Panzerlieferungen - „Viele haben die Brutalität Russlands unterschätzt“

Der Bundestagsabgeordnete und frühere Bundeswehroffizier Roderich Kiesewetter sieht Deutschland in einer Scharnierfunktion in Europa, die Bundesregierung in Zugzwang und Europa durch den Ukraine-Konflikt unmittelbar bedroht. Warum wir ab Moldau eine Kriegspartei werden und wie es um die Kampfpanzer-Lieferungen steht, erklärt er im Interview.

Olaf Scholz lässt sich bei einer Wehrübung den „Leopard 2“ erklären /dpa
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Felix Huber studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.

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Roderich Kiesewetter sitzt seit 2009 für die CDU im Deutschen Bundestag, wo er als direkt gewählter Abgeordneter den Wahlkreis Aalen/Heidenheim vertritt. Der frühere Oberst der Bundeswehr ist Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Kontrolle der Nachrichtendienste.

Herr Kiesewetter, was läuft bei den Panzerlieferungen falsch?

Die Bundesrepublik hat es bereits seit Frühjahr letzten Jahres versäumt, die Panzerbestände zu kontrollieren, Ertüchtigung zu beauftragen und Nachbestellungen zu tätigen. Wir haben hier nicht nur viel Zeit für die Ukrainer verloren, die die Panzer früher zur Befreiung eingesetzt hätten. Sondern wir haben auch die Chance für diplomatischen Druck auf Russland verloren. Hätte man Russland damals klar gezeigt, dass Deutschland und andere europäische Staaten dazu bereit sind, die Ukraine mit Kampfpanzern zu unterstützen, hätte man Russland Entschlossenheit und Stärke gezeigt, und die Ukraine wäre vielleicht früher in eine bessere Position gekommen, auch für spätere Verhandlungen. Das Planungsverbot für deutsche Kampfpanzer zeigt, dass Deutschland von der amerikanischen Entscheidung am 24. Januar überrumpelt wurde. Wir hatten bis zuletzt keinen Plan-B. Jetzt haben sich gewisse Koalitionslinien in Europa verfestigt, und Deutschland muss diese erst einmal aufbrechen.

Hätte man die Notwendigkeit von Panzerlieferungen vorhersehen können?

Ja, denn am 28. April hat der Deutsche Bundestag dem Kanzleramt, der Bundesregierung die Möglichkeit gegeben, neben humanitärer Hilfe auch schwere Waffen zu liefern. Seit April fordern ich und andere Kolleginnen und Kollegen, eben diesen Rückenwind auszunutzen, da klar war, dass Russland keine Verhandlungen will und wir in diese Lage kommen würden. Viele haben damals die sowjetischen Bestände an Waffen und Munition, die der Ukraine zur Verfügung standen, überschätzt und die Brutalität Russlands unterschätzt. Die Mittel der Ukraine sind aber limitiert. Diese Grammatik des Krieges wurde im Kanzleramt nicht verstanden. Deshalb war es schädlich, dass der Bundeskanzler zu viele rote Linien gezogen hat, die dann immer wieder unter Druck aufgegeben wurden. So hatte er im Juni im Bundestag angekündigt „keine Schützen- und Kampfpanzer“ zu liefern. Das war einfach unglaubwürdig.

Was muss Olaf Scholz jetzt besser machen?

Sowohl Helsinki als auch London, wo ich gerade auf Dienstreise war, sehen die Notwendigkeit, sich enger abzustimmen. Wir sollten den Briten ermöglichen, wieder näher an Europa zu rücken, und gemeinsam mit Paris eine gesamteuropäische Koordination leisten. Denn wir haben Europa durch unsere deutsche „Ausschließeritis“ gespalten und die Sicherheitsbedrohung und -strategie der ost- und mitteleuropäischen Staaten nicht berücksichtigt. Polen und mehrere andere Staaten wollten schon sehr früh Kampfpanzer liefern, haben jedoch von Deutschland keine Exportzusage erhalten. Diese Staaten haben durch die Blockade und das Zögern Deutschlands massiv Vertrauen verloren. Das, was innenpolitisch als Besonnenheit tituliert wurde, wurde im Ausland als wenig verlässliche Antwort auf schwierige Fragen aufgenommen. Die Koalition in Deutschland ist gespalten, und letztlich bestimmt der Bundeskanzler den Kurs. Das Narrativ der deutschen Regierung ist deswegen ja immer noch: „Die Ukraine darf nicht verlieren“, anders als in USA, Großbritannien, Osteuropa, Frankreich und überall sonst: „Die Ukraine muss gewinnen“.

