Israel und Gaza - Die Waffen schweigen - zumindest vorerst

Mehr als 1000 Raketen wurden in den vergangenen Tagen von der Terrororganisation Islamischer Dschihad aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Wie lange die von Ägypten vermittelte Waffenruhe hält, weiß keiner. Jedoch gelang es Israel, die Terror-Infrastruktur empfindlich zu schwächen. Und die Hamas hatte sich diesmal aus dem Konflikt herausgehalten.

Ein Polizist am vergangenen Samstag auf dem Dach eines Hauses in der Stadt Sderot, auf dem eine Rakete aus dem Gazastreifen eingeschlagen ist / dpa
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Mareike Enghusen berichtet als freie Journalistin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vornehmlich aus Israel, Jordanien und den Palästinensergebieten. Sie hat Politik- und Nahostwissenschaften studiert und ihre journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolviert.

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Eine Straßenszene im Zentrum Tel Avivs am Sonntagabend, 19.45 Uhr: Auf dem breiten Bürgersteig nahe dem Rabin-Platz herrscht quirliges Leben, Menschen sitzen in Gruppen vor Cafés und Pizzerien oder stehen Schlange vor Schawarmabuden. Zwar beschießt der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) seit Freitagabend israelische Städte, zwar bombardiert die israelische Armee immer wieder militärische Einrichtungen der Gruppe, die vom Iran unterstützt und von der Europäischen Union und anderen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. Doch in Tel Aviv ist davon wenig zu spüren: Die meisten Raketen des PIJ gehen im Süden des Landes nieder, und in wenigen Minuten, um 20 Uhr, soll ohnehin eine Waffenruhe in Kraft treten, so haben es diverse Medien berichtet.

Doch stattdessen zerreißt plötzlich das Heulen von Sirenen die entspannte Szenerie. Die Menschen springen auf und drängen zum nächstbesten Hauseingang, um sich im Treppenhaus oder im Schutzbunker vor Raketenbeschuss in Sicherheit zu bringen. Wann genau die Waffenruhe, vermittelt von Ägypten, tatsächlich kommen soll, ist unklar, melden Medien nun.

In Yafo, dem südlichen, arabisch geprägten Teil der Stadt, spielt sich derweil eine ganz andere Szene ab, wie später auf Videos israelischer Medien zu beobachten ist: Dutzende arabische Anwohner stehen während des Sirenenalarms am Straßenrand, schwenken palästinensische Fahnen und rufen „Allahu Akbar“, Allah ist größer. Zwar kommt es, anders als während der heftigen Kämpfe zwischen Israel und der Hamas im vergangenen Mai, dieses Mal nicht zu Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Bürgern innerhalb Israels. Doch die Szenen zeigen, wie tief die Gräben in der israelischen Gesellschaft sind.  

200 der Terror-Raketen landeten versehentlich im Gazastreifen

In den Abendstunden feuert der PIJ weitere Salven über die Grenze, während Israels Armee ihre Luftschläge fortsetzt. Erst kurz vor Mitternacht haben die Vermittlungen Erfolg: Die Waffen schweigen. Zumindest vorerst.

 

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Über 1000 Raketen hat der PIJ seit Beginn des Konflikts am Freitagabend auf Israel abgefeuert. Die meisten davon fing das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome ab, doch eines traf das Haus einer Familie in der südisraelischen Stadt Sderot. Verletzte wurden dabei nicht gemeldet. Israels Armee wiederum bombardierte im Laufe des Wochenendes rund 170 militärische Einrichtungen der Gruppe, vor allem Stätten zur Produktion, Lagerung und zum Abschuss von Raketen und Granaten. Zwei hochrangige Kommandeure des PIJ schaltete die Armee mit gezielten Luftschlägen aus. Insgesamt meldet die palästinensische Seite 44 Todesopfer, darunter 15 Kinder und vier Frauen. Die Verantwortung für den Tod einiger Zivilisten ist indes umstritten: Israelischen Angaben zufolge landeten rund 200 der PIJ-Geschosse versehentlich innerhalb des Gazastreifens und trafen dort Unschuldige, darunter mehrere Kinder in der Stadt Jabaliya im nördlichen Teil Gazas. Nach einer Prüfung des tragischen Vorfalls, der sich am Samstag zugetragen hatte, ließ die Armee verlauten, sie habe zum Zeitpunkt des tödlichen Einschlags überhaupt keine Operation in Jabaliya durchgeführt.

Entscheidend für die relativ rasche Beendigung der Kämpfe war israelischen Analysten zufolge die Tatsache, dass die radikalislamistische Hamas, die den Gazastreifen beherrscht und militärisch weit schlagkräftiger ist als der PIJ, sich aus dem Konflikt herausgehalten hat. Hätte die Hamas begonnen, ihre eigenen Raketen abzuschießen, die erwiesenermaßen mehr Schaden anrichten, hätte sich Israel zu weiteren Vergeltungsschlägen genötigt gesehen.

Zwei hochrangige Kommandeure des Dschihad wurden getötet

Aus Sicht der Hamas jedoch „passt derzeit das Timing nicht“, meint der israelische Sicherheitsexperte und Generalmajor Eitan Dangot, der verschiedene Verteidigungsminister beraten hat. Die Hamas, ebenso wie der PIJ als Terrororganisation gelistet, habe derzeit zwei Prioritäten: Zum einen wolle die Gruppe ihre Infrastruktur stärken, die Israels Armee bei der letzten militärischen Auseinandersetzung im Mai 2021 stark beschädigt hatte, und ihr Raketenarsenal wieder auffüllen. Zum anderen konzentriere sich die Hamas derzeit darauf, ihre Aktivitäten und Netzwerke im Westjordanland auszubauen. Der dort regierende Präsident der Palästinensischen Autonomiegebiete (PA), Mahmud Abbas, ist 87 Jahre alt; die Hamas, meint Dangot, bereite sich darauf vor, nach seinem Ableben die Führung der PA zu übernehmen.

Israelische Analysten ziehen derweil eine positive Bilanz der Kämpfe. „Die meisten unserer militärischen Ziele wurden erreicht”, meint Brigadegeneral Meir Elran, der heute am Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv forscht, „und das zudem für einen sehr vernünftigen Preis“: Mit der Tötung zweier hochrangiger Kommandeure und der gezielten Bombardierung militärischer Infrastruktur habe Israel dem PIJ einen empfindlichen Schlag versetzt, ohne dabei eigene Opfer beklagen zu müssen.

Derweil ist also wieder Ruhe eingekehrt auf beiden Seiten der Grenze. Doch kaum jemand im Nahen Osten erwartet, dass sie dauerhaft hält.

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