Erdbeben in der Türkei - „Das ist nicht Schicksal, das ist ein Massaker“

Während AKP-Politiker in den Erdbebengebieten von Schicksal sprechen, steht für die Opposition das politische und behördliche Versagen im Vordergrund. Viele Türken eint der Wunsch, dass die Verantwortlichen für die systematische Missachtung der Bauvorgaben bestraft werden.

Das Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien hat Zehntausende Opfer gefordert / picture alliance
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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„Wenn Sie ein Land kennenlernen möchten, schauen Sie sich erst einmal an, wie die Menschen dort sterben“, sagte Faik Öztrak, Sprecher der sozialdemokratischen Partei (CHP), während einer Pressekonferenz am 24. Februar. Die behördliche Genehmigung von Bauten, die Baurichtlinien missachteten, so Öztrak weiter, seien mit Schuld am Tod zehntausender Menschen nach den Erdbeben in der Türkei und in Nordsyrien – und damit auch die türkische Regierung.

Öztrak forderte zuletzt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dazu auf, seinen Posten zu räumen. Eine Forderung, der sich bekannte Politiker und Bürger des Landes in unterschiedlichen Formen anschließen. So erregte der Sprechchor „Hükümet istifa“ (Regierung, tritt zurück) von Fußballfans der bekannten Klubs Fenerbahce und Besiktas große mediale Aufmerksamkeit. 

Politiker des bürgerlichen und linken Lagers sind darum bemüht, die Opfer des Erdbebens mit eigens aufgebauten Hilfscentern vor Ort zu unterstützen. Kritiker des „Saray-Regimes“ (Palast-Regimes), wie Oppositionelle Erdogans Regierung in Anspielung auf seinen Palast ähnlichen Amtssitz bezeichnen, fordern die Einberufung einer Untersuchungskommission zu den Hintergründen der systematischen Missachtung von Bauvorschriften. 

Erdogan weist jegliche Schuld von sich

Dass bei der Vergabe wichtiger Bauprojekte AKP-nahe Bauherren und Firmen beauftragt wurden und werden, davon gehen viele aus. Architekten, Seismologen und Geologen kritisieren zudem, dass bei der Bebauung erdbebengefährdeter Regionen – trotz ihrer Warnungen und behördlicher Vorgaben – Baustandards nicht eingehalten wurden und dies mit ausdrücklicher Genehmigung von Behörden.

„Es gibt für alles, was passiert, einen Sinn“, sagt die Oberbürgermeisterin von Gaziantep, Fatma Sahin, beim Besuch von Opfern des Erdbebens. Westlich orientierte, gebildete, linke und kemalistische Milieus kritisieren den Zynismus solcher Aussagen und die anderer AKP-Politiker, die bei ihren Besuchen in den vom Erdbeben schwer gezeichneten Städten Südostanatoliens von Schicksal sprechen. „Das ist nicht Schicksal, das ist ein Massaker“, lautet ein Hashtag, der in türkischen sozialen Medien weit verbreitet ist.

Das wütende Volk besänftigen

Erdogan wiederum weist jegliche Schuld von sich und bezeichnet Kritiker öffentlich als „unehrenhaft“. In der Zwischenzeit wurden laut Justizminister Bekir Özdag 184 Personen festgenommen, meist Bauherren, denen eine Verletzung der Bauvorschriften vorgeworfen wird. Kritische Stimmen sehen diese Festnahmen als Versuch, das wütende Volk zu besänftigen.
 

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Der Bericht der türkischen Architektenkammer (Türk mühendis ve mimar odalari birligi, kurz TMMOB) zeigt, dass vor allem in AKP-Zeiten gebaute Häuser von der Zerstörung betroffen sind. Zwar waren nach dem Erdbeben von Gölcük 1999 mit fast 20.000 Toten die Bauvorgaben verschärft worden, doch zeige die Untersuchung im Erdbebengebiet, dass die Hälfte der zerstörten Gebäude nach 2001 errichten worden sei. Die Missachtung der Bauvorgaben und die nachträgliche Legalisierung von illegal errichteten Bauten seien Mitschuld am Tod zehntausender Menschen, so das Fazit. 

Die Architektenkammer kritisiert außerdem, dass die Bauaufsicht zur Zeit der AKP in Privathand gegeben worden ist und der Staat hierdurch seine Aufsichtspflicht und die Notwendigkeit zur Überwachung von Bauvorgaben vernachlässigt habe. Zudem moniert die Architektenkammer, dass an vielen Orten der Katastrophenschutz erst am dritten oder vierten Tag vor Ort war und die hohe Zahl der Toten auf die Verspätung der Bergungsteams zurückzuführen sei.

Die Ankündigung des Staates, in kürzester Zeit neue Häuser zu errichten, sieht die Kammer kritisch. Sie fürchtet ähnlich schlechte Häuser und fordert die Regierung dazu auf, beim Wiederaufbau der verwüsteten Region transparent zu sein und sich an Bauvorgaben zu halten.  

