Kosovo und Serbien - Eine Bombe mitten in Europa

Der serbische Präsident Aleksandar Vucic ist Putins Statthalter auf dem Balkan. Und der Konflikt mit dem Kosovo droht zu eskalieren – aber die westlichen Mächte schauen weg, weil sie sich auf die Ukraine und Israel konzentrieren.

Kosovarische Soldaten während einer Unabhängigkeitsfeier im Februar 2023 / picture alliance
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David Shedd ist Dozent für Sicherheitspolitik und ehemaliger Direktor der Defense Intelligence Agency (DIA).

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Ivana Stradner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Foundation for Defense of Democracies.

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Ende September verlegte Serbien moderne Waffensysteme an seine Grenze zum Kosovo – einer der größten serbischen Militäraufmärsche seit Ende des Kosovokriegs vor fast einem Vierteljahrhundert. Obwohl das Geschehen damals von den westlichen Medien weitgehend übersehen wurde – und inzwischen angesichts des Ausbruchs des Krieges zwischen Israel und der Hamas in Vergessenheit geraten ist –, ist es Teil einer alarmierenden Entwicklung auf dem Balkan.

Der unmittelbare Vorwand für die serbische Mobilisierung waren die monatelangen Unruhen zwischen dem Kosovo und Serbien, die einen brüchigen Frieden aufrechterhalten, seit Nato-Bombardements im Krieg von 1998/1999 dem Kosovo zur faktischen Unabhängigkeit von Belgrad verhalfen. Im Mai versetzte Serbien seine Truppen in Kampfbereitschaft, nachdem im Kosovo lebende ethnische Serben mit der kosovarischen Polizei aneinandergeraten waren. Und im September, kurz vor der jüngsten Mobilisierung an der Grenze, griffen 30 schwer bewaffnete ethnische Serben eine Polizeistreife im Kosovo an, wobei vier Menschen starben.

Spannungen der vergangenen Jahre

Vieles deutet darauf hin, dass diese Vorfälle über die bekannten Spannungen der vergangenen Jahre hinausgehen. Die Begebenheiten zeigen auch die wachsende Bedrohung, die von Russland, Serbiens Partner, für die Region ausgeht. So erklärte die serbische Ministerpräsidentin Ana Brnabic im Jahr 2022, der Kosovo und Serbien stünden „am Rande eines bewaffneten Konflikts“. Und Moskau – das die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennt – goss Öl ins Feuer, indem es Desinformationskampagnen startete, um das kosovarisch-serbische Misstrauen zu schüren und kriegerische Botschaften zu verbreiten, die die Region entlang ethnischer und religiöser Linien polarisieren. 

Russland hat Serbien auch aufgerüstet und gleichzeitig dessen Energieabhängigkeit von seinen Unternehmen erhöht, indem es Gas und Öl zu einem stark reduzierten Preis lieferte. Moskau hat Belgrad versprochen, die Aufnahme des Kosovo in die Uno zu verhindern. „Im Zentrum Europas braut sich eine explosive Situation zusammen“, verkündete der russische Außenminister Sergej Lawrow im Mai prahlend.

Russland schürt den historischen Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien unter anderem deshalb so gern, weil dies die Ressourcen der Nato belastet und die Macht der USA in Europa untergräbt. Das westliche Militärbündnis hat Serbien 1999 dazu gezwungen, sich aus dem Kosovo zurückzuziehen; seither unterhält man dort eine kleine Friedenstruppe. Infolgedessen stellen die zunehmenden Spannungen zwischen dem Kosovo und Serbien das Durchhaltevermögen der Nato in dieser Region auf die Probe. Die Unterstützung Serbiens verschafft auch Russland ein Standbein auf dem Balkan. Serbische Beamte haben Russland für seine „Unterstützung der territorialen Integrität und Souveränität Serbiens“ gedankt und betont, dass die Hilfe Moskaus der Grund dafür ist, dass Serbien keine Sanktionen gegen Russland verhängt.

Ein Projekt der Destabilisierung

Indem sie Druck auf Belgrad ausübten, gelang es den Vereinigten Staaten zunächst, die jüngsten Unruhen zu beruhigen. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic erklärte einige Tage später, dass er die Truppen an der Grenze abziehen werde und dass Serbien nicht die Absicht habe, im Kosovo einzumarschieren. Doch die Spannungen bleiben hoch. Der Kosovo bezeichnete die Anschläge vom September als Terrorismus, während Vucic den Kosovo beschuldigte, dort mithilfe der internationalen Gemeinschaft eine „brutale ethnische Säuberung“ gegen ethnische Serben durchgeführt zu haben. 

