Russische Invasion der Ukraine - Die neue Phase des Krieges

Nach anfänglichen Erfolgen bei der Abwehr russischer Truppen muss die ukrainische Armee inzwischen schmerzhafte Niederlagen in Kauf nehmen. Denn Russland hat genug Lehren aus früheren Fehlern ziehen können, um gestärkt daraus hervorzugehen. Und Kiew steht vor der schweren Aufgabe, die Zustimmung zum Krieg aufrecht zu erhalten. Russland setzt derweil auf eine Strategie der Zermürbung.

Kriegstrümmer in der ostukrainischen Stadt Luhansk / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ridvan Bari Urcosta ist Research Fellow am Institut für internationale Beziehungen der Universität Warschau und Analyst bei Geopolitical Futures.

So erreichen Sie Ridvan Bari Urcosta:

Anzeige

Autoreninfo

Allison Fedirka arbeitet als Analystin für die Denkfabrik Geopolitical Futures. Sie hat mehrere Jahre in Südamerika gelebt. 

So erreichen Sie Allison Fedirka:

Anzeige

Kriege verlaufen in der Regel in Phasen, wobei nie klar ist, wie viele Phasen es geben wird, wenn der Krieg ausbricht. Und noch weniger klar ist, wo die eine Phase endet und die andere beginnt. Das alles gehört zum Nebel des Krieges. Sicher ist, dass die erste Phase eines Krieges nicht immer den weiteren Verlauf des Krieges vorhersagt.

Wenn man diese Logik auf die Ukraine anwendet, kann man zu dem Schluss kommen, dass die erste Phase vorbei ist, dass beide Seiten bereit sind, weiterzumachen. Und dass Russland, obwohl es die erste Phase „verloren“ hat, genug Lehren ziehen konnte, um gestärkt daraus hervorzugehen – während die Ukraine mit einer Reihe neuer Zwänge konfrontiert ist.
 
Russlands frühe Rückschläge sind vor allem darauf zurückzuführen, dass es versäumt hat, seine eigenen Schwachstellen zu berücksichtigen. Moskau eröffnete den Konflikt an drei Fronten: im äußersten Osten der Ukraine, im Nordosten entlang der ukrainischen Grenze zu Russland und im Norden entlang der Grenze zu Belarus. Die beiden nördlichen Vorstöße litten unter nachrichtendienstlichen Fehlern ebenso wie unter der Anzahl und dem Enthusiasmus der pro-russischen Kräfte innerhalb der Ukraine, die zu falschen politischen Entscheidungen führten; unter übermäßig ausgedehnten Nachschublinien und schlechten Kommunikationsmöglichkeiten, die zur Folge hatten, dass die russischen Streitkräfte unkoordiniert und schlecht geschützt waren. Und unter einem ineffektiven und oft inkompatiblen Mischmasch aus alten und neuen Technologien und Taktiken. Einfach ausgedrückt: Es war ein Chaos, das Moskau dazu veranlasste, seine Streitkräfte von den nördlichen Linien zurückzuziehen.

Drei Schauplätze

Die zweite Phase findet also vor allem im Süden und Osten statt, und zwar an drei verschiedenen Schauplätzen: in Städten, auf Getreidefeldern im Waldgürtel und in der Nähe von Flusssystemen. In den Städten wird viel mit Artillerie gekämpft, gefolgt von der Vorwärtsbewegung der Truppen. Die Kämpfe in den Getreidefeldern werden einem Guerillakrieg ähneln, begleitet von der absichtlichen Zerstörung von Wäldern und Feldern – einer Praxis, die auf die Sowjetära zurückgeht. Die Kriegsführung auf und an den Flüssen wird langsamer und schwerfälliger sein, da natürliche Hindernisse Offensiven und Gegenoffensiven behindern.

