
- Moskaus vier Optionen
Der Kreml hat genug von Lukaschenko, schreibt Dmitri Trenin vom Carnegie Center in Moskau. Er täte nun gut daran, nicht die Fehler von 2014 zu wiederholen, mit denen Russland die Ukraine zu seinem unerbittlichen Feind gemacht hat.
Das allgemeine Muster dessen, was derzeit in Belarus geschieht, wurde schon Monate im Voraus erwartet. Vor der Wahl würde Präsident Alexander Lukaschenko alle ernsthaften Herausforderer ausschalten, sodass nur diejenigen übrig blieben, die er ohne allzu große Schwierigkeiten schlagen könnte; die Abstimmung selbst würde manipuliert werden; die Verkündung von Lukaschenkos Wahlsieg würde zu Protesten führen; Lukaschenko würde die Proteste mit roher Gewalt niederschlagen; er würde dann die Kritik von außen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands abwehren und an der Macht bleiben. Mit anderen Worten: eine Wiederholung des Wahlszenarios von 2010.
Doch entgegen den Erwartungen haben mehrere Elemente das Bild wesentlich, ja sogar entscheidend verändert. Eines davon war der Wagner-Zwischenfall: eine bizarre Operation, bei der der belarussische KGB elf Tage vor der Abstimmung dreiunddreißig mutmaßliche russische Söldner verhaftet und sie beschuldigt hat, nach Minsk gekommen zu sein, um während der Wahlen Unruhe zu stiften. Die Verhaftungen ermöglichten es Lukaschenko, seine antirussische Rhetorik zu verstärken. Der Kreml zeigte sich verwirrt und wertete dies als Versuch des belarussischen Machthabers, die Zustimmung des Westens zu seiner Wiederwahl auf einem antirussischen und auf Behauptung der Souveränität gerichteten Ticket zu gewinnen. Das Vertrauen, das Lukaschenko in Moskau noch geblieben war, verflog völlig.
Lukaschenkos Schockstrategie ging nicht auf
Das zweite Element war die Beharrlichkeit der Demonstranten in Minsk und in ganz Weißrussland, die nach mehrtägigen Protesten nicht aufgaben, obwohl sie von der Polizei drangsaliert und in vielen Fällen brutal zusammengeschlagen wurden. Die Brutalität, von der Lukaschenko gehofft hatte, dass sie die Proteste wie schon früher im Keim ersticken würde, brachte das gegenteilige Ergebnis: weit verbreitete Empörung und Wut. Dies wiederum führte zum dritten unerwarteten Ergebnis: die Ausweitung der Proteste über die übliche Menge junger, europäisch orientierter Stadtbewohner hinaus auf ältere Menschen, sogar auf solche, die wenige Tage zuvor vielleicht tatsächlich für Lukaschenko gestimmt hatten.
Die Situation entwickelt sich schnell, und es wird noch weitere Überraschungen geben. Dennoch können bereits jetzt einige vorläufige Schlussfolgerungen gezogen werden. Lukaschenkos Regime hat das Land definitiv verloren. Aber es kann sich noch an der Macht halten: Die regierende Gruppe, die sich aus von Lukaschenko handverlesenen und ständig wechselnden Bürokraten zusammensetzt, hat keine sichtbaren Risse gezeigt, und die Loyalität der Polizei und der Sicherheitsdienste wurde durch die persönliche Verantwortung ihrer Chefs für die Razzien nach den Wahlen erneut bestätigt. Das klassische Szenario einer farbigen Revolution wird sich diesmal in Belarus nicht abspielen.
Der nächste Akt des Dramas beginnt
Allerdings hat der Präsident, der die Wahl vielleicht sogar im ersten Wahlgang gewonnen hätte, ohne sie massiv zu beeinflussen, nun die Unterstützung der Bevölkerung verloren. Trotz des offiziellen Ergebnisses von 80 Prozent der abgegebenen Stimmen für Lukaschenko gab es im Volk keinen Widerstand gegen die Protestierenden. Das belarussische Volk, so hat es den Anschein, hatte nicht am Wahltag, sondern in den Tagen danach das Sagen.
