Selenskyjs Präventivschlag-Äußerung - Rhetorik aus der Blase

Falls die Forderung des ukrainischen Präsidenten nach Präventivschlägen gegen Russland missverstanden worden ist, dann war sie eben missverständlich formuliert. Doch gerade, wenn es um Krieg und Frieden geht, sind Worte mit Bedacht zu wählen. Die Antwort auf Maßlosigkeit und Wahn kann nur Augenmaß und Rationalität sein.

Markige Wortbeiträge: Wolodymyr Selenskyj / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Worte sind mit Bedacht zu wägen. Das gehört zum kleinen Einmaleins der Diplomatie. Denn Worte sind selten eindeutig. Man muss sie interpretieren, einordnen und richtig verstehen. Das kann schon unter normalen Umständen und in Friedenszeiten schiefgehen, weshalb Missverständnisse zum Alltag gehören. Besondere Sensibilität in der Wortwahl ist daher in Zeiten von Spannungen und Konflikten angebracht. Das gilt im Privaten. Das gilt erst recht im Politischen. Denn wenn die Kommunikationsatmosphäre ohnehin vergiftet ist, kann man kaum auf interpretatorisches Wohlwollen vertrauen. In einer ohnehin schon von Ressentiments und Misstrauen geprägten Atmosphäre können mehrdeutige Formulierungen so einen unheilvollen Prozess in Gang setzen.

Von solchen kommunikationstheoretischen Bedenken ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jedoch ziemlich frei. Allein das lässt tief blicken. Seit Beginn des Krieges fällt er nahezu im Wochentakt durch Wortbeiträge auf, die mit dem Ausdruck „markig“ noch eher wohlwollend umschrieben sind. Man kann das verstehen. Immerhin ist Selenskyj Präsident eines Landes, das Opfer eines Aggressors wurde. Da kann man schon mal die Contenance verlieren oder auch schlicht Weitsicht und Klugheit.

Doch Selenskyj ist Medienprofi. Und der Krieg zieht sich nun auch schon ein paar Monate hin. Dass dem Mann einfach mal ein paar unbedachte Worte rausrutschen oder er im Eifer etwas unglücklich formuliert, kann man so gut wie ausschließen. Selenskyj sagt, was er denkt. Oder er deutet es an. Und das muss beunruhigen.

Ein bisschen Atomkrieg

Jüngstes Beispiel von Selenskyjs semantischen Ausrutschern ist sein Auftritt vor dem australischen Lowy-Institut. Dort gab er zu Protokoll: Die Nato „muss die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland ausschließen. Wichtig ist aber – ich wende mich wie vor dem 24. Februar deshalb an die Weltgemeinschaft – dass es Präventivschläge sind, damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden.“ Und er fuhr fort: „Nicht umgekehrt: Auf Schläge von Russland warten, um dann zu sagen: ‚Ach du kommst mir so, dann bekommst du jetzt von uns.‘“

Wahrscheinlich wurden in diesem Moment einige Zuhörer im Raum bleich. Schon das Wort atomarer Präventivschlag gehört seit Ende des Kalten Krieges zum absoluten No-Go. Und das aus gutem Grund. Wer mit diesem Wort herumhantiert, handelt entweder fahrlässig oder gemeingefährlich. Nur zur Erinnerung: In Zeiten des Kalten Krieges beruhte der Friede auch darauf, dass keine der beiden Seiten eine ernstzunehmende Erstschlagfähigkeit hatte – also die Möglichkeit, einen atomaren Enthauptungsschlag zu führen, der einen Zweitschlag des Gegners unmöglich macht. Präventivschlagfähigkeit auch nur zu denken, erhöht die Sicherheit nicht, sie destabilisiert die sicherheitspolitische Lage erheblich.

 

Mehr aus der „Grauzone“:

 

Nicht besser wird die Sache durch die offensichtlich wirre Formulierung. Was schwebt dem Mann im permanenten Olivgrün eigentlich genau vor? Ein kleiner Erstschlag? Ein bisschen Atomkrieg, damit „sie wissen, was ihnen blüht“?

Triumph oder Untergang

Militärisch-politische Führungen fiebern sich im Laufe eines Krieges leicht in eine hochtoxische Gedankenwelt hinein. In der gibt es dann nur noch Sieg oder Niederlage, Triumph oder Untergang. Die eigene Sache scheint jedes Mittel zu rechtfertigen. Putin scheint schon länger in dieser geistigen Druckkammer gefangen. Und auch Selenskyj agiert erkennbar aus einer überhitzten Blase heraus. Der kühle Blick für das Nützliche und Angemessene ist schon lange verlorengegangen, wenn er überhaupt je vorhanden war.

Deutlich wurde das auch Anfang der Woche, als Selenskyj jede Verhandlung mit Putin per Dekret untersagte. Wer so agiert, nimmt sich jede diplomatische Handlungsmöglichkeit und legt sich auf kaum zu verantwortende Szenarien fest. Hier spricht kein lösungsorientierter Verantwortungspolitiker, sondern jemand, der in apokalyptischen Endzeitbildern zu schwelgen scheint. Keine beruhigende Perspektive.

Es ist ein Irrtum zu meinen, dem irrlichtenden Kremlchef könne man nur begegnen, indem man sich auf dessen Drohungsniveau begibt. Das Gegenteil ist der Fall. Auf Maßlosigkeit und Wahn kann nur Augenmaß und Rationalität die Antwort sein. Es ist an der Zeit, Selenskyj klar zu machen, dass auch das hehrste Ziel nicht jedes Mittel rechtfertigt.

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