Oppositionskandidat Kemal Kılıcdaroglu - „Gandhi Kemal“ gegen Erdogan

Nach 20 Jahren Erdogan bröckelt dessen Rückhalt sogar unter seinen Stammwählern. Aktuell stehen die Chancen für die Opposition damit so gut wie nie zuvor, das „Ein-Mann-Regime“ zu beenden. Das soll mit dem Oppositionskandidaten Kemal Kılıcdaroglu gelingen.

Oppositionsveranstaltung / picture alliance
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Nach 20 Jahren Regierungszeit ist die Kritik am türkischen Präsidenten Erdoǧan und seinem Regierungsstil groß wie nie. Zuletzt bröckelte wegen seiner verbalen Ausfälle und seinem schlechten Katastrophenmanagement im Erdbebengebiet sogar der Rückhalt bei seinen islamisch-konservativen Stammwählern. Und die Präsidentschaftswahl am 14. Mai bietet dem Oppositionsbündnis und ihrem Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıcdaroǧlu, auch „Gandhi Kemal“ genannt, die Möglichkeit, vom „Ein-Mann-Regime“ zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren.  

„Das Einzige, wovor wir uns fürchten müssen, ist die Angst selbst“, verkündete der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei jüngst in einem Video in den sozialen Medien. Während der vergangenen Wochen rief Kılıcdaroǧlu die türkische Jugend immer wieder dazu auf, vom Staat verhängte Internetzensuren zu ignorieren und in Anbetracht zunehmender Restriktionen nicht zu schweigen. Während der redegewandte Erdoǧan in den letzten Jahren vor allem mit seiner Tendenz zur Spaltung und seinen verbalen Attacken gegenüber Kritikern oder Feministinnen aufgefallen war, gilt Kılıcdaroǧlu als Versöhner: als einer, der das tief gespaltene Land wieder einen könnte.

Die Jugend verliert ihren Glauben an die Zukunft

Die Türkei hat aktuell viele Probleme: eine chronische Wirtschaftskrise, eine hohe Inflation und eine viel zu geringe Kaufkraft. Die Jugend verliert zunehmend ihren Glauben an eine gute und stabile Zukunft, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent. Die Unfähigkeit der Regierung, mit den Auswüchsen des Klimawandels umzugehen – viele Regionen der Türkei sind von Trockenheit bedroht  –, bringt die Menschen dazu, nach politischen Alternativen zu Erdoǧan Ausschau zu halten.

Wer es sich leisten kann, zieht ins Ausland. Dazu kommt das als inkompetent empfundene Katastrophenmanagement der Regierung. Im Südosten der Türkei, das kürzlich neben Nordsyrien von einem verheerenden Erdbeben und unzähligen Nachbeben getroffen wurde, harren die Menschen bei Minusgraden in der Kälte aus. Weder die versprochenen Container, die besseren Schutz vor der Kälte liefern sollten, noch die versprochenen Hilfen sind bisher eingetroffen. Die Opfer des Erdbebens fühlen sich deshalb im Stich gelassen.

Zweifel an der Regierungsfähigkeit Erdoǧans

Was die Wut der Menschen noch steigert, sind Bevorzugungen von AKP-nahen Erdbebenopfern bei der Vergabe von Lebensmitteln oder Zelten. Auch die Verhaftung von Überlebenden, die sich im Fernsehen über das späte Eintreffen von Bergungsteams oder Hilfen geäußert haben, nährt die Unzufriedenheit. Der Verbleib der seit dem großen Erdbeben von 1999 mit seinen fast 20.000 Toten erhobenen Erdbebensteuer und die ausbleibende Vorbereitung auf das von türkischen Seismologen befürchtete große Erdbeben von Istanbul nährt die Zweifel der Menschen an der Regierungsfähigkeit Erdoǧans. 

Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu / picture alliance

Hoffnung macht den Menschen dagegen, dass sich die türkischen Oppositionsparteien nach fast 12 Monaten des Zusammensitzens am „Sechser-Tisch“ auf ein gemeinsames Wahlprogramm und einen gemeinsamen Kandidaten, genannten Kemal Kılıcdaroǧlu, einigen konnten.