Vucic braucht übrigens keine ausgewachsene militärische Kampagne im Kosovo, um sein Projekt der Destabilisierung des Landes und der Demütigung der Nato voranzutreiben. Wie der russische Präsident Wladimir Putin bedient er sich paramilitärischer Gruppen, um seine Ziele zu erreichen. Nach Angaben der kosovarischen Regierung hat Belgrad den Anschlag im September mit orchestriert. Vucic könnte „kleine grüne Männchen“ einsetzen, um die Kontrolle über den Norden des Kosovo zu erlangen, und dabei eine plausible Leugnung aufrechterhalten – so wie es Putin auf der Krim getan hat.

Ethnische Gegner vernichten

Dass Vucic zu einem der Hauptverantwortlichen für die Spannungen mit dem Kosovo geworden ist, sollte nicht überraschen. Als junger Politiker war der heute 53-Jährige ein eingefleischter serbischer Nationalist. Während der Balkankriege, die auf den Zusammenbruch Jugoslawiens folgten – in denen Albaner, bosnische Muslime, Kroaten und Serben sich gegenseitig umbrachten, als sie versuchten, die Region zu kontrollieren –, ermutigte Vucic den neuen serbischen Staat, seine ethnischen Gegner zu vernichten. 

Wahlkampfveranstaltung von Aleksandar Vucic / picture alliance

Besonderen Hass hegte er auf die Kosovo-Albaner, die mehrheitlich Muslime sind und mehr als 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo ausmachen. „Für jeden getöteten Serben werden wir 100 Muslime töten“, erklärte Vucic 1995 in einer Rede. Im Jahr 1998 wurde er Informationsminister des serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic. Dessen Regime, das für seine besonders brutale Tötung von Albanern berüchtigt war, brach nach der Nato-Intervention zusammen. Miloševic wurde vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen verhaftet und starb im Gefängnis, bevor er verurteilt werden konnte.

Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land

Heute ist Vucic eher ein Opportunist als ein Nationalist, der vor allem vom Willen getrieben wird, im Amt zu bleiben und seine Macht auszuweiten. Doch diese neue Motivation hat den serbischen Präsidenten nicht besonders wohlwollend gemacht; er profitiert politisch vom Chaos auf dem Balkan, das ihm hilft, seine politische Bedeutung zu rechtfertigen und die Kontrolle zu behalten. Eine Krise im Kosovo etwa hilft ihm dabei, die Aufmerksamkeit von seinen eigenen innenpolitischen Problemen abzulenken und regierungsfeindliche Proteste zu unterdrücken. 

Sie hat auch seine internationale Position gestärkt: Durch die Eskalation und Deeskalation der Krise im Kosovo hat sich Vucic als Herr über die Stabilität in der Region positioniert, was es ihm ermöglicht, mit westlichen Ländern zu verhandeln und zu feilschen, indem er ihnen verspricht, die Spannungen abzubauen, sofern sie seine Forderungen nach wirtschaftlicher Unterstützung erfüllen.

Solche Verhandlungen sind nur eine der Varianten, mit denen es Vucic vermochte, die Vereinigten Staaten und Europa auszuspielen. Er hat auch die EU im Rahmen des serbischen Beitrittsantrags in die Zange genommen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs, darunter auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, haben erklärt, dass sie Serbien in der Union haben wollen, und Vucic hat theoretisch dem Beitritt zugestimmt. Dies allerdings nur wegen der Aussicht auf EU-Subventionen; tatsächlich dürfte es ihm vielmehr darauf ankommen, Serbien auf einem langen und nicht enden wollenden Beitrittsweg zu halten. Denn er will keiner Organisation beitreten, die ihn zwingen würde, die Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land zu stärken.

Russische Energie

Sobald Vucic an die Macht gekommen war, untergrub er die gesamte prowestliche politische Opposition und stärkte gleichzeitig rechtsextreme serbische Gruppen, um sein eigenes politisches Ansehen zu verbessern. Um seine Macht in der Region auszuweiten, versucht er auch, die ethnischen Serben im Kosovo in Belgrads Orbit zu halten. Und Vucic scheint immer noch daran interessiert zu sein, sich Teile des Kosovo gewaltsam einzuverleiben.

„Alle Serben wissen, dass sie den Kosovo verloren haben“, erklärte er 2018. „Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zurückzuholen, was ich kann, damit es am Ende keine totale Niederlage oder ein Totalverlust ist.“ Da der Westen damit beschäftigt ist, die Ukraine zu beliefern, Israel zu unterstützen und China unter Druck zu setzen, glaubt Vucic, dass er bald die Gelegenheit haben wird, im Kosovo zu operieren.
Um erfolgreich zu sein, ist der serbische Präsident jedoch auf die Hilfe Putins angewiesen. 
 