Lukaschenko, der Autokrat, der den belarussischen Staat scheinbar im Alleingang aufgebaut hat, hätte als Vater des modernen Belarus in die Geschichte eingehen können, wenn er noch Anfang dieses Jahres seinen Rücktritt eingereicht und seine Nachfolge selbst geregelt hätte. Jetzt ist er auf dem Weg zu einem unvermeidlichen und unehrenhaften Abgang. Es mag Wochen oder länger dauern, aber das war's für Lukaschenko: Seine Legitimität ist für immer dahin. Dies ist das wichtigste Ergebnis der jüngsten Entwicklungen. Dieses Ergebnis bringt neben dem belarussischen Volk auch andere Akteure auf den Plan. Der nächste Akt des Dramas beginnt.
Moskaus vier Optionen
Die strategische Position, die Belarus auf der zentralen Achse zwischen der Europäischen Union und Russland einnimmt, macht die Nachfolge des Mannes, der das Land sechsundzwanzig Jahre lang mit eiserner Faust regiert hat, sowohl für Moskau als auch für den Westen überaus wichtig. Der Kreml ist nicht mit Lukaschenko verheiratet: Er hat genug von ihm. Er kann jedoch nicht zulassen, dass Belarus dem Weg der Ukraine folgt und zu einem weiteren antirussischen Bollwerk der NATO an seinen Grenzen wird, das viel näher an Moskau liegt. Er kann auch nicht zulassen, dass eine Rebellion zu einem Blutbad führt. Was sollte also getan werden?
Es gibt vier grundlegende Optionen. Erstens, eine russische Militärintervention in Belarus zur Stabilisierung seines Verbündeten: Dies sollte wegen der unvermeidlichen katastrophalen Folgen um jeden Preis vermieden werden. Die zweite Option besteht darin, nichts zu tun und Lukaschenko fallen zu lassen, in der Hoffnung, dass derjenige, der nach ihm kommt, die engen Beziehungen von Belarus zu Russland, darunter die wirtschaftlichen, berücksichtigt: zu riskant. Ein Umsturz könnte in ein Blutbad umschlagen und Moskau zwingen, von der ersten Option Gebrauch zu machen. Die dritte Option besteht darin, Lukaschenkos zerrüttete Beziehungen zum Westen zu nutzen und ihn in eine enge Umarmung zu nehmen: kontraproduktiv. Das würde Russland zu einem Komplizen des dem Untergang geweihten Regimes machen und mit Moskaus eigenem Geld Hass auf Russland schüren.
Die Ukraine darf sich nicht wiederholen
Die vierte Option besteht darin, über Lukaschenko hinauszublicken und einen Machtwechsel in Minsk herbeizuführen. Diese Option würde bedeuten, den politischen Übergang in Belarus zu erleichtern, indem man Lukaschenko davon überzeugt, dass der Ruhestand im Exil unter den gegenwärtigen Umständen die am wenigsten schlechte Option für ihn ist. Sie würde bedeuten, gleichzeitig ein breites Spektrum von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Belarus einzubeziehen und einer neuen respektierten Interimsführung dabei zu helfen, zu gegebener Zeit Wahlen abzuhalten.
Es würde auch bedeuten, sich bei den Belarussen zu den Fragen der bilateralen Beziehungen umzuhören, einschließlich des Charakters der Staatenunion und ihrer verschiedenen Elemente. Dazu würden auch die künftigen Parameter der Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehungen zwischen den beiden Ländern gehören. Das Gespräch müsste offen sein, und die gegenseitigen Verpflichtungen müssten bekräftigt oder gegebenenfalls angepasst werden.
Die Krise in Belarus so zu handhaben, dass dieses Land ein guter Nachbar und verlässlicher Partner für Russland bleibt, mag im Vergleich zu der seit langem vertretenen Vision einer Staatenunion bescheiden klingen. Aber es ist besser, Illusionen aufzugeben und Leben und Geld zu retten, als zuzulassen, dass ein naher Verwandter zu einem unerbittlichen Feind wird. Das Beispiel gleich nebenan - die Ukraine - darf nicht wiederholt werden.
Der Text erschien im Original auf Englisch bei Carnegie.ru.