Russland in der Defensive - Wer kontrolliert die Atomwaffen?

Die Streitigkeiten zwischen der Wagner-Miliz und dem Kreml machen deutlich, dass die russische Regierung an Macht und Möglichkeiten verliert. Dennoch wäre ein militärischer Sieg der Ukraine mit großen Risiken verbunden. Denn die Option eines Nuklearschlags ist nicht vom Tisch.

Eine russische Sarmat-Interkontinentalrakete, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Ich habe vor kurzem in einem Beitrag die Frage aufgeworfen, ob die russische Regierung geeint oder überhaupt funktionsfähig ist. Grundlage für diesen Artikel war die Tatsache, dass die Russen seit mehr als sechs Monaten in der Stadt Bachmut festsitzen, sich nicht zurückgezogen oder neu formiert haben und nicht vorrücken konnten. Die russischen Streitkräfte sind dort so stark zwischen den regulären Streitkräften und der Wagner-Gruppe – dem privaten Militärunternehmen, das einen Großteil der Last trägt – gespalten, dass sich das russische Militär offenbar geweigert hat, Artilleriegeschosse an Wagner zu liefern. Es wäre eigentlich unvernünftig, dieser Truppe in Bachmut Munition vorzuenthalten. Einige haben deshalb behauptet, das reguläre Militär verfüge selbst über zu wenig Artilleriegranaten, was die Frage aufwirft, wie es zu dieser Situation kommen konnte.

Oberflächlich betrachtet scheint es sich um einen politischen Kampf zwischen der regulären Armee und Wagner zu handeln. Unabhängig von der Ursache stellt sich die grundsätzliche Frage, warum die zivile Regierung, namentlich Präsident Wladimir Putin, nicht eingegriffen und die notwendigen Schritte zur Lösung des Problems eingeleitet hat, etwa die Herstellung von mehr Granaten oder die Verlagerung eines Teils der Bestände. Anders ausgedrückt: Innerhalb der russischen Armee findet ein spannungsgeladener Kampf statt, und der russische Präsident hat den Streitkräften seine Macht nicht aufgezwungen und auch keine Lösungen befohlen.

Gelähmte Regierung

Es stellt sich die Frage, ob Putin überhaupt den Willen oder, was noch wichtiger ist, die Macht hat, etwas gegen dieses Problem zu unternehmen. Ich habe natürlich keine direkten Kenntnisse über das Innenleben des Kremls, aber ich erkenne anhand der öffentlichen Äußerungen, der Leistung des Militärs und aufgrund der Tatsache, dass das Oberkommando sowie die politische Führung nicht gehandelt haben, dass hier ein großes Hindernis für die Regierung existiert.

Damit besteht die Möglichkeit, dass die Ukraine und ihre Verbündeten den Krieg gegen ein gelähmtes Russland gewinnen könnten. Wenn das stimmt, ist das gut, aber es wirft auch ein beängstigenderes Szenario auf.

Als im Jahr 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, war die wichtigste Frage der Status der Atomwaffen. Die Befürchtung war, dass Elemente in der sowjetischen Regierung, die sich dem Zusammenbruch widersetzten oder glaubten, die Ereignisse umkehren zu können, sich Teile des sowjetischen Arsenals aneignen und den Westen damit bedrohen würden. Andere befürchteten, dass im Fall eines Zusammenbruchs des sowjetischen Kontrollsystems Einzelpersonen sich Zugang verschaffen und vielleicht eine Rakete abfeuern würden. Die Frage, wie man die Kontrolle über das Nukleararsenal der Sowjetunion erlangen könnte, wurde sehr schnell zu einer übergreifenden Sorge. Die Befürchtungen wurden gemildert, als mit dem sowjetischen Führer Michail Gorbatschow ein Rüstungskontrollabkommen geschlossen wurde.