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In erster Linie geht es ihm dabei um russische Energie – Moskaus wichtigstes Instrument der Einflussnahme. Aber Russland und Serbien haben auch ihre militärisch-technische Zusammenarbeit ausgebaut (die Belgrad dann als Druckmittel gegenüber dem Westen eingesetzt hat). Vucic hat Moskau sogar um innenpolitische Hilfe gebeten. So warnte er im Mai vor „Farbrevolutionen“ – einer Reihe von Protestbewegungen, die zum Sturz prorussischer Machthaber in postsowjetischen Staaten beigetragen haben –, und 2021 kündigten Serbien und Russland an, sie gemeinsam zu bekämpfen. Das Ergebnis könnte eine russische Einmischung in die für den 17. Dezember angesetzten Parlamentswahlen sein, die Vucic im Oktober ausgerufen hat.

„Kosovo ist Serbien“

Um diese Wahlen zu gewinnen, wird er sich wahrscheinlich stark auf die Medien stützen. Als ehemaliger Informationsminister Serbiens kennt sich Vucic in diesem Bereich gut aus. Unter seiner Ägide hat Belgrad Desinformationen verbreitet, um die Serben auf eine Eskalation im Kosovo vorzubereiten, indem es unter anderem die Briten beschuldigte, einen Unabhängigkeitskrieg des Kosovo zu planen, und dem Premierminister des Kosovo unterstellte, „Terrorakte gegen die Serben“ verübt zu haben. 

Außerdem machte er die Nato für den Anstieg der Krebsraten im Lande verantwortlich, der nach Ansicht Belgrads darauf zurückzuführen sei, dass bei der Intervention 1999 Munition mit abgereichertem Uran eingesetzt wurde. Die serbischen Zeitungen, die weitgehend auf der Linie der Regierung liegen, sind voll von antikosovarischen Berichten, während die serbischen Radiosender patriotische Lieder abspielen. Entlang serbischer Straßen finden sich allenthalben Graffiti mit Sprüchen wie „Kosovo ist Serbien“ oder „Wenn die Armee in den Kosovo zurückkehrt“.

Ein Segen für Putin

Russland hat bei alledem geholfen. In russischen Städten stehen Plakate, auf denen zu lesen ist: „Wir trauern gemeinsam mit Serbien / Eine Farbe, ein Glaube, ein Blut“, womit die Gebietsansprüche Serbiens unterstützt werden. Auch in den russischen Medien, die Vucic in seinem Staat frei schalten und walten lässt, findet derlei Propaganda ein Echo. Sender wie RT und Sputnik haben dies genutzt, um neben proserbischen Botschaften auch prorussische Botschaften über die Ukraine zu verbreiten – und zwar mit großem Erfolg. So stellen serbische Nachrichtenquellen die Ukrainer häufig als Nazis dar und erklären fälschlicherweise, die Ukraine habe Russland zuerst angegriffen.

Für Putin war diese Entwicklung ein Segen. Russland betrachtet den Balkan als den weichen Unterleib Europas, und Moskau glaubt, dass Serbien seine verwundbarste Stelle ist. Ziel ist es, Moskau zum einzigen verlässlichen Konfliktvermittler auf dem Balkan zu machen – und damit dem Kreml ein Druckmittel gegenüber den westlichen Mächten zu verschaffen. Denn wenn der Friede auf dem Balkan von Putin abhängt, müssen die Nato-Vertreter gegenüber Moskau möglicherweise Zugeständnisse machen, wenn sie einen Krieg vermeiden wollen. 

Indem Putin die Balkanstaaten an den Rand des Abgrunds drängt, will er demonstrieren, dass die Nato ein Papiertiger ist und nicht handeln wird, wenn sie wirklich auf die Probe gestellt wird. Aber selbst wenn die Nato gegen Serbien eingreift, könnte das für den Kreml vorteilhaft sein. Denn mit der Eröffnung einer weiteren Front hätte der Westen weniger Möglichkeiten, die Ukraine zu unterstützen.

