Migrationspolitik der Europäischen Union - Im Zwiespalt vereint

Kein Thema sorgt innerhalb der EU so verlässlich für Ärger wie die Flüchtlingspolitik. Eine echte „europäische Lösung“ ist daher auch vom aktuellen Migrationsgipfel nicht zu erwarten – und die deutsche Bundesregierung verweigert sich noch immer den Realitäten.

Protestschilder in Upahl: In der 500-Seelen-Gemeinde entsteht ein Containerdorf für 400 Flüchtlinge. Dagegen gibt es großen Widerstand aus der Bevölkerung / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

Anzeige

Seit der Migrationskrise der Jahre 2015 und 2016 wird geredet und gestritten über eine „europäische Lösung“ in der Flüchtlingspolitik. Gut acht Jahre später, wir schreiben das Jahr 2023, erhält die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Unesco-Friedenspreis für ihre „mutige“ Migrationskritik inklusive Grenzöffnung verliehen. Währenddessen bekommt eine kleine Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern ein Containerdorf „geschenkt“, in das fast so viele Flüchtlinge passen, wie es Einwohner in Upahl gibt. Und Kommunalpolitiker verschiedener politischer Coleur schreiben einen Brandbrief an den Bundeskanzler, dass es so nicht weitergehen kann mit den Fluchtbewegungen in ihre Kommunen und Landkreise. 

Acht Jahre also, und Deutschland steckt schon wieder mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise. Doch das Muster ist gelernt: Wenn sich Probleme auftun, um die man sich aus ideologischen Gründen in der Praxis maximal halbherzig kümmern will, reist man als Politiker eben auf irgendeinen Gipfel wie den aktuellen Migrationsgipfel der EU. Das wirkt dann wenigstens ein bisschen so, als würde man sich kümmern; als würde man ernsthaft daran arbeiten, dass sich der erneute Kontrollverlust nicht zum nächsten Flächenbrand auswächst. 

„Solidaritätsgedanke“ als Wolkenkuckucksheim

Acht Jahre, und die illegale Migration in die Europäische Union ist immer noch nicht im Griff, nicht einmal annährend. Auch deshalb, weil sie nach dem alten Prinzip funktioniert, dass, wo sich eine Tür schließt, immer auch eine andere öffnet. Nur dass es sich in dem Fall nicht um Türen handelt, sondern um Flüchtlingsrouten. Auch Abkommen mit Drittländern wurden bisher nicht in ausreichendem Maße geschlossen, weil die zum Teil gar keine Lust haben, ihre Landsleute wieder aufzunehmen. Und auch der vielbeschworene europäische „Solidaritätsgedanke“ ist eher ein rhetorisches Wolkenkuckucksheim, wenn man zum Beispiel mal Ungarn mit Deutschland vergleicht.
 

Das könnte Sie auch interessieren: 


Im Gespräch mit Cicero und der Berliner Zeitung sagte etwa Ungarns Regierungschef Viktor Orban im Oktober 2022 unter anderem: „Wir haben keine Multikulti-Gesellschaft (in Ungarn), und ich verstehe nicht, warum wir das anders machen sollten.“ Vier Monate später, im Februar 2023, kündigt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) einen Flüchtlingsgipfel mit Vertretern der Länder und Kommunen an, um gemeinsam zu überlegen, wie man in Deutschland in den Griff bekommen könnte, was schon wieder außer Kontrolle ist. Noch ein Gipfel also, bloß national. Reden, reden, aber bloß nicht ordentlich handeln. 

Denn gleichzeitig spricht sich Faeser öffentlich gegen eine Obergrenze für Flüchtlinge aus, obwohl das mal eine Maßnahme wäre, die langfristig wirklich einen nennenswerten Effekt haben könnte. Die Union fordert eine solche. Faeser ist dagegen, weil, sagte sie jüngst dem Spiegel, eine „Obergrenzen-Debatte ein Zombie aus vergangenen Zeiten und der Lage nicht angemessen“ sei. Faeser meint den Ukraine-Krieg und die von dort vertriebenen Menschen. Dabei geht es ja gar nicht darum, keine Ukrainer mehr aufzunehmen, sondern Lösungen zu entwickeln, wie sich etwa die Flüchtlingsbewegungen aus den Maghreb-Staaten eindämmen lassen. Abgesehen davon, dass Kriegsvertriebene aus der Ukraine ohnehin einen Sonderstatus in Deutschland genießen. 

Besonders dreist aber war Faesers Bemerkung in Richtung Union, mit einer solchen Obergrenze-Debatte würde man „das Spiel der ganz Rechten“ spielen, die Bevölkerung „verunsichern“ und sie „spalten“, obwohl es genau andersherum ist. Was die Gesellschaft spaltet, was sie verunsichert, seit 2015 schon – und nirgends lässt sich das derzeit besser beobachten als in Upahl –, ist, dass Deutschland schon wieder mittendrin steckt in der Flüchtlingskrise, und tagtäglich mehr und mehr Menschen ins Land kommen, nicht nur aus der Ukraine, sondern eben auch anderswo her. Allein im vergangenen Jahr wurden in Deutschland über 240.000 Asylanträge gestellt, was in etwa der Einwohnerzahl von Chemnitz entspricht. 

