Neue Weltordnung - America first

Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs zeigt sich, dass Wladimir Putin die Weltlage völlig falsch eingeschätzt hat. Weder haben die Vereinigten Staaten das Interesse an Europa verloren, noch hat sich China an der Seite Russlands auf einen Machtkampf gegen Amerika eingelassen. Im Gegenteil: Peking setzt auf Wiederannäherung mit Washington. Die Hegemonie der USA bleibt deshalb vorerst bestehen.

Wie tief ist der Riss? Die amerikanische und die chinesische Flagge auf gebrochenem Grund / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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In den zurückliegenden Wochen hat der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder behauptet, die Vereinigten Staaten würden versuchen, eine neue Weltordnung durchzusetzen. Eine Weltordnung, bei der Russland, China und Europa sowie die kleineren Mächte von Amerika kontrolliert werden sollen. Es ist verlockend, dies als die Tiraden eines Führers im Krieg abzutun, aber es steckt mehr dahinter. Sollte Washington tatsächlich eine unipolare Welt anstreben, würde dies allerdings eine Planung voraussetzen, die der amerikanischen Realität zuwiderläuft. Vielmehr versucht Putin ganz offenbar, sich damit abzufinden, dass Moskau bei der Planung des Krieges in der Ukraine die Verfasstheit der Welt völlig missverstanden hat.

Insbesondere hat Russland die amerikanische Raffinesse missverstanden. Die Vereinigten Staaten setzten weder größere eigene militärische Kräfte ein, um Russlands Vormarsch zu blockieren, noch leisteten sie der Preisgabe eines Teils der Ukraine Vorschub. Die Vereinigten Staaten realisierten die Bedrohung, die von Russland an der Grenze zur Nato ausging – das heißt, einen neuen Kalten Krieg –, und sie verstanden die Ukraine besser als Russland. Also schickten sie große Mengen an Waffen ins Kriegsgebiet, die in ihrer Wucht und Ausgeklügeltheit nicht zu übertreffen sind. Amerika führte einen indirekten Schlag nach dem anderen aus.

Moskaus fatale Fehleinschätzung

Moskau verstand auch nicht die Beziehungen der USA zu Europa. Immer wieder beklagten die Europäer, Washington habe seine europäischen Verpflichtungen aufgegeben. Dass dies nie der Fall war, hielt weder amerikanische Thinktanks davon ab, diese Legende zu bestätigen. Noch brachte es Russland davon ab, an sie zu glauben. In Friedenszeiten konnten die USA auf die Bindekraft der früheren Beziehungen zu Europa verzichten, sie konnten das Gezänk um Handelsregeln und um die russische Energieabhängigkeit weitgehend ignorieren. Doch als der Krieg ausbrach, wandelte sich das Verhältnis schnell. Deutschland zum Beispiel wusste den russischen Treibstoff offenbar doch nicht so sehr zu schätzen wie die amerikanischen Sicherheitsgarantien. 

Den Europäern war klar, dass Russland ihnen schaden könnte, und sie vertrauten den Russen nicht wirklich. Aber wenn es hart auf hart kam, wussten sie, dass die amerikanischen Interessen in Europa liegen. Putin war, glaube ich, fassungslos, als er erfuhr, dass die Deutschen auf der Seite der Amerikaner standen. Ihm fehlte ein differenziertes Verständnis dafür, dass es verschiedene Arten von Macht gibt – und dass die von Russland projizierte Macht zu stumpf war, um zu funktionieren. Putin verstand nicht, wie wichtig es ist, unsicher zu erscheinen.

Der größte Fehler Putins betrifft jedoch die Beziehungen der USA zu China, einem Land in einer tiefen Wirtschaftskrise. Moskau konnte China weder schaden noch helfen. Die Vereinigten Staaten können beides tun: helfen, indem sie die Investitionen erhöhen und mehr Waren kaufen. Und schaden, indem sie beispielsweise den Verkauf bestimmter Mikrochips blockieren. Peking glaubte, dass es die Amerikaner nicht brauchte, um sich zu erholen, und es war davon überzeugt, dass Washington durch die chinesische Seemacht und die damit verbundene Stärke eingeschüchtert werden könnte. Stattdessen musste Peking zur Kenntnis nehmen, dass seine Drohungen rund um Taiwan und in anderen Gebieten einfach nur noch mehr Schiffe und Waffen auf den Plan riefen, die gegen es eingesetzt werden konnten. Und die Nützlichkeit eines Bündnisses mit Russland wurde durch die Erkenntnis erschüttert, dass die USA gleichzeitig in der Ukraine und im Südchinesischen Meer militärisch reagieren können.