Die Parteienlandschaft vor der AKP war von vielen schnelllebigen Koalitionen und Parteineugründungen gekennzeichnet. Der Einzug neu gegründeter Parteien scheiterte allerdings oft an der 10-Prozent-Hürde, die 2022 zu einer 7-Prozent-Hürde umfunktioniert wurde. In dem Oppositionsbündnis sind die Vorsitzenden der sechs bürgerlichen Parteien vertreten. Eine Teilnahme der prokurdischen und sozialistischen HDP war von nationalistischen Parteien des Bündnisses wie der İYİ-Partei von Merak Akșener nicht erwünscht. „Die CHP kann sich mit der HDP treffen, aber nicht zu uns bringen“, kommentierte Akșener den Ausschluss der HDP von der Bildung eines Oppositionsbündnisses. 

Eine geschlossene Front gegen Erdoǧan

Die prokurdische HDP wurde von türkischen Statistikern als Königsmacher gehandelt, denn die Stimmen von Millionen Kurden, die bevorzugt die HDP wählen, könnten den Wahlausgang bestimmen, so die These. Ihren Plan, gemeinsam mit anderen linken Parteien einen eigenen Kandidaten zu stellen, hat die HDP inzwischen allerdings aufgegeben und sich trotz Vorbehalten gegen sie aus dem Oppositionsbündnis für eine Unterstützung von Kılıcdaroǧlu ausgesprochen.

Für die türkische Parteienlandschaft ist eine derart geschlossene Front ehemals verfeindeter politischer Parteien einmalig und deutet auf die politische Frustration und Angst vor einer Zukunft nach einem erneuten Wahlsieg der AKP hin. Alle Oppositionsparteien eint der Wunsch, das autokratische Präsidialsystem abzuschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren. Und aktuell stehen die Chancen eben so gut wie nie zuvor, das „Ein-Mann-Regime“ Erdoǧans zu beenden.

Ein Ausschlusskriterium für sunnitische Wähler

Ruhig, besonnen, mild – Eigenschaften, die in der Türkei meist nicht mit Durchsetzungsfähigkeit konnotiert sind. „Gandhi Kemal“, wie ihn Anhänger liebevoll nennen, verlor bisher zwar alle Wahlen gegen seinen Kontrahenten Erdoǧan. Für viele ist Kemal Kılıcdaroǧlu gleichwohl der Anti-Erdogan. Denn anders als der Langzeitregierungspräsident tritt Kılıcdaroǧlu nicht als Spalter, sondern Vermittler auf. Verbale Ausfälle oder gar Beleidigungen von Kritikern sind von ihm nicht überliefert.

Doch wegen der türkischen Politikverhältnisse – selbst Schlägereien im türkischen Parlament sind nicht ungewöhnlich – könnte „Gandhi Kemal“ tatsächlich daran scheitern, dass sein Politikverständnis als „unmännlich“ interpretiert werden könnte. Zudem glauben türkische Politologen, dass seine Zugehörigkeit zum alevitischen Glauben ein Ausschlusskriterium für sunnitische Wähler sein könnte. 
 

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Der studierte Wirtschaftsökonom ist 74 Jahre alt und machte sich im Finanzministerium als Kämpfer gegen Korruption einen Namen. Seit 2010 ist Kılıcdaroǧlu Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei, die von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk selbst ins Leben gerufen wurde. Gründungsmitglieder der CHP gehörten – so munkeln religiöse Türken – wie Atatürk selbst Freimaurerkreisen an und strebten eine Umformung der türkischen Gesellschaft nach westlichem Vorbild an.

Türkische Linke werfen der CHP außerdem vor, keine sozialdemokratische Partei im klassischen Sinne zu sein, da sie – anders als sozialdemokratische Parteien im Rest Europas – nicht aus der Arbeiterbewegung entstanden ist, sondern von der türkischen „Bourgeoisie“ gegründet wurde. Die Kritik aus islamisch-konservativen wie auch linken Kreisen gehört zu den Gründen, wieso die CHP bisher nur ein begrenztes Milieu von westlich orientierten, säkularen, meist gut situierten Städtern erreicht hat und ihre Wahlergebnisse bisher selten über 30 Prozent lagen. 

