Schwarzmeerraum - Das Wiedererstarken der Türkei

Wegen des Ukraine-Krieges schwindet Moskaus Einfluss im Südkaukasus. Das nimmt man nicht nur in Armenien wahr. Die Türkei ist bestrebt, auf Kosten Russlands die Führung in einem ihrer ehemaligen Einflussgebiete wiederherzustellen.

Aserbaidschaner feiern im November 2020 das Ende der Kämpfe um Berg-Karabach / dpa
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Kamran Bokhari ist Experte für den Mittleren Osten an der Universität von Ottawa und Analyst für den amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Die Schwächung Russlands, insbesondere nach der Invasion in der Ukraine, hat schwerwiegende Auswirkungen auf dessen Südflanke. In den kommenden Jahren wird Moskaus Fähigkeit, seine Macht im Schwarzmeerraum zu demonstrieren, abnehmen – und einer der Hauptprofiteure wird die Türkei sein. Obwohl die Türkei derzeit von politischen und wirtschaftlichen Problemen im eigenen Land überrollt wird, ist mittel- bis langfristig damit zu rechnen, dass sie das strategische Vakuum ausfüllen wird, das Russlands schwindender Einfluss in der Kaukasusregion hinterlässt.

Die Länder der Region beginnen sogar, Russlands Niedergang öffentlich anzuerkennen. In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica vom 4. September sagte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan, Russland habe es versäumt, die Sicherheit seines Landes gegenüber einem zunehmend aggressiven Aserbaidschan zu gewährleisten, das seit Ende 2020 in der umstrittenen Region Berg-Karabach die Oberhand gewonnen hat. Als Reaktion auf die Behauptungen erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gegenüber Reportern, sein Land sei weiterhin der „Garant für Sicherheit“ in der Region. Peskow betonte außerdem, dass Moskau eine beständige Rolle bei der Stabilisierung der Region gespielt habe und dies auch weiterhin tun werde.

Unabhängig davon bezeichnete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, die Äußerungen Paschinjans als öffentliche Rhetorik, die an Unhöflichkeit grenze, und fügte hinzu, dass die Armenier die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen sollten, anstatt anderen die Schuld zu geben. Einen Tag zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium bekannt gegeben, dass es den Leiter seiner Friedenstruppen im Südkaukasus ausgetauscht hat – die zweite wichtige Veränderung in den vergangenen Monaten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Moskau jahrzehntelang Sicherheitsgarant der Region

Die Äußerungen des armenischen Premierministers waren außergewöhnlich, vor allem wenn man bedenkt, dass Eriwan seit langem ein enger Verbündeter Moskaus und bei seiner Sicherheit und seinem wirtschaftlichen Wohlergehen auf den Kreml angewiesen ist. Die Reaktion Russlands war ebenso aufschlussreich und spiegelt wider, wie schwach seine Position geworden ist – zumindest im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, beides ehemalige Sowjetrepubliken, die Beziehungen zu Russland unterhalten. Paschinjan erklärte die Unfähigkeit Moskaus, für die Sicherheit Armeniens zu sorgen, damit, dass der Kreml mit dem Ukrainekrieg beschäftigt sei. Tatsache ist jedoch, dass die Situation im Südkaukasus dem Konflikt in der Ukraine vorausgeht.

Im Sommer 2020 brachen die Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach erneut aus. Aserbaidschan eroberte Gebiete zurück, die Armenien seit dem Ende des ersten Berg-Karabach-Kriegs, der 1994 endete, kontrolliert hatte. Die Aserbaidschaner waren in der Lage, das regionale Gleichgewicht der Kräfte umzukehren, vor allem dank der militärischen und geheimdienstlichen Unterstützung durch ihren Verbündeten Türkei. Die Türken nutzten eine Öffnung in einem Gebiet, das zweifellos zum Einflussbereich Russlands gehörte.

