Nach dem Staatsbesuch Xis in Russland - Geopolitik in einem herausfordernden sicherheitspolitischen Umfeld

Der Besuch Xi Jinpings im Kreml macht deutlich: Russland und China stehen fest zusammen. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland und seine Verbündeten geopolitisch denken und die erneut deutlich werdenden Realitäten anerkennen. Ein „Weiter so“ muss ausgeschlossen sein.

Mit viel Pomp im Kreml: Xi besucht Putin / picture alliance (9632)
Anzeige

Autoreninfo

Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

So erreichen Sie Rüdiger Lüdeking:

Anzeige

Der Staatsbesuch von Präsident Xi in Russland hat große mediale Aufmerksamkeit erhalten. Nach dessen Ende rücken zwar wieder andere Themen in den Vordergrund, aber daran anknüpfende zentrale Fragen für die europäische Sicherheit bleiben: Was hat der Staatsbesuch über die Beziehungen zwischen Russland und China ausgesagt? Müssen wir uns auf Änderungen der Mächtekonstellation und der Weltordnung einstellen? Und hat er neue Perspektiven für eine Beendigung des Ukrainekriegs eröffnet?

Selbst wenn der Krieg eine kaum vorhersehbare Dynamik entfaltet und wir bei der Beurteilung von dessen möglichem Ausgang vielfach auf Spekulationen angewiesen sind, ist es notwendig, diesen Fragen nachzugehen, um ein klareres Bild zu erhalten, welche Konsequenzen sich für unser politisches Handeln ergeben.

Es liegt auf der Hand: Der mit großem Pomp durchgeführte Besuch war für beide Seiten wichtig. Er verdeutlichte die bestehende strategische Partnerschaft und das Zusammenstehen der beiden Autokratien Russland und China. Gleichzeitig kann er als Ausweis verstanden werden, dass beide die Rolle der USA als globale Ordnungsmacht nicht akzeptieren und sie bereit sind, sich den als aggressiven Rivalen erachteten USA entgegenzustellen.

Für Putin war der Besuch von besonderer Bedeutung, konnte er nach innen und außen damit doch dokumentieren, dass er nicht isoliert ist. Xi konnte sich zudem als Lenker einer aufstrebenden Weltmacht und als ein den Prinzipien der UN-Charta verpflichteter Staatsmann inszenieren, der nach der erfolgreichen Vermittlung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran sich auch als „neutraler Vermittler“ im Ukrainekrieg anbietet.

Geschwächtes Russland, frustriertes China

Nach dem Besuch ist verschiedentlich versucht worden, aus der Analyse der verabschiedeten Dokumente eine Relativierung des russisch-chinesischen Verhältnisses abzuleiten. Es stimmt, in den Dokumenten fehlen die so weitreichenden wie ungewöhnlich-ominösen Formulierungen der Erklärung, die bei dem Treffen von Putin und Xi anlässlich der Olympischen Winterspiele am 4. Februar 2022 – d.h. noch vor Beginn des russischen Angriffskriegs – veröffentlicht wurde.

Es ist jetzt zwar nicht mehr explizit davon die Rede, dass die Beziehungen beider Staaten den Allianzen des Kalten Kriegs überlegen sei, die beiderseitige Freundschaft keine Grenzen kenne und es in der bilaterale Zusammenarbeit keine „verbotenen Bereiche“ gebe. Es wäre jedoch fatal, daraus falsche Schlüsse zu ziehen. Der Verzicht auf derlei Überschwang kann vor allem der chinesischen Rücksichtnahme auf Wahrung seiner geopolitischen und global-wirtschaftlichen Interessen auch gegenüber den westlichen Staaten, der geschwächten Rolle Russlands als Partner und der chinesischen Frustration über den Ukrainekrieg angelastet werden.

Unverbrüchlich an der Seite Russlands

Dennoch: Der Westen muss sich realpolitisch darauf einstellen, dass China im Zweifel unverbrüchlich an der Seite Russlands steht und auch eine russische Niederlage im Krieg mit der Ukraine zu verhindern trachten wird. Dies gebietet aus chinesischer Sicht schon die Wahrung einer starken Position im Wettbewerb der Großmächte.

Schon mit Blick auf die eigenen expansiven Ambitionen in Asien und die aufgeladene Taiwanfrage – die China vermutlich in absehbarer Zeit in seinem Sinne gegebenenfalls auch mit Gewalt zu lösen trachtet – darf der autokratische Partner Russland nicht fallengelassen werden, vielmehr muss die gemeinsame Frontstellung gegenüber den westlichen Demokratien, insbesondere den USA, aufrechterhalten und womöglich gestärkt werden. Entsprechend dürfte China auch keinerlei Interesse an chaotischen innenpolitischen Verhältnissen oder gar einer demokratischen Entwicklung in Russland haben.

