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Trotz Paris - Der IS hasst „abtrünnige“ Muslime noch mehr als den Westen

In den sozialen Netzwerken häufen sich nach den Anschlägen von Paris die reflexartigen Schuldzuweisungen gegen Muslime und Flüchtlinge. Doch trotz der Terrorserie darf nicht vergessen werden: der IS führt den Krieg auch gegen Muslime. Schiiten würde er gern mit einem Genozid auslöschen

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Nicht einmal 48 Stunden hat es gedauert, nicht einmal eine offizielle Trauerfeier hat es gegeben, da wurden die Anschläge von Paris in den sozialen Medien schon instrumentalisiert. Es wird gegen Flüchtlinge polemisiert, gegen Muslime gehetzt.

Der Publizist Matthias Matussek freute sich klammheimlich, dass der Terror in Paris die Flüchtlingsdebatte in Deutschland demnächst wohl „in eine ganz neue frische Richtung“ bewegen wird. Er setzte ein Smiley hinter seinen Facebook-Post.

Die Meldungen, dass zwei der Attentäter mutmaßlich einen syrischen und ägyptischen Pass besaßen und offenbar mit dem Flüchtlingstrek über Griechenland einreisten, passt da ins Bild. Die Botschaft lautet: Wir sollten uns vor den Flüchtlingen hüten.

Wenn das Wochenende die Westeuropäer aber eines gelehrt haben sollte, dann, wie sich Angst anfühlt. Wie es ist, wenn der Terror plötzlich in den Alltag kriecht. Wie sich ein ausgelassener Freitagabend in einem Fußballstadion oder in einem Musikclub plötzlich in einen Alptraum verwandeln kann. Es ist genau diese Angst, die die Menschen vor dem „Islamischen Staat“ und vor Assads Fassbomben in die Flucht getrieben hat.

Diffuse Ängste dürfen aber nicht dazu führen, dass der Westen nun alte Fehler wiederholt.

Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat von „Krieg“ gesprochen – womöglich will er damit die Nato provozieren, den Bündnisfall zu erklären. Merkel hat ihre Unterstützung angeboten. Aber was heißt das konkret?

„Krieg“ in Zeiten des „Terrors“ – das hatten wir schon einmal. Seit dem 11. September 2001 wurde gebombt, gefoltert, es wurden Grundrechte geschleift. Heute bestreitet niemand mehr, dass die US-Invasion im Irak den Siegeszug des „Islamischen Staates“ erst möglich gemacht hat. Die USA haben im Mittleren Osten einen Morast hinterlassen, in dem der Bazillus gedeihen konnte.

Dieser erhält seine Nahrung von außen; der IS rekrutiert sich insbesondere aus Ausländern. Aus Deutschen, Niederländern, Belgiern, Franzosen, Briten, Amerikanern. Mehr als 30.000 Kämpfer in Syrien und im Irak kommen aus dem Westen, nicht aus den Golfstaaten. Es ist Terror, der in den freiheitlichen Gesellschaften wächst. Bei uns, unter uns.

In diesen Tagen, so kurz nach dem fürchterlichen Attentat mit 44 Toten im Libanon, darf nicht vergessen werden: Der Terror richtet sich auch gegen Muslime. Der IS bekämpft alle, die nicht seiner Interpretation des Islam folgen.

Als der deutsche Politikwissenschaftler Jürgen Todenhofer eine Einladung von Abu Bakr al-Baghdadi, dem selbsternannten Kalifen des „Islamischen Staates“, annahm, hagelte es Kritik. Trotzdem fand er in seinen Gesprächen mit IS-Kämpfern und -Propagandisten heraus, wen die sunnitische Miliz angeblich als größten Feind betrachtet: Es sind, neben den Jesiden, die schon zu Tausenden getötet und versklavt wurden, die Schiiten. Muslime anderen Glaubens.

Erstaunlich: Zwar hegen die Terroristen offensichtlich abgrundtiefen Hass gegen Christen (die sie in Paris auch treffen wollten) und Juden (das Konzert der „Eagels of Death Metal“ war als Ziel womöglich ausgewählt worden, weil die Band proisraelisch ist). Zugleich behaupten die IS-Vertreter, sie würden Christen und Juden im „Islamischen Staat“ verschonen, wenn diese ein Schutzgeld zu zahlen bereit wären. Für Schiiten jedoch planen sie nichts weniger als einen Genozid, wie Todenhöfer in seinem Buch „Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat'“ dokumentiert. Hier ein Ausschnitt aus einem Interview mit Abu Qatadah, einem Sprecher und Medienvertreter des IS:

Wir haben mindestens 150 Millionen Schiiten in der Welt, im Irak, im Iran, was geschieht mit denen?
Die Schiiten, wir betrachten die als Rafidah, also Murtadin.

Abtrünnige?
(…) Richtig. (…) Und für die Schiiten gibt es keine Möglichkeit der Schutzsteuer oder sonst irgendwas, sondern nur den Islam [Qatadah meint damit die sunnitisch-extremistische Auslegung, wie sie der IS praktiziert, Anm. d. Red.], oder das Schwert.

Und wenn sich die Schiiten Iraks und die Schiiten Irans, die 150 Millionen, die es auf der Welt gibt, weigern zu konvertieren, dann heißt das, sie werden getötet?
Ja, genauso wie wir das…

150 Millionen?
150 Millionen, 200 Millionen, 500 Millionen, uns ist die Anzahl egal.

Werden Sie dann alle Muslime in Europa, die sich Ihrem Glauben nicht anschließen, töten?
Der, der sich unserem Glauben nicht anschließt, der schließt sich dem Islam nicht an. Und wenn er auf seinen Irrwegen beharrt, dann gibt es natürlich auch keine andere Wahl – außer das Schwert.

Töten?
Definitiv.

Nach den Anschlägen von Paris sollten die Muslime als das begriffen werden, was sie sind: als Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind. Zahlreiche islamische Glaubensgemeinschaften, Staatsführer und Institutionen weltweit haben sich bereits mit den Opfern der Massaker von Paris solidarisiert – und vom IS distanziert.

Wenn sich Europa aber in seiner Solidarität mit den geflüchteten Muslimen spaltet, wenn es nach den Anschlägen von Paris seine Freiheitlichkeit preis gibt und den Islamhass zulässt: Dann haben die Terroristen ihr perfides Ziel erreicht.

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