Herumdoktern an den Symptomen

Letztendlich zeigen die hier zitierten Aussagen Faesers daher eindrücklich, dass es nach wie vor eine gewisse Realitätsverweigerung innerhalb der Bundesregierung zu geben scheint, die immer noch glaubt, dass noch mehr Reden und noch mehr Geld für die Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland das Problem lösen würden. Obwohl man damit ausschließlich an den Symptomen einer völlig fehlgeleiteten Migrationspolitik herumdoktert, die nach dem Prinzip funktioniert: Wer einmal im Land ist, wird höchstwahrscheinlich auch bleiben. 

Was Deutschland braucht, sind daher durchaus Ideen und Lösungen, wie mit jenen Menschen umzugehen ist, die bereits hier sind. Eine effiziente Bürokratie wäre da schon mal ein guter Ansatz, damit arbeitswillige Migranten nicht eine halbe Ewigkeit warten müssen, bis sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Was Deutschland aber eben auch braucht, sind Maßnahmen, die die Flüchtlingsströme aus dem globalen Süden stark ausdünnen und dafür sorgen, dass sich weit weniger Menschen als derzeit auf den Weg gen EU machen; etwa übers Mittelmeer.

Stattdessen unterstützt die Bundesregierung seit kurzem sogar die zivile Seenotrettung mit jährlich zwei Millionen Euro vom Bund und handelt auch sonst eher so, als wollte sie noch mehr Menschen ins Land holen. Faesers Lippenbekenntnissen, die illegale Migration eindämmen zu wollen, und der im Koalitionspapier festgeschriebenen „Rückführungsoffensive“, die nach einem Jahr wohlgemerkt noch immer nicht begonnen hat, zum Trotz. Tinte auf Papier löst eben noch kein Problem. 

Meloni in Italien, Rechtsruck in Schweden

Aber zurück zur Europäischen Union und dem Migrationsgipfel. Denn klar ist, dass die Flüchtlingskrise theoretisch europäisch angegangen werden müsste. Und dafür bräuchte es eigentlich eine gemeinsame Marschrichtung der EU, damit eben nicht nur theoretisch geredet, sondern auch ganz praktisch angepackt wird. Die Realität sieht gleichwohl anders aus.

Da wäre zum Beispiel die sogenannte „Koalition der Willigen“, die Frankreich Mitte des vergangenen Jahres schmieden wollte, um Flüchtlinge nach einem „Solidaritätsmechanismus“ auf die Länder der Europäischen Union zu verteilen. Dummerweise stieß Emmanuel Macron dabei auf eine, um im Wortlaut zu bleiben, breite „Koalition der Unwilligen“. Das Interesse vieler EU-Mitgliedstaaten, mehr oder noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, ist nämlich nicht sonderlich ausgeprägt.

Mehr noch dürfte das Interesse in der Gesamtbetrachtung zuletzt sogar noch weiter abgenommen haben. Das zeigen unter anderem zwei politische Entwicklungen der vergangenen Monate. Erstens der Sieg des rechtskonservativen Bündnisses in Italien um die neue Regierungschefin Giorgia Meloni sowie der Rechtsruck in Schweden bei den Parlamentswahlen im September.

Eine gespaltene Europäische Union

Wenn man sich die Flüchtlingspolitik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten im Detail ansieht, verfolgt die knappe Mehrheit sogar tendenziell einen restriktiven Ansatz. Die Länder in Osteuropa ohnehin, von Estland bis Bulgarien, aber auch Dänemark etwa sowie Österreich. Dass es auch in Italien, siehe Meloni, Griechenland und Malta keine große „Willkommenskultur“ gibt, liegt auf der Hand. Schließlich setzen in diesen Ländern die allermeisten Flüchtlinge erstmals Fuß auf europäischen Boden.

Eine vergleichsweise offene Migrationspolitik gibt es beispielsweise in Finnland, Belgien und eben Deutschland. Und ein bisschen zwischen den Stühlen steht Frankreich. Wobei zur Wahrheit freilich gehört, dass jedes EU-Mitgliedsland im Detail nochmal seine ganz eigenen Herausforderungen und Probleme hat. Daher soll diese Aufzählung nur als grober Überblick verstanden werden. Woher soll sie also kommen, die gemeinsame europäische Lösung? 

Kontrolle zurückgewinnen

Darauf dürften die fast 450 Millionen in der EU lebenden Menschen auch am Ende des laufenden Migrationsgipfels keine zufriedenstellende Antwort bekommen. Im Gegenteil gab es vor dem Sondergipfel sogar erstmal Zoff, weil Österreich und sieben weitere Länder direkt eine Ansage machten. „Dass das Asylsystem kaputt ist, das sehen auch etliche andere EU-Mitgliedstaaten so wie wir“, so der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP). Und weiter: „Es braucht endlich ein klares und deutliches Bekenntnis zur Verstärkung des Außengrenzschutzes und zum Einsatz entsprechender finanzieller Mittel aus dem EU-Budget dafür.“ Andernfalls werde man die Abschlusserklärung des Gipfels blockieren.

Machen wir uns nichts vor: Nein, die EU wird die Flüchtlingskrise ganz sicher nicht europäisch lösen, weil das offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und weil das so ist, obliegt es eben jedem Mitgliedstaat selbst, den für sich am besten funktionierenden Weg zu finden. Da wird man sich dann im Falle Deutschlands entscheiden müssen, ob man weiter Moralweltmeister sein und das Land ins Chaos stürzen will, oder zeigt, dass man Realpolitik kann, sich als souveräner Staat präsentiert und unbequeme Entscheidungen trifft, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Und damit auch das Vertrauen der einheimischen Bevölkerung in die Politik.

In Upahl garantiert nicht mehr, aber anderswo vielleicht.

Anzeige