Ein interessengeleitetes Zweckbündnis

Diese Konstante gilt es im Blick zu halten. Sie gilt, selbst wenn natürlich auch deutlich wird, dass es mit der vielbeschworenen russisch-chinesischen Freundschaft nicht weit her ist, sondern es zumindest aus chinesischer Sicht um ein interessengeleitetes Zweckbündnis geht. China ist ein kühl kalkulierender, auf seine eigenen Vorteile bedachter Staat. So nutzt er die wirtschaftliche Notlage Russlands nach Verhängung westlicher Sanktionen aus und importiert russisches Gas und Öl offenbar mit deutlichen Preisabschlägen.

Bemerkenswert ist auch, dass die Ergebnisse des Staatsbesuchs zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit eher allgemein und wenig spezifisch sind. So fehlt etwa eine konkrete Einigung zur Gaspipeline „Kraft Sibiriens 2“, was möglicherweise darauf schließen lässt, dass China die Konditionen zu diesem von Putin nachdrücklich befürworteten Projekt noch in eigenem Interesse „verbessern“ möchte.
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Und selbst wenn China mit Rücksicht auf westliche Befindlichkeiten und das eigennützige wirtschaftliche Interesse, den globalen Wirtschaftsaustausch weiter zu fördern und einer Deglobalisierung entschieden entgegenzuwirken, eine eindeutige Parteinahme für Russland vermeidet und auch noch keine Waffen liefert: Es muss bei der zu unterstellenden interessengeleiteten geopolitischen Sicht Chinas davon ausgegangen werden, dass es sich zwar aus dem Krieg heraushalten möchte, gleichzeitig aber ein Scheitern seines Partners Russland nicht hinnehmen wird. Vor eine solche Perspektive gestellt, würde es auch Waffen liefern.

Fraglich ist jedoch, ob dies angesichts der Leistungsfähigkeit der russischen Verteidigungsindustrie, die bereits auf Kriegsproduktion umgestellt wurde, notwendig sein wird. Ohnehin ist anzunehmen, dass China technologisch hochwertige Dual-Use-Güter, die aufgrund von Sanktionen für Russland nicht mehr aus westlichen Quellen erhältlich sind, schon jetzt liefert.

Eine zunehmende Juniorrolle Russlands

Dessen ungeachtet kommt China der langandauernde Krieg Russlands mit den damit verbundenen Risiken eines militärischen Scheiterns ungelegen, werden dadurch doch der ökonomische Aufstieg Chinas, die in chinesischem Interesse liegende Stärkung der wirtschaftlichen Globalisierung und die Bemühung, schnellstmöglich die USA zu überholen, konterkariert.

Argumente, dass der Krieg die Möglichkeiten für billige Rohstoffimporte aus Russland vergrößert hat und China deshalb von einer Fortdauer des Kriegs profitieren würde, überzeugen dagegen nicht. Schon vor Beginn des Kriegs war eine zunehmende Juniorrolle Russlands in der Partnerschaft mit China feststellbar. Insgesamt kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass China eine rasche Beendigung des Kriegs anstrebt.

Betont reserviert gegenüber dem Krieg

Natürlich ist dabei China nicht der „neutrale Vermittler“ oder ehrliche Makler, als der er sich gern ausgibt. Gleichzeitig ergibt sich jedoch die Frage, ob nicht das chinesische Interesse an einer diplomatischen Anstrengung zur Beendigung des Kriegs genutzt werden sollte. In jedem Fall wäre es angesichts der Brutalität des andauernden Kriegs mit weiteren zehntausenden oder vielleicht hunderttausenden Opfern und Zerstörungen zynisch, nicht alles zu versuchen. Dies gilt auch angesichts des unsicheren Ausgangs des Kriegs und der Vermutung, dass beide Kriegsparteien ihre ursprünglichen Kriegsziele, die sie unverdrossen immer wieder betonen, nicht erreichen werden.

Zudem ist es ein Fehler und diplomatisch höchst ungeschickt, den von China am 24. Februar vorgestellten 12-Punkte-Plan einfach als untauglich zu verwerfen. Der chinesische Friedensplan geht von den Prinzipien der UN-Charta Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Staaten aus. Dieser Ansatz ist richtig, geht es doch nicht um einen Stellvertreterkrieg zwischen Demokratien und Autokratien, wie es uns selbst viele Politiker im Westen weismachen wollen.