Unterstützung des Kreml für Belgrad

Ohnehin nutzt Putin den sogenannten Präzedenzfall Kosovo, um seine Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen. Dieser verqueren Logik zufolge, die der ständige Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen in einer Rede im Januar zum Ausdruck gebracht hat, sind die illegalen Annexionsreferenden in den besetzten ukrainischen Gebieten mit dem Kampf des Kosovo um seine Freiheit von Serbien vor mehr als zwei Jahrzehnten vergleichbar. Mit anderen Worten: Der Kosovo hatte das Recht, Serbien zu verlassen, und so haben die besetzten ukrainischen Gebiete das Recht, sich Russland anzuschließen. (Die Tatsache, dass Russland die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennt oder dass die Unabhängigkeit des Kosovo in der Tat ein Präzedenzfall für den Freiheitskampf der Ukraine ist, ist eine Ironie, auf die Moskau nicht eingegangen ist.)

Die Unterstützung des Kreml für Belgrad geht allerdings über enge Interessen hinaus. Moskau hat nämlich eine echte ideologische Verbindung zu den serbischen Nationalisten. So bemüht sich Putin, Russland als den führenden Verteidiger traditioneller kultureller Werte – wie strenge Geschlechterrollen und konservatives Christentum – gegen den liberalen Westen zu positionieren. Die serbischen Medien wiederum beschuldigen den Westen, die russische und die serbisch-orthodoxe Kirche zerstören zu wollen, und wettern etwa gegen die Rechte von LGBTQ. Viele Serben unterstützen die Vision einer „serbischen Welt“ – ein Balkan-Äquivalent zu Putins „russischer Welt“ –, die alle Serben, einschließlich derer im Kosovo, unter einem gemeinsamen serbischen kulturellen Dach vereinen soll.

Multinationale Militärübung mit der Nato

Die westlichen Staats- und Regierungschefs sind sich darüber im Klaren, dass Vucics Motivation zumindest zu einem großen Teil darin besteht, an der Macht zu bleiben. Daher haben sie versucht, den serbischen Präsidenten zu beschwichtigen, indem sie Belgrad Anreize gaben (einschließlich wirtschaftlicher Initiativen und Investitionen), um seine Eskalationen zu stoppen. Im Juni etwa, also einen Monat, nachdem ethnische Serben Angehörige der Nato-Friedens­truppen verletzt hatten, gewährte die EU Serbien einen finanziellen Zuschuss. 

Putin und Vucic während einer Zeremonie im Jahr 2019 / picture alliance

Der US-Botschafter in Belgrad bezeichnete Vucic als „konstruktiven Partner“, und als die serbischen Streitkräfte im Juni an einer multinationalen Militärübung mit der Nato teilnahmen, betonte die US-Botschaft, Serbien habe sich für den Westen statt für Russland entschieden. Vucic bewegt sich in seinen Beziehungen zum Westen weiterhin auf einem schmalen Grat. Einem durchgesickerten Dokument zufolge hat sich Serbien bereit erklärt, Munition an die Ukraine zu liefern, und Vucic hat diese Behauptung nicht dementiert. Im vergangenen März hat Serbien sogar für die UN-Resolution gestimmt, in der die russische Aggression verurteilt wird.

Aber diese Schritte sind nur ein Teil von Vucics Balanceakt. Die Militärübung findet seit 2014 in Serbien statt und verlangt von Belgrad wenig. Für Vucic sind die Munitionslieferungen an die Ukraine einfach ein Geschäft und haben die russisch-serbischen Beziehungen nicht beeinträchtigt. Und die UN-Resolution war rein symbolisch – eine Gelegenheit, das Land in den Augen westlicher Politiker aufzuwerten, ohne die Beziehungen zu Moskau zu gefährden. Die eigentliche, verschlüsselte Bedeutung der Resolution bestand darin, dass Serbien seine Ansprüche auf den Kosovo nicht aufgeben wird. „Für uns ist die Krim die Ukraine, der Donbass ist die Ukraine, und das wird auch so bleiben“, sagte Vucic im Januar 2023. Aber nur deshalb, weil Belgrad glaubt, dass (wie die serbischen Graffiti verkünden) „Kosovo Serbien ist“.

Spannungen mit Serbien

Wenn der Westen Vucic weiterhin unterstützt, dürfte ihn das nur ermutigen. Er wird die Nato weiter auf die Probe stellen und zu beweisen versuchen, dass das Bündnis zahnlos ist. Der Westen hat ihm bereits ermutigende Signale gegeben: Nachdem bei den Zusammenstößen mit serbischen Demonstranten im Mai mehr als 30 Angehörige der Friedens­truppen verletzt worden waren, nahm die Nato die gewalttätigen Demonstranten nicht fest, weil man eine Eskalation des Konflikts befürchtete. Solcherlei Zurückhaltung gleicht jedoch der Einladung zu einer weiteren Eskalation durch Vucic und den Kreml. Russische Beamte beobachten genau, was im Kosovo geschieht – und fragen sich, ob sie mit Angriffen auf Nato-Truppen und Einrichtungen davonkommen können.