Xi JInping wusste seine Verluste zu begrenzen

All dies hätte auf der Hand liegen müssen, und ich denke, China war sich der Fähigkeiten der USA besser bewusst als Russland. Der chinesische Präsident Xi Jinping wusste, wann er seine Verluste begrenzen musste. Putin dagegen hat immer wieder nachgelegt. Mein Eindruck scheint am Wochenende von einem Sprecher des 20. Nationalkongresses der Kommunistischen Partei Chinas bestätigt worden zu sein, dessen Aussagen von der chinesischen Zeitung Global Times wie folgt wiedergegeben wurden: 

„Wenn eines der wichtigsten Ereignisse in den internationalen Beziehungen der vergangenen 50 Jahre die Wiederherstellung und die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen China und den USA sind, die beiden Ländern und der Welt zugutekamen, dann ist das Wichtigste in den internationalen Beziehungen der nächsten 50 Jahre, dass China und die USA den richtigen Weg finden, miteinander auszukommen. Der Schlüssel zum richtigen Umgang zwischen China und den USA sind gegenseitiger Respekt, friedliche Koexistenz und die von Generalsekretär Xi Jinping vorgeschlagene Win-Win-Kooperation. Die gemeinsamen Interessen zwischen China und den USA überwiegen bei weitem die Unterschiede, und eine solide und stabile Beziehung zwischen China und den USA dient den gemeinsamen Interessen der beiden Völker.“

Wir sind daran gewöhnt, dass China den Vereinigten Staaten Drohungen entgegenschleudert. Jetzt sucht es nach Wegen, den USA entgegenzukommen. Peking hat das ebenso subtile wie brutale Verhalten der USA in der Ukraine zur Kenntnis genommen und beschlossen, dass ein Bündnis mit den USA, wie locker oder zeitlich begrenzt auch immer es sein mag, viel attraktiver ist.

Es ist also keine Überraschung, dass Putin die USA als eine Kraft sieht, die versucht, eine unipolare Welt zu schaffen, denn in mancher Hinsicht ist die Welt bereits unipolar. Die Vereinigten Staaten sind die größte Volkswirtschaft der Welt, ungeachtet ihrer aktuellen Probleme. Sie verfügen auch über ein hochentwickeltes Militär, das in der Lage ist, überwältigende Kräfte einzusetzen, eine Armee im Krieg mit neuen Waffen auszubilden und die Welt mit subtiler Gewalt zu gestalten. Die amerikanische Macht ist nicht absolut, und sie kann überflügelt werden. Aber sie ist beweglich genug, um nacheinander zu handeln, wenn zeitgleiches Handeln unmöglich ist. Einfach ausgedrückt: Die Vereinigten Staaten sind die mächtigste wirtschaftliche und militärische Kraft in der Welt – wenn sie sich entscheiden zu handeln. Untätigkeit kann von Männern wie Putin als Schwäche ausgelegt werden. Die USA haben gelernt, dass sie mit der ihnen innewohnenden Macht genug Zeit haben, um zu reagieren.

Amerikas Verachtung gegenüber seinen Präsidenten

Die amerikanische Öffentlichkeit sieht die Vereinigten Staaten oft als schwach und schlecht geführt an. Es besteht die Tendenz, Joe Biden, Donald Trump, Barack Obama, Bill Clinton und George W. Bush als Kriminelle oder Idioten oder beides abzustempeln. Die gleichen Vorwürfe wurden auch gegen Andrew Jackson, Abraham Lincoln und Franklin Roosevelt erhoben. Die Verachtung gegenüber den Oberbefehlshabern ist eine Voraussetzung, um eine Tyrannei zu verhindern, auch wenn sie ihre Nachteile hat. Die America-First-Bewegung, die sich gegen eine Beteiligung der USA am Zweiten Weltkrieg aussprach, beeinträchtigte Roosevelts Entscheidungsfähigkeit. Sie hatte unmittelbare Auswirkungen auf Pearl Harbor und verursachte einen schmerzhaften Kriegseintritt der USA, der für die Japaner natürlich in einer Katastrophe endete.

Die Wahrnehmung der amerikanischen Schwäche ist weltweit verbreitet, auch unter den Amerikanern. Unterschätzt zu werden hat seine Vorteile, ebenso wie eine Öffentlichkeit, die ihrem Präsidenten nicht traut. Aber nur enorm mächtige Nationen können sich dieses Misstrauen gegenüber einem Regierungschef leisten. Die zurückliegenden Monate waren kein Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten eine neue Weltordnung aushecken. Sie haben uns vielmehr gelehrt, dass Russland schwächer wird, dass China seine Beziehungen zu den USA vorsichtig gestaltet. Und dass die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene internationale Architektur zwar komplexer geworden ist, aber im Wesentlichen bestehen bleibt. Es ist eine unipolare Welt.

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