Selenskyj beim EU-Gipfel - Kriegsrhetorik in Brüssel

Auf einem Sondergipfel haben sich Selenskyj und führende EU-Politiker rhetorisch so weit vorgewagt, dass die Europäische Union aus diesem Krieg zumindest politisch kaum noch herauskommt. Das ist hochgefährlich - zumal eine Strategie weiterhin nicht erkennbar ist.

Selenskyj sprach von einem gemeinsamen „historischen Kampf“ gegen Russland / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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In Europa herrscht Krieg, da kommt es auf jedes Wort an. Das musste schon Außenministerin Annalena Baerbock erfahren, als sie den ebenso richtigen wie gefährlichen Satz sagte, dass es in der Ukraine um einen „Krieg gegen Russland“ gehe. Die Grünen-Politikerin hatte eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen und musste klarstellen, dass Deutschland trotz allem keine Kriegspartei sei. 

Das war ein (un-)diplomatisches Eigentor. Doch es hatte keine Konsequenzen, sieht man von der Ausbeutung ihres unglücklichen Zitats durch die russische Propaganda ab. Ganz anders sieht das bei der Europäischen Union in Brüssel aus. Hier kann ein falsches Wort große Folgen haben. An jeder Ecke lauern juristische und politische Fallen, die europäische Rechtsgemeinschaft duldet keine Fehler.

Unvorsichtige Äußerungen

Umso bedenklicher ist, was auf dem Sondergipfel mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesagt wurde. Selenskyj, aber auch führende EU-Politiker, haben sich rhetorisch so weit vorgewagt, dass die EU aus diesem Krieg zumindest politisch kaum noch herauskommt. Auch zum 2022 versprochenen EU-Beitritt der Ukraine sind unvorsichtige Äußerungen gefallen, die sich rächen könnten.

Am weitesten ging, wenig überraschend, Selenskyj selbst. Er sagte nicht nur, dass er den Start der Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr erwarte, was nach den Regularien der EU so gut wie unmöglich ist. Er behauptete auch eine Interessenidentität zwischen Europa und der Ukraine, die es so nicht gibt – die aber die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischt. 

Russland führe einen „totalen Krieg“, sagte Selenskyj im Europaparlament. Gemeinsam müsse man den „historischen Kampf“ gegen Russland zu Ende führen. „Nur unser Sieg wird den Erhalt unserer europäischen Werte garantieren.“ Zuvor hatte er behauptet, die Ukraine sei in der EU zuhause. „Dies ist unser Europa, die EU ist unsere Heimat, der Beitritt ist der Weg nach Hause.“

Selenskyjs rhetorischer Blitzkrieg

Aus seiner Sicht ist dies verständlich. Allerdings ist es etwas anderes, ob man dies vor heimischem Publikum in Kiew postuliert oder bei der EU in Brüssel. Hier gelten strikte Regeln, die einen Blitz-Beitritt ebenso ausschließen wie militärischen Beistand. Die EU müsste eigentlich dagegenhalten, vor überzogenen Erwartungen warnen und unerfüllbare Forderungen zurückweisen.

Doch es kam anders. Das Europaparlament ließ sich von Selenskyjs rhetorischen Blitzkrieg mitreißen. Die Ukraine verteidige nicht nur sich selbst, sondern ganz Europa, glauben die Abgeordneten quer durch alle Fraktionen. Deshalb müsse die EU mit allen Mitteln helfen. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola forderte denn auch Kampfjets für die Ukraine und den „schnellstmöglichen“ Beitritt.

 

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Auch im Europäischen Rat, also beim EU-Gipfel, gab es kein Halten mehr. „Jetzt ist es an der Zeit, klar zu sein und maximale Unterstützung bereitzustellen“, sagte Ratspräsident Charles Michel. Es war als Appell an die Mitgliedstaaten gemeint, noch mehr Waffen zu liefern – unbegrenzt und so lange, wie die Ukraine dies braucht. Doch damit überschreitet Michel seine Kompetenzen.

Die EU ist nämlich gar nicht für die Lieferung von Waffen zuständig, das ist eine souveräne Entscheidung der 27 Mitgliedstaaten. Michel kann daher auch nicht für die 27 sprechen – schon gar nicht im Namen eines Staates, der zwar Mitglied werden will, es aber noch lange nicht ist. Er lässt sich von Selenskyj auf eine schiefe Ebene ziehen, die brandgefährlich werden kann. 

Herausgekommen ist ein Überbietungswettbewerb

Wenn die Kriegsrhetorik auf Europa übergreift, ist es bis zum Kriegseintritt nur noch ein kleiner Schritt. Diese Gefahr ist der Gipfel eingegangen. Geplant war ein folgenloses Bekenntnis zur Solidarität. Herausgekommen ist genau der Überbietungswettbewerb, vor dem Kanzler Olaf Scholz zu Recht gewarnt hatte. Im „historischen Kampf gegen Russland“ gibt es keine Grenzen.

Alles bloß Schall und Rauch? Nicht ganz. Nach den rhetorischen Salven fürs Publikum gab es nämlich auch noch vier nichtöffentliche Arbeitsgruppen, in denen Selenskyj die Staats- und Regierungschefs ins Gebet nehmen durfte. Im kleinen Kreis hat er versucht, doch noch Zusagen für weitere Waffen zu holen. Michels grenzwertige Salamitaktik könnte ihm zum Erfolg verhelfen.

Keine Strategie erkennbar

Doch die Strategie bleibt im Dunkeln. Welche Ziele verfolgt die EU in diesem Krieg? Geht es darum, der Ukraine zum „Sieg“ zu verhelfen, wie der schwedische Ratsvorsitz fordert – oder nur darum, einen russischen Erfolg zu verhindern, wie Scholz sagt? Dürfen deutsche „Leoparden“ nach Belieben eingesetzt werden, auch zur Eroberung der Krim, oder gibt es Auflagen? Und wie findet Europa endlich wieder Frieden?

Dies sind die entscheidenden strategischen Fragen – doch beim Brüsseler Selenskyj-Tag kamen sie nicht zur Sprache. Im Gipfelbeschluss wird zwar ein Zehn-Punkte-Plan für den Frieden erwähnt. Doch die „Friedensformel“, die Selenskyj verspricht, ist immer noch nicht fertig. Nun will sich die EU an der Ausarbeitung beteiligen. Man kann nur hoffen, dass sie rhetorisch abrüstet und sich an ihre eigenen Regeln erinnert. Krieg ist darin nicht vorgesehen. Ein Beitritt im Krieg übrigens auch nicht.

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