Die Sowjetunion war zwar instabil, aber es gab Kontrollen. Heute ist das Ausmaß der Kontrolle in Moskau unklar. Das bedeutet, dass der Alptraum von 1991 wieder auferstehen könnte. Wenn die militärische und politische Führung so zersplittert und unberechenbar ist, wie es mir scheint, könnte das Endspiel in eine tiefe Krise münden.

Es steht viel auf dem Spiel

Das ist alles sehr hypothetisch, aber eine konventionelle Niederlage einer großen Atommacht bringt Ungewissheit darüber mit sich, wie weit die Besiegten gehen werden. Vielleicht werden die Russen alles auf eine Karte setzen und volles Risiko spielen, vielleicht werden sie bluffen – oder sie werden möglicherweise versuchen, ihre Niederlage wiedergutzumachen. Die Wahrscheinlichkeit der letzten Option mag verschwindend gering sein, aber es steht zu viel auf dem Spiel, um diese Möglichkeit zu ignorieren, wenn es um Atomwaffen geht.

Eine Atommacht zu besiegen, deren Kommando- und Kontrollsystem zusammengebrochen ist – und deren Präsident bereits mit einem Nuklearschlag gedroht hat –, ist eine sehr schwierige Angelegenheit. Die Gefahr eines Gegenangriffs und der gegenseitigen Vernichtung hat den Atomkrieg seit 1945 verhindert. Selbst wenn die Regierung kollabiert, kann man nicht wissen, was die Russen tun werden.

 

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Offen gesagt, liegt es nicht im Interesse der Vereinigten Staaten oder der Ukraine, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Ich bin mir sicher, dass die Geheimdienste und das Militär die unterschiedlichen Szenarien durchspielen. Aber mein Verständnis der Situation lässt mich zu dem Schluss kommen, dass es nicht im Interesse der USA liegt, Russland zu besiegen, und dass sich die Ukrainer, selbst wenn sie einen Sieg für möglich halten, mit einer Einigung zufrieden geben sollten.

Die Kriege und Militäreinsätze in Vietnam, Afghanistan und im Irak konnten nach ihrem Ende ohne allzu große Sorge behandelt werden, weil diese Länder keine Atommächte waren. Aber wenn Russland in der Ukraine verliert, was wird dann sein nächstes Ziel sein? Der Schutz der Ukraine ist meiner Meinung nach eine strategische Notwendigkeit, da die russische Bedrohung zunimmt, wenn Moskau in der Ukraine gewinnt. Aber so oder so, der russische Appetit wird sich nicht auflösen. Selbst wenn meine Befürchtungen hinsichtlich der Stabilität Russlands falsch sind, haben wir aus amerikanischer Perspektive immer noch etwas davon, wenn wir die Sache bis zum Ende durchdenken.

Wer kontrolliert die Atomwaffen?

Irgendwann werden wir die Verhandlungsphase erreichen, und dann wird die große Ungewissheit darin bestehen, ob die Moskauer Führung die Kontrolle über ihre Atomwaffen hat und ob die Regierung deren Einsatz anordnen könnte. Wie ich bereits gesagt habe, ist dies ein mögliches, wenn auch ein sehr unwahrscheinliches Szenario – aber es wird die Friedensgespräche psychologisch belasten. Die Verteidigung der Ukraine war ein Gebot der Stunde, nicht wegen der zentralen Bedeutung der Ukraine, sondern wegen der Frage, was Russland als Nächstes tun würde, wenn es keinen Widerstand gäbe. Der nächste Schritt Russlands wäre sicherlich nicht die Invasion Polens gewesen, aber wir können die Möglichkeit nuklearer Machtdemonstrationen nicht ausschließen.

Ich glaube nicht, dass der Albtraum eines Atomkriegs zur Realität wird. Der Albtraum wird vielmehr sein, dass Russland die Drohung mit einem Atomkrieg nutzt, um die Verhandlungen zu beeinflussen. Jede Drohung müsste als glaubwürdig angesehen werden – und eine glaubwürdige nukleare Drohung ist ein Albtraum, selbst wenn sie sich nie realisiert.

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