„Die Spuren der Katastrophe verwischen“

Inzwischen wurde bekannt, dass Regierungspräsident Recep Tayyip Erdoǧan die Behörde für Städtebau und Klimawandel beauftragt hat, die Wälder der Region für die Bebauung neuer Häuser zu nutzen. Eine Rodung der Wälder und der Startbefehl zum Wiederaufbau der Region in einer Zeit, in der viele Familien noch immer die Leichen ihrer verstorbenen Familienmitglieder suchen, die Trümmer nicht beseitigt sind und über 9.000 Nachbeben die Region weiterhin erschüttern, stärkt den Unmut der Menschen.

Aslihan Aykac, Soziologin und Professorin an der Ägäis-Universität, kritisiert in einem Interview mit der linken Tageszeitung Evrensel, dass die Regierung sich mit dem Wiederaufbau der zerstörten Orte, statt mit einer Schadensfeststellung beschäftige. Aykac führt den aus ihrer Sicht voreiligen Aufbau der Region darauf zurück, dass die Regierungspartei AKP mit einem guten Image in den Wahlkampf starten möchte. Wie andere türkische Experten moniert auch sie, dass das Katastrophenmanagement Warnungen von Seismologen weiterhin ignoriert. So wurde in der Region, für die Experten eine Tsunami-Warnung verlauten ließen, von der Katastrophenschutzbehörde AFAD wenige Meter vom Strand entfernt eine Zeltstadt errichtet. 

Die Soziologin warnt zudem vor den sozialen und kulturellen Folgen der Naturkatastrophe. Die betroffenen Gebiete wiesen schon vor dem Erdbeben wirtschaftliche Nachteile zu westlichen Städten der Türkei auf. Mit dem verheerenden Unglück dürfte sich die Kluft nun noch einmal vergrößern. Zudem sind Antakya und Gaziantep die Städte der Türkei, die die meisten syrischen Flüchtlinge aufgenommen haben.

Aykac wünscht sich daher von der Politik, die sozialen und kulturellen Auswirkungen des Erdbebens zu thematisieren. „In unserer politischen Geschichte gibt es keine Tradition von der Übernahme politischer Verantwortung. Aktuell herrscht nur der Wunsch vor, die Trümmer sofort zu beseitigen. Auf diese Weise soll der Zugang zu den Leichen unmöglich gemacht werden, um das Ausmaß an Toten zu verheimlichen. Wir erleben eine echte Krise der Menschheit“, resümiert Aykac die sozialen und politischen Folgen des Erdbebens. 

Zensur nach Kritik an Krisenmanagement

AKP-kritische Sender wie Halk TV, Fox TV sowie Tele 1 berichteten – anders als regierungsnahe Medien – von der Kritik der Bürger im Katastrophengebiet am Krisenmanagement der Regierung. Reporter dieser Sender ließen vom Erdbeben Betroffene zu Wort kommen. Nicht wenige dieser Überlebenden beschuldigten die Regierung, durch das verspätete Eintreffen von Bergungstruppen am Tod ihrer Angehörigen und Freunde mitverantwortlich zu sein. 

Inzwischen bestrafte die türkische Regulierungsbehörde für privaten Rundfunk in der Türkei (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu, kurz RTÜK) alle drei Sender mit Geldstrafen und Programmeinschränkungen. Auch Ekși Sözlük, eine Austauschplattform vor allem junger Türken, wurde gesperrt.

Nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahre 2016 ist die Liste der unliebsamen Medien in der Türkei stetig gewachsen. Erst im Oktober 2022 trat ein Gesetz in Kraft, das für die Verbreitung von „Fake News“ Haftstrafen von ein bis drei Jahren vorsieht. Die einst für ihre Pluralität und viele kritische Stimmen bekannte türkische Medienlandschaft steht inzwischen fast vollständig unter der Kontrolle regierungsnaher Geschäftsleute oder der Regierung selbst. 

Abgeführt und beleidigt 

Überlebende des Erdbebens, die in den wenigen verbliebenen regierungskritischen Medien wie Halk TV in den ersten Tagen nach dem Erdbeben verzweifelt um Hilfe für ihre verschütteten Angehörigen baten und den Staat beschuldigten, sich mit der Bergung der Verschütteten um mehrere Tage verspätet zu haben, wurden inzwischen angezeigt.

Auch Fußballfans der beiden Teams Fenerbahce und Besiktas, die bei den Spielen ihrer Mannschaft zu Tausenden einen Rücktritt der Regierung forderten, wurden von der Polizei abgeführt und von AKP-Politikern in den sozialen Medien beleidigt. Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen stufte die Türkei im Jahr 2021 in ihrer Rangliste der Pressefreiheit von 180 Ländern auf Platz 154 ein. 

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