Die russische Strategie für die zweite Phase wird militärischen Zielen Vorrang einräumen. In der Praxis bedeutet dies, dass Russland seine Bemühungen auf den Abschnitt der Ukraine von Luhansk und Donezk bis hinunter nach Cherson konzentrieren wird. Die Russen kontrollieren etwa 95 Prozent von Luhansk und etwa 60 Prozent von Donezk. Innerhalb dieser Konfliktzone schaffen die russischen Streitkräfte eine Reihe von kleinen Gefechtsfeldern, die es ermöglichen, die ukrainischen Truppen von zwei oder drei Seiten aus massiv und konzentriert unter Beschuss zu nehmen. Ziel dieses Vorgehens ist es, die ukrainischen Streitkräfte so weit zu zermürben, bis sie eine kritische Schwäche aufweisen. Anders als in der ersten Phase des Krieges, in der Russland über eine massive Truppenkonzentration verfügte, sorgt diese neue Taktik für mehr Flexibilität und theoretisch auch für mehr Effektivität gegen schwere Ziele. Bereits jetzt hat Kiew immer wieder Verstärkungen in diese Gebiete geschickt, um die Gefallenen zu ersetzen.

 

Mehr zum Thema:

 

Neue Strategie

Die neue Strategie – eine Verlagerung vom russischen Truppenvormarsch zur ukrainischen Truppenaufreibung – ist zum Teil eine Reaktion auf die ukrainischen Befestigungen im Osten. Moskau weiß, dass die Ukraine fast ein Jahrzehnt damit verbracht hat, mehrschichtige Verteidigungsanlagen im und um den Donbass zu errichten. Das Ergebnis war ein ausgeklügeltes unterirdisches Verteidigungssystem auf einer geschätzten Fläche von 40.000 Quadratkilometern, das jede Art von Blitzkrieg unmöglich machte. Mit einer Strategie, die sich auf kleine Todesszonen konzentriert, können die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kräfte langsam, aber sicher dezimieren, ohne unbedingt große russische Vorstöße zu verlangen. Daher ist Russland auch deutlich aktiver bei der Zerstörung ukrainischer logistischer Ziele gewesen. 

Theoretisch wird sich das Szenario folgendermaßen abspielen: Die Russen rücken langsam vor, und wenn sie auf Widerstand stoßen, halten sie an, starten eine Reihe von Raketen- und Artillerieangriffen auf die ukrainischen Verteidigungslinien und rücken langsam wieder vor, sobald die feindlichen Kräfte geschwächt sind. Wichtig ist, dass diese gesamte Strategie davon ausgeht, dass die westlichen Verbündeten weiterhin nur Hilfe und militärische Ausrüstung, aber keine Soldaten schicken. Das ist eine sichere Annahme – aber wenn sie falsch ist, hat Russland ein echtes Problem.

Bis dahin wird Russland von der ostukrainischen Stadt Popasna aus, die es im Mai unter seine Kontrolle gebracht hat, weitere Offensiven in drei Richtungen entwickeln: in Richtung Lesitschansk, dem Unterbauch der ukrainischen Verteidigung, in Richtung Zolotoje, was die ukrainischen Kommunikationswege unterbrechen wird. Und in Richtung Bakhmut, dessen Fall die umliegenden Gebiete ernsthaft gefährden würde, da sie für russische Angriffe aus dem Süden offen stünden. Zur Durchführung dieser Manöver wird sich Russland in hohem Maße auf die Artillerie stützen, die durch Flugzeuge, funkelektronische Kampfführung, Züge und Panzer ergänzt wird. Die Logik des Krieges macht es den Ukrainern schwer, den russischen Streitkräften in der Zone zwischen Slawjask, Bakhmut und Lesitschansk auszuweichen, die sich zu einem Schwerpunkt des Konflikts entwickelt. Beide Seiten sind sich daher der Bedeutung dieses Gebiets bewusst.

Fehlende Drohnen

Der größte Nachteil dieser Strategie besteht darin, dass sie den Einsatz von Drohnen ausschließt, deren Fehlen die taktischen und materiellen Unzulänglichkeiten Russlands widerspiegelt. Kleine Drohnen würden mehr nächtliche Angriffe ermöglichen und die Verluste erheblich verringern. Eine der wichtigsten Lektionen, die Russland in der ersten Phase gelernt hat, war, dass kleine Drohnen den Artilleriebeschuss erheblich unterstützen können. Russland verfügt zwar über hochentwickelte Drohnentypen, stellt sie aber nicht industriell her – ein Umstand, der sich durch einen jüngsten Regierungsbeschluss bald ändern wird.