 

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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Moskau jahrzehntelang der Sicherheitsgarant der Region gewesen – was erklärt, warum der Berg-Karabach-Konflikt ein Vierteljahrhundert lang zugunsten Armeniens eingefroren blieb. Die Türkei und Aserbaidschan sahen eine Chance darin, dass sich Russland seit dem Sturz der prorussischen Regierung in Kiew im Februar 2014 auf seinen westlichen Nachbarn konzentriert. Ankara und Baku erkannten, dass Moskau abgelenkt war und wahrscheinlich nicht in Berg-Karabach intervenieren würde – trotz der Tatsache, dass es Truppen in der Region stationiert hatte und immer noch hat. Ihre Wette ging auf: Als die Kämpfe im Jahr 2020 eskalierten, konnten die Russen allenfalls die formelle Einstellung der Feindseligkeiten im selben Jahr verkünden.

Russlands friedenserhaltende Operation, die im Anschluss an den Konflikt im Jahr 2020 begann, war ohne Effekt, weil Moskau sich wahrscheinlich bereits auf den Krieg in der Ukraine vorbereitete, von dem es glaubte, dass er seine Position gegenüber dem Westen stärken oder zumindest seinen weiteren Niedergang verhindern würde. 19 Monate nach Beginn des Ukraine-Feldzuges befinden sich die Russen in einer weitaus schwächeren Position angesichts der schlechten Leistungen der russischen Streitkräfte vor Ort, der wirtschaftlichen Auswirkungen der westlichen Sanktionen und – in jüngster Zeit – der internen Streitigkeiten im Kreml, die durch die Wagner-Krise verdeutlicht wurden.

Armenien versucht, trotz Widerstands im eigenen Land, mit der Türkei zusammenzuarbeiten

Auch wenn Paschinjan dies erst kürzlich öffentlich geäußert hat, sieht er die Russen schon seit einiger Zeit taumeln. Seine Äußerungen zeigen, dass er erkannt hat, dass sich sein Land nicht mehr auf Russland verlassen kann und eine neue Strategie braucht. Er hat auch verstanden, dass Washington trotz der offiziellen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch das Osmanische Reich im April 2021 nur sehr wenig getan hat, um die türkisch-aserbaidschanische Annäherung im Südkaukasus in Frage zu stellen. In der Tat wird immer deutlicher, dass die Interessen der USA und der Türkei konvergieren, insbesondere angesichts der Situation in der Ukraine. Aus diesem Grund hat Paschinjan trotz des Widerstands im eigenen Land versucht, mit den Türken zusammenzuarbeiten, um sein Land gegen ein zunehmend selbstbewusstes Aserbaidschan abzuschirmen.

Die Armenier sind nicht die Einzigen im nahen Ausland, die die tektonischen Verschiebungen in Russland bemerken. Auch die Georgier beobachten die Situation genau. Für sie steht mit der Präsenz russischer Streitkräfte in zwei abtrünnigen Regionen, Abchasien und Südossetien, viel auf dem Spiel. Jede weitere Schwächung Moskaus könnte es ihnen ermöglichen, die Kontrolle über diese beiden Gebiete wiederzuerlangen. Angesichts der Anzeichen für eine zunehmende Annäherung zwischen Ankara und Tiflis würde Georgien die Hilfe der Türkei sicherlich nicht ablehnen, wenn sie ihm angeboten würde.

Im Moment konzentrieren sich die Türken darauf, den Ukraine-Konflikt zu nutzen, um ihren Einfluss im nördlichen Schwarzmeerraum zu stärken, den die Russen im späten 18. Jahrhundert vom Osmanischen Reich übernommen hatten. Seit 2014 wehren sich die Türken gegen die russische Annexion der Krim, deren tatarische Bevölkerung sie als ihre ethnische Verwandtschaft betrachten. In jüngster Zeit sind die Rolle Ankaras bei der Vermittlung des inzwischen gescheiterten Schwarzmeergetreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine und seine Bemühungen um dessen Wiederbelebung ein kleiner, aber wichtiger Teil der türkischen Strategie in diesem Bereich.

Letztlich versuchen die Türken, auf Kosten Russlands die Führung über ihren früheren Einflussbereich wiederherzustellen.

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