Eine solche Sichtweise entbehrt nicht nur der Arroganz, sie ignoriert auch die geringe Zahl echter Demokratien wie auch die Interessen vieler Staaten des globalen Südens, die sich dem Krieg gegenüber betont reserviert verhalten. Es geht vielmehr um die zentralen Regeln der internationalen Ordnung, die ein friedliches Miteinander von Staaten unabhängig von ihrer Verfasstheit gewährleisten sollen. Dies muss ein zentrales Interesse gerade auch der Ukraine sein, deren Existenz durch Russland in Frage gestellt und deren territoriale Integrität in eklatanter Weise verletzt wird. Zudem enthält der chinesische Punktekatalog viele grundsätzlich auch aus westlicher Sicht zu teilende Punkte; da diese nur allgemein und nicht konkret auf den Ukrainekrieg hin ausgeführt werden, lässt sich konstruktiv daran anknüpfen.

Es ist naiv, von China einen ausformulierten Fahrplan für einen Friedensprozess zu erwarten oder sich daran zu stoßen, dass der 12-Punkte-Plan keine Forderung nach Rückzug aller russischen Truppen enthält. Sollte Xi den chinesischen Friedensplan mit Verve weiterverfolgen und ihn auch mit der Ukraine aufnehmen – es fällt auf, wie geradezu wohlwollend-allgemein sich selbst Selenskyj zum chinesischen 12-Punkte-Plan bisher geäußert hat –, so stünden die USA bzw. der Westen mit einer kritisch-ablehnenden Haltung ziemlich „belämmert“ da.

Zeit, geopolitisch zu denken

Bei aller pessimistischen Einschätzung der Aussichten einer Friedenslösung oder zumindest eines Waffenstillstands, böte doch ein Zusammenwirken der USA mit China und vielleicht noch einer Reihe wichtiger Staaten des globalen Südens noch am ehesten die Chance, in kurzer Frist eine den Krieg beendende Lösung zu erreichen. Immerhin war Putin beim Staatsbesuch gezwungen, sich für Verhandlungen offen zu erklären und den chinesischen Friedensplan, der ihm sicherlich nicht gefällt, als „Grundlage für eine friedliche Beilegung“ des Konflikts anzuerkennen. Und schließlich sollte sich der Westen nicht der Arroganz hingeben, allein eine Friedenslösung und deren Bedingungen definieren zu wollen.

Es ist höchste Zeit, dass Deutschland wie auch die anderen westlichen Staaten geopolitisch denken und die nach dem Staatsbesuch Xis in Moskau erneut deutlich werdenden Realitäten anerkennen. Dies bedeutet, dass ein schlichtes „Weiter so“ ausgeschlossen sein muss. Darauf scheint es trotz der deklarierten „Zeitenwende“ und der gegenteiligen politischen Beteuerungen beispielsweise bei der Stärkung der Verteidigungskapazitäten hinauszulaufen. Will es nicht weiter an Bedeutung verlieren, muss Europa endlich aufwachen und unter Beweis stellen, dass es reformfähig ist und sich auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen einzustellen vermag.

Europa vor Herausforderungen

Es gilt, sich auf eine ungemütlichere sicherheitspolitische Zeit und einen heraufziehenden neuen Kalten Krieg einzustellen, bei dem wir nicht nur Russland sondern auch das autokratisch regierte China als Gegner im Blick behalten müssen. Zudem müssen auch die Entwicklungen auf der anderen Seite des Atlantiks im Auge behalten werden. Sollte ein Republikaner 2024 die Wahlen in den USA gewinnen, so ist erneut eine verstärkte Fokussierung auf China zu erwarten. Dabei könnte sich Europa vor der Herausforderung sehen, dass die USA die Unterstützung der Ukraine zurückfahren und ein deutlich erhöhtes Engagement Europas für seine Sicherheit erwarten werden. Hinzu kommt, dass sicherlich auch ein verstärkte europäische Beteiligung Europas bei der Einhegung Chinas erwartet werden wird.

Grundsätzlich wird es darum gehen, den seit den 60er-Jahren geltenden Doppelansatz der Nato zu beherzigen, der der gesicherten Verteidigungsfähigkeit die Bereitschaft zu Dialog und Entspannung an die Seite stellt. Entsprechend sollte die Beschränkung auf eine dauerhafte Konfrontation und Ausgrenzung von Russland oder China keine Option sein. Gemünzt auf die aktuelle Situation bedeutet dies, dass parallel zur Unterstützung der Ukraine auch alle Gelegenheiten zur Erreichung eines Waffenstillstands oder einer Friedensregelung ausgelotet werden müssen. Der Westen sollte sich nicht zu schade sein, in dem chinesischen Friedensplan eine solche Gelegenheit zu erkennen. Er sollte sie aktiv und ohne Überschätzung seiner eigenen Möglichkeiten realpolitisch zu nutzen trachten.

Anzeige