Der Kosovo wiederum hat die Ziele des Westens zeitweise ignoriert. So haben die Nato-Länder die kosovarische Führung beispielsweise gedrängt, einen Verband serbischer Gemeinden zu gründen, was der Kosovo bisher nicht getan hat. In diesem Zusammenhang hat der Westen dem Kosovo vorgeworfen, mit Gewalt albanische Bürgermeister in mehrheitlich serbischen Städten einzusetzen und damit die Spannungen mit Serbien zu verschärfen. Daraufhin verhängten die Vereinigten Staaten Maßnahmen gegen den Kosovo und sagten die Teilnahme des Landes an der von Washington geleiteten Militärübung „Defender Europe 2023“ ab.

Um den Konflikt einzudämmen, hat die Nato eine Woche nach dem Angriff im Mai ihre Präsenz in der Region mit einem neuen Bataillon von rund 500 türkischen Soldaten verstärkt. Außerdem entsandte die Nato im Oktober Hunderte britischer Soldaten in das Land. Diese Maßnahmen dürften jedoch kaum ausreichen. Aus Sicht der Nato bräuchte es eigentlich eine Art Koalition der Willigen unter Führung der Vereinigten Staaten, um Belgrad und Moskau unter Druck zu setzen, damit sie die politische Instabilität nicht weiter fördern. Auch Sanktionen spielen hier eine Rolle.

Keine militärische Unterstützung

Bereits im Juni 2021 hat US-Präsident Joe Biden denn auch eine Verordnung unterzeichnet, die es Washington erlaubt, Sanktionen gegen jeden zu verhängen, der den westlichen Balkan destabilisiert. Die europäischen Staats- und Regierungschefs könnten ihrerseits zumindest die künftige Unterstützung für Serbien von bestimmten politischen Veränderungen in Belgrad abhängig machen. Die EU wiederum könnte weitere Hilfen unter die Bedingung stellen, dass Vucic Sanktionen gegen Russland verhängt, seine Außenpolitik an die der Union anpasst, regionale Provokationen eindämmt und die Reformagenda der EU erfüllt – vor allem in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit.

Aus westlicher Sicht scheint es auch geboten, der russischen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Nämlich dergestalt, dass Moskaus Erzählungen über eine „slawische Bruderschaft“ – zu der Serbien angeblich gehört – ein Mythos sind, und dass Putin keine Hilfe leisten wird, sollte ein Konflikt ausbrechen. Denn tatsächlich hat Putin alle Hände voll zu tun, um einen aussichtslosen Krieg gegen die Ukraine zu führen, und er wird Serbien keine Ressourcen für einen bewaffneten Konflikt mit dem Kosovo zur Verfügung stellen. 

Als Beleg dafür könnte übrigens der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im September dienen, bei dem Russland als langjähriger Verbündeter Armeniens keine militärische Unterstützung gewährt hat. Doch die Nato-Staaten werden mutmaßlich keinerlei Maßnahmen ergreifen und Vucic wahrscheinlich schlicht ignorieren. Denn das Bündnis ist wegen der Unterstützung für die Ukraine ausgelaugt, der Aufwand an Zeit und Ressourcen für den Komplex Kosovo/Serbien dürfte als zu groß empfunden werden.

Ein wertvolles Geschenk für Putin

Der Westen sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die Spannungen in diesen Staaten weitaus problematischer – und teurer – werden können, wenn sie weiter schwelen. Was im Kosovo und in Serbien geschieht, bleibt selten auf diese Länder beschränkt – die Krise kann leicht auf andere Balkan­staaten übergreifen.

Das nahe gelegene Nato-Land Nordmazedonien steht hier im Fokus; eine weitere Eskalation im Kosovo wird auch in Bosnien und Herzegowina zu Chaos führen, wo der bosnische Serbenführer Milorad Dodik – der enge Beziehungen zu Putin unterhält – mit der Abspaltung der bosnisch-serbischen Gebiete gedroht hat. Im Oktober hatte Dodik sogar geäußert, dass die Serben „einen einzigen Staat“ bilden sollten, bestehend aus Serbien, der Republika Srpska und Montenegro.

Eine Ausweitung des Konflikts wäre ein überaus wertvolles Geschenk für Putin, der möchte, dass der Westen seine Aufmerksamkeit von Kiew abwendet. Um Europa zu schützen und dem Kreml Einhalt zu gebieten, ist es insofern geboten, dass die Nato ihre Präsenz auf dem Balkan jetzt verstärkt, solange die Kosten dafür noch niedrig sind.

 

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