Der Nerv der Zeit

Auch wenn Kemal Kilicdaroǧlu wegen seiner besonnen Art oft kritisiert wird, ist er in seiner Kritik an Erdoǧan standhaft. Mehrmals bezeichnete er ihn als „Diktator“ und forderte ihn zum Rücktritt auf. Korruption und Vetternwirtschaft, die in AKP-Zeiten ein ungewohntes Maß angenommen haben,  thematisiert er wie wenige andere und unterstellte der AKP sogar eine ideologische Nähe zum IS.

In seinem kürzlich veröffentlichten Wahlvideo benennt er seine Wahlkampfthemen und trifft damit den Nerv der Zeit. Im Vordergrund steht sein Wunsch, die türkische Justiz zu stärken und die Korruption zu bekämpfen. Die Türkei solle – so Kilicdaroǧlu außerdem – nicht mehr das „Asylcamp“ der Welt sein. Und Kilicdaroǧlu will die türkische Jugend, die derzeit zu Tausenden das Land verlässt, zum Verbleib in der Heimat motivieren. 

Einer, der Teil dieses türkischen Brain-Drains werden könnte, ist der 25-jährige Edem. Aus Angst vor Repressionen will er seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen. Er sagt: „Ob die AKP gewinnt oder nicht, ich verlasse das Land.“ Denn trotz mehrerer akademischer Abschlüsse findet der junge Türke keinen Job und lebt noch bei seinen Eltern. Dass ein Wahlsieg Kilicdaroǧlus die Situation für ihn und andere seiner Generation schnell verbessern könnte; dass sich „das Land dauerhaft von den Schrecken der letzten 20 Jahre erholen wird“, glaubt er nicht: „Ich sehe keine positive Zukunft für mich und die türkische Jugend.“ Nach seinem Militärdienst will Edem deshalb nach Deutschland gehen, um dort zu arbeiten. Egal was, Hauptsache raus hier, lautet sein Credo. 

Nutznießer des Systems

Zurück zu den Wahlen am 14. Mai: Laut des Meinungsforschungsinstituts Aksoy könnte Erdoǧan auf 44,4 Prozent kommen, während der Herausforderer „Gandhi Kemal“ in Umfragen derzeit bei 55,6 Prozent liegt. Der jetzige Regierungspräsident reagierte schnell auf diese Umfrageergebnisse und verkündete, dass sein Wahlbündnis nun neben der ultranationalistischen Partei der Grauen Wölfe, MHP, auch den politischen Arm der türkisch-sunnitischen Hizbullah, HÜDA Par, umfasst. Das laizistische Lager und türkische Feministinnen reagierten entsetzt. Mit ihren Auftragsmorden, Entführungen und Folterungen politischer Gegner, von Dissidenten oder als zu freizügig empfundener Frauen verbreiteten die Hizbullah in den 90er Jahren ein Klima der Angst.

Trotz der Krisen und Skandale der letzten Jahre stehen auch einige islamisch-konservative Milieus, die wenig bis nichts vom Westen oder von Frauenrechten halten, geschlossen hinter dem derzeitigen Regierungspräsidenten. Dazu gesellen sich Nutznießer des Systems, darunter Medienverantwortliche und Bauherren. Die AKP sucht ihre Herrschaft zu stärken, indem sie die Bevölkerung ängstigt. Mit Narrativen wie „Wenn wir gehen, stürzt der Staat“ oder „Wenn wir gehen, gibt es einen Innenkrieg“ scheint ihr das bei weiten Teilen der Bevölkerung auch zu gelingen.

Manche fürchten gar einen Bürgerkrieg

Oppositionskandidat Kilicdaroǧlu hat bereits angekündigt, alle Parteien des linken Spektrums um Unterstützung zu bitten, auch die türkische Arbeiterpartei (TIP) und die erwähnte prokurdische HDP. Derweil tauschen sich türkische Jugendliche auf der Online-Plattform Ekși Sözlük zu der Frage aus, was im Falle einer Niederlage der AKP passieren könnte. Nicht wenige vermuten, dass ihm loyale salafistische Kreise eine Wahlniederlage Erdoǧans nicht akzeptieren könnten. Eine große Mobilisierung von gewaltbereiten Männern halten viele Türken im Falle einer Wahlniederlage daher für denkbar. Manche fürchten gar einen Bürgerkrieg.

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