 

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Muss die Ukraine denn gewinnen?

Gewinnen heißt für mich, dass die Ukraine ihre Souveränität wiederherstellt und das in den Grenzen von 1991, die auch die Grenzen von 2013 sind. Ein Waffenstillstand, also Minsk 3, ist nach Minsk 1 und Minsk 2 keine Option. Russland würde seine Kriegsverbrechen fortführen, sich eingraben und neue Kräfte sammeln. Wir müssen geostrategisch denken und zeigen, dass wir die Stärke des Rechts unterstützen und nicht das Recht des Stärkeren gelten darf. Sonst findet das russische völkerrechtswidrige Vorgehen, unter dem Mantel nuklearer Drohungen einen Angriffs- und Vernichtungskrieg zu führen, Nachahmer, wenn Länder wie China sehen, dass der Westen schwach ist und sie nur unter Nukleardrohungen angreifen müssen, um einen beträchtlichen Teil eines Landes zugesprochen zu bekommen und letztlich völkerrechtswidrig Landraub zu begehen. Wir müssen im Umgang mit Russland ein Zeichen setzen. Das heißt, sie müssen Kriegsverbrechen aufarbeiten, Reparationen zahlen und imperiale Ansprüche aufgeben. Außerdem muss man natürlich auch politische Forderungen stellen, wie den Abzug der bedrohenden Nuklearwaffen aus Kaliningrad und den Abzug der russischen Truppen aus Transnistrien und Georgien. Das wären politisch wichtige Zeichen, auch an die russische Zivilgesellschaft.

Kann Deutschland es sich hierfür leisten, auf Großbritannien zu verzichten?

Nein, London koordiniert und verbindet sehr stark die Unterstützung der Ukraine, Skandinaviens und der osteuropäischen Länder. Großbritanniens Vorteil ist ein sehr starker Nachrichtendienst, deswegen sind sie in der nördlichen Hemisphäre exzellent vernetzt, und davon profitieren auch die baltischen Staaten. Die Briten haben obendrein großes Interesse, Vertrauen in die Dienste, das durch den Golfkrieg 2003 gelitten hat, wiederzugewinnen und fühlen sich auch als Garantiemacht des Budapester Memorandums besonders verantwortlich. Deswegen stellen sie sich sehr klar auf die Seite der Ukraine. Wir unterscheiden uns von der Höhe der Unterstützung nicht sehr von Großbritannien, aber offensichtlich beim Ziel. Zudem ist Deutschlands Kommunikation hochmisslich. Durch das ständige Aufheben einstiger roter Linien sind wir unglaubwürdig. Großbritannien ist für ein gemeinsames europäisches Vorgehen und für die europäische Sicherheitsordnung besonders wichtig.

Roderich Kiesewetter bei einer Demonstration zum Jahrestags des Kriegsbeginns/ dpa

Welche Rolle muss Deutschland dabei einnehmen?

Deutschland hat eine Scharnierfunktion, die Sicherheitsbedenken Mittel- und Osteuropas mit den Interessen Südeuropas auszutarieren. Umgekehrt muss Deutschland auch die Migrations- und Klimaanpassungssorgen der Südeuropäer den Osteuropäern übermitteln. Dieser Funktion sind wir zuletzt nicht mehr nachgekommen. Wenn wir Führung reklamieren, wie es der Bundeskanzler macht, dann müssen wir wieder die ausgleichende Position zwischen Süd- und Ostereuropa einnehmen. Außerdem müssen wir auch die Führungs- und Koordinierungsfunktion für eine bessere Unterstützung der Ukraine übernehmen. Dabei müssen wir auch die Sicherheitsbedrohungen von Nicht-Nato-Ländern wie Schweden und Finnland miteinbeziehen.

Will Finnland jetzt keine Panzer mehr liefern?

In Finnland finden im März Wahlen statt, und es möchte Nato-Mitglied werden. Finnland hat heute 1300 Kilometer direkte Grenze zu Russland und ist deshalb direkt von Russland bedroht – ohne bislang die Sicherheitsgarantien als Nato-Staat zu haben. Für Finnland geht es darum, sich abzusichern, bevor sie Kampfpanzer in die Ukraine liefern. Grundsätzlich ist Helsinki bereit, Material zu stellen, und die Abwägung ist völlig verständlich. Deutschland will europäische Führungsmacht sein, da müssen wir vorneweg gehen, nicht Finnland, nicht die USA. Es ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, Europa ist das Kriegsziel und die regelbasierte Ordnung insgesamt.