Die Ukraine wird sich auf die Veränderungen auf dem Schlachtfeld und Russlands neue Strategie einstellen müssen. Kiew ist sich darüber im Klaren, dass der Ausgang des Krieges sehr wohl davon abhängen kann, wie lange die ukrainischen Streitkräfte durchhalten können. Was das Material betrifft, scheint die Ukraine relativ gut aufgestellt zu sein. Sie ist gut ausgerüstet und verfügt über mehrere Luftabwehrsysteme, die den Schaden durch russische Luftangriffe mindern. Außerdem verfügt die Ukraine über zahlreiche Panzerabwehrwaffen und hochentwickelte unbemannte Flugzeuge verschiedener Klassen, die eine gute Artillerieaufklärung ermöglichen. Westliche Verbündete haben der Ukraine noch mehr Waffen zur Unterstützung ihrer Kampfanstrengungen versprochen, aber es ist unklar, wie viele der zugesagten Güter sofort geliefert werden können und wie lange die Ausbildung dauern wird.

In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Einsatzkräfte ein entscheidender Punkt. Zu Beginn des Krieges verfügte die Ukraine über eine große Anzahl von Wehrpflichtigen und Freiwilligen, die zwar die Zahl der ukrainischen Soldaten erhöhten, denen es jedoch an Ausbildung und Erfahrung mangelte und die die Zahl der später verfügbaren Reservisten reduzierten. Die Ersetzung von Soldaten ist im Krieg immer wichtig, aber sie ist noch wichtiger, wenn Russland beginnt, eine Strategie der Zermürbung zu verfolgen.

Diese Frage steht im Zusammenhang mit der noch dringlicheren Aufgabe, sowohl die politische als auch die militärische Seite des Krieges zu managen. Die öffentliche Zustimmung und der Nationalismus spielen eine große Rolle, wenn es darum geht, das ukrainische Volk für ein einziges Ziel zu mobilisieren und zu vereinen.

Auf der militärischen Seite wird es Fälle geben, in denen die Logik des Krieges vorschreibt, dass sich die Truppen von einem Ort zurückziehen, sich neu formieren und an einem anderen Ort Widerstand leisten. Dies ist beispielsweise in Donezk der Fall, wo 1.000 Soldaten in einem Gebiet stationiert sind, das praktisch eine Todeszone ist. Kiew steht jedoch unter enormem politischen Druck, den Krieg seiner eigenen Bevölkerung und seinen Verbündeten zu verkaufen – und die Feinheiten der Kriegsführung sind nicht immer leicht zu vermitteln, geschweige denn zu verkaufen.

Umstrittene Gesetze

In der Zwischenzeit muss sich die ukrainische Regierung auch mit umstrittenen Gesetzen befassen, die die politischen und militärischen Bemühungen voneinander trennen. Maßnahmen, die den Gebrauch der russischen Sprache einschränken, verstärken beispielsweise die antirussische Stimmung, untergraben aber die Propagandakriegsführung des Militärs, die in erster Linie auf Russisch erfolgt. Regierung und Militär müssen Spannungen wie diese lösen, wenn sie sich erfolgreich auf die neue Phase des Krieges einstellen wollen.

In diesem Sommer werden sich die Bemühungen beider Seiten daher wahrscheinlich auf drei Hauptrichtungen konzentrieren: Charkiw, Donbass und Cherson. Die Ukraine wird sich weiterhin auf eine Gegenoffensive in Cherson vorbereiten, der derzeit schwächsten Position Russlands. Es wird erwartet, dass Russland seine Operation im Donbass beendet und die von ihm besetzten Gebiete in Charkiw und Cherson integriert. Solange die ukrainischen Streitkräfte nicht aus dem Donbass vertrieben sind, ist es unwahrscheinlich, dass sich Russland auf andere Kriegsschauplätze konzentrieren wird. Das heißt, der Krieg wird nicht mit der Einnahme von Donbass und Charkiw enden. 

Die Ukraine wird sich langsam, aber mit großem Widerstand zurückziehen. Und jedes Anzeichen für ein Friedensabkommen wird als Verrat an den nationalen Interessen gewertet werden.

In Kooperation mit

Anzeige