgibt?

Selenskyj muss das machen, weil er innenpolitisch extrem unter Druck steht. Ich bin selbst Zeuge geworden, dass er eine Rückeroberung der Krim eigentlich für abwegig hält. Aber er ist so unter Druck, auch aus der Opposition, durch Poroschenko und andere, dass er dieses Ziel nicht mehr aufgeben kann. Wir dürfen nicht vergessen: Bevor bekannt wurde, welche Kriegsverbrechen durch Russland in Butscha, in Mariupol und anderswo begangen wurden, hat Selenskyj seinen Verhandlungsführern nach Weißrussland und nach Istanbul fünf spannende Punkte mitgegeben.

Die da wären?

Erstens: Verzicht auf die Krim. Zweitens: Verzicht auf Donezk und Luhansk in den Grenzen vom Januar dieses Jahres. Drittens: Verzicht notabene auf eine Nato-Mitgliedschaft. Viertens: Neutralität. Und Fünftens: eine klare EU-Perspektive. Manches davon ist angesichts der russischen Kriegsverbrechen jetzt nicht mehr machbar, weil in der Ukraine dann manche Menschen sagen würden: „Du akzeptierst trotz der russischen Kriegsverbrechen also die endgültige Abtretung der Krim?!“ Selenskyj braucht eine gewisse Verhandlungsmasse, falls es zu einem Friedensvertrag mit Russland kommen soll. Deshalb muss er derzeit auch die Rückeroberung der Krim fordern, damit es überhaupt noch eine Chance auf Verhandlungen geben kann. Denn in solche würde Selenskyj aktuell sehr geschwächt gehen. Und wir tragen die Verantwortung dafür, weil wir zugesagte Waffensysteme nicht geliefert haben. 

Wäre ein möglichst rascher EU-Beitritt der Ukraine jetzt geboten?

Nein. Ich halte aber einen sehr raschen Kandidatenstatus noch in diesem Monat beim EU-Gipfel für sinnvoll, weil es ein Zeichen an die ukrainische Bevölkerung wäre: „Die Europäische Union gibt euch nicht auf. Ihr seid ein Teil von uns, ihr werdet ein Teil von uns.“ Selenskyj ist sich sehr bewusst, dass sich die Beitrittsverhandlungen mindestens 20 Jahre hinziehen werden, weil natürlich die Ukraine auch von einem Beitritt profitieren muss. Und wenn sie jetzt beitreten würde, wäre sie überhaupt nicht in der Lage, das Regelwerk dafür auch sinnvoll anzuwenden und die richtigen Fördermittel zu bekommen und so weiter. Aber es wäre ein ganz starkes Zeichen der Zuversicht. Auch, dass die Flüchtlinge zurückkehren können. Auch, dass die Menschen, die das Land verlassen haben, wissen: Unser Land hat eine Zukunft. Außerdem wäre ein Kandidatenstatus der Ukraine eine wirklich starke Verhandlungsposition, weil dann unverrückbar eine Westbindung gegeben wäre. Neben der Lieferung schwerer Waffen. Vielleicht noch eine letzte Anmerkung.

Gerne.

Wir wollen keinen Systemwechsel in Russland. Das ist Sache der russischen Bevölkerung. Aber entscheidend ist, dass Russland nach Putin keinen Putin Hoch Drei an der Spitze hat; dass Russland nicht zerfällt. Denn das hätte nur Krieg zufolge, Massenmigration und dass Russland zur verlängerten Werkbank Chinas würde. Aber Russland muss drei Forderungen erfüllen: 1. Es müssen Reparationszahlungen an die Ukraine fließen. Das kann auch in Form von natürlichen Ressourcen erfolgen. 2. Es müssen die Kriegsverbrechen russischer Soldaten aufgearbeitet werden, die derzeit mit mobilen Krematorien vertuscht werden. Und 3. es müssen wieder sichere Grenzen entstehen. Dafür braucht es entweder ein geschwächtes Russland oder ein Grenzregime, wo die Vereinten Nationen oder wer auch immer die Grenzen sichert, damit Russland nicht zu neuen Angriffen ansetzen kann. 

Das Gespräch führte Ben Krischke.

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