 

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Welche Rolle spielen die USA bisher?

Ohne die Amerikaner wäre die Ukraine längst zerfallen und Russland würde seinen imperialen Krieg weiter gegen Moldau, vielleicht sogar gegen das Baltikum führen. Das russische Ziel ist es, mittelfristig auch Moldau und weitere Staaten anzugreifen. In diesem Moment würden wir wegen der Beistandspflicht aktiv zur Kriegspartei. In Moldau wohnen nämlich zwei Millionen EU-Staatsbürger mit rumänischem Pass. Durch die Unterstützung der Ukraine wurde eine Kriegsbeteiligung deshalb gerade verhindert. Der Krieg zeigt erneut, dass es keine europäische Autonomie gibt, wir sind auf transatlantische Bündnisse angewiesen. Außerdem müssen wir in Europa verteidigungsbereiter werden und glaubwürdige Lastenteilung leisten!

Boris Pistorius hat gerade gefordert, das Zwei-Prozent-Ziel als Untergrenze zu sehen. Wie stehen sie dazu?

Verteidigungsminister Pistorius stimme ich zu, und ich hoffe, dass das Kanzleramt hinter ihm steht. Er hat auch die Unterstützung der Union, wir müssen das Zwei-Prozent-Ziel so schnell wie möglich erreichen, und es kann angesichts der globalen Bedrohungslage leider nur ein Minimum sein. Wir müssen auch ab nächstem Jahr wie gefordert mindestens zehn Milliarden mehr in den Verteidigungshaushalt investieren, denn die Zeitenwende in der Bundeswehr hat noch gar nicht begonnen, und sie muss jetzt beschleunigt umgesetzt werden. Wenn sich jetzt Herr Pistorius an die Spitze dieser Bewegung setzt, dann ist das sehr gut. Wir sind Kriegsziel. Um nicht Kriegspartei zu werden, müssen wir eine strategische Kultur entwickeln und eine einsatzbereite Bundeswehr haben, die glaubwürdig zur Abschreckung beiträgt.

Hat die Münchner Sicherheitskonferenz diesbezüglich Ihren Erwartungen entsprochen?

Das ist die erste Sicherheitskonferenz, die ich persönlich erlebt habe, an der Vertreter Russlands und des Irans nicht teilnahmen und damit auch nicht den Diskurs stören konnten. Wir müssen jetzt das Gespräch mit China suchen und ihnen verdeutlichen, dass es ein Fehler wäre und sich nicht lohnt, Taiwan anzugreifen und sich einzuverleiben. Wir müssen außerdem den globalen Süden mehr respektieren und die Chancen und den Mehrwert der regelbasierten Ordnung aufzeigen. Deswegen müssen auch Länder mehr Gehör finden, auf die sich der Klimawandel stark auswirkt und die unter den Spätfolgen des Kolonialismus leiden. Das Beispiel Mali zeigt, dass der westliche Blick oftmals nicht reicht und wir uns in andere Perspektiven hineinversetzen müssen. Dafür bot diese Münchner Sicherheitskonferenz eine ausgezeichnete Chance.

Sind sie rückblickend zufrieden mit der Besetzung der Konferenz?

Ja sehr, es kam die größte US-Delegation aller Zeiten, und das zeigt ein großes Interesse und Engagement der Amerikaner an Europa. Das Signal der Europäer muss jetzt auch eines der Anerkennung gegenüber den USA bei der Unterstützung der Ukraine und dem Schutz europäischer Sicherheit sein. Zudem sollten wir auch zeigen, dass wir bereit sind, mehr Verantwortung rund um Europa zu übernehmen. Besonders wenn es um Migration und den Schutz der Stärke des Rechts geht. Wir müssen außerdem Wege suchen, die Souveränität der Ukraine zu sichern und auch Skeptikern der Unterstützung der Ukraine zu zeigen, was die Folgen wären, wenn die Ukraine fällt. Neben den Millionen an Flüchtlingen würden EU und Nato dauerhaft durch Russland bedroht, und die regelbasierte Ordnung würde zerbrechen. Russland würde den Krieg fortsetzen, und die Gefahr bestünde, selbst Kriegspartei zu werden. Zudem würden auch die afrikanischen Staaten ihre Zusammenarbeit mit einem Europa hinterfragen, das seine eigenen Werte nicht verteidigen kann, und China die Alternative für diese Länder werden. Auch deshalb muss die Ukraine ihre Grenzen von 1991 wiederherstellen und ihr Staatsgebiet befreien!

Das Gespräch führte Felix Huber.

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