Intensivmediziner über Covid-19 - „Wir müssen endlich begreifen, dass wir Corona nur global überwinden“

Corona ist eine globale Pandemie. Der Intensivmediziner Tankred Stöbe schildert im Interview die angespannte Situation in seiner Klinik in Berlin und erklärt, warum er trotzdem gerade jetzt für Ärzte ohne Grenzen nach Afrika reist, um die Arbeit dort zu unterstützen.

Der Intensivmediziner Tankred Stöbe reist bald nach Afrika, um die dortige Arbeit zu unterstützen / Foto: Barbara Sigge
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Tankred Stöbe ist Intensiv- und Notfallmediziner und arbeitet als Stationsarzt an der Berliner Klinik Havelhöhe. Seit 18 Jahren unterbricht Stöbe immer wieder seine dortige Tätigkeit, um für Ärzte ohne Grenzen in Krisengebieten zu arbeiten. Unter anderem war er im Südsudan, in Uganda, Libyen, Nepal und im Jemen, teilweise mitten in virulenten Bürgerkriegen. Von 2007 bis 2015 stand er als Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen vor. Von 2015 bis 2018 war er Mitglied des internationalen Vorstandes von Médecins sans Frontières. 

Herr Stöbe, seit 18 Jahren unterbrechen Sie immer wieder ihre reguläre Tätigkeit als Notarzt in Deutschland, um für die Organisation Ärzte ohne Grenzen an Einsätzen in Krisengebieten teilzunehmen. Zuletzt waren Sie im Jemen, bereits im Zeichen der Corona-Pandemie. Reicht Ihnen der gerade aktuell sehr angespannte Arbeitsalltag in einer deutschen Intensivstation nicht als berufliche und menschliche Herausforderung?

Das reicht mir eigentlich schon aus. Doch gerade die Corana-Pandemie zeigt ja, dass es nicht ausreicht, den Blick auf seinen eigenen Alltag zu beschränken. Es bedarf einer globalen Solidarität, denn eine Pandemie ist eben nicht nur in einem Land lösbar.

Die Einsatzbedingungen in Ländern mit sehr schlecht entwickelten Systemen der Gesundheitsversorgung sprengen mitunter die Vorstellungskraft von Menschen, die derartige Verhältnisse nie erlebt haben. Doch auch in Deutschland droht die Versorgung an ihre Grenzen zu stoßen. Die Arbeitsbelastung und der psychische Stress sind im Zuge der Pandemie beträchtlich gestiegen, hört man allenthalben. Wie sieht denn ihr Arbeitsalltag in einer Berliner Intensivstation aus?

Ich habe gerade eine 12-Stunden-Schicht hinter mir. Von zwölf Patienten auf meiner Station müssen acht derzeit künstlich beatmet werden. Die Pandemie dominiert seit Monaten den Arbeitsalltag der Intensivmediziner in Deutschland. Wir geraten an unsere Kapazitätsgrenzen, und es stellt einem Land wie Deutschland kein gutes Zeugnis aus, dass wir offenbar aus der ersten Welle viel zu wenig gelernt haben und relativ unvorbereitet in die zweite Welle gekommen sind. Viel Leid und Tod, die wir jetzt tagtäglich erleben, hätte verhindert werden können, wenn wir uns im Sommer entsprechend vorbereitet hätten. Da kann man Deutschland kein gutes Zeugnis ausstellen, auch im internationalen Vergleich.

Die Rahmenbedingungen unter Corona-Bedingungen sind extrem. Sie arbeiten in schwerer Schutzausrüstung, das ganze Procedere der Vorbereitung ist sehr aufwändig, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Sie haben mit vielen leidenden und sterbenden Patienten zu tun, mit denen Sie kaum so etwas wie persönlichen Kontakt aufbauen können. Wie lange kann man das denn wegstecken?

Das gehört gerade für Intensivmediziner zum Beruf. Wir reden ja mit jedem Patienten um abzuklären, wie weit wir gehen sollen bei der Beatmung, wie wir die Schmerzen lindern können, welche speziellen Wünsche sie haben. Das sind schon sehr persönliche, berührende Momente. Oftmals können wir auch wenig machen, da wir ja keine speziellen Covid19-Medikamente zur Verfügung haben, da geht dann vor allem um Begleitung. Belastungen durch Schutzvorkehrungen spielen da keine zentrale Rolle. Ich persönlich habe bei meinen Ebola-Einsätzen in Afrika unter wesentlich härteren Bedingungen arbeiten müssen. Da durfte wirklich kein Zentimeter Haut frei bleiben, und die Tödlichkeit der Infektion war auch wesentlich größer als bei Corona. Wenn Notärzte mit solchen Belastungen nicht umgehen können, dann haben sie auch ihren Beruf verfehlt.

Offiziell gibt es ja in Deutschland noch keine Triage, also die angesichts knapper Behandlungsressourcen zu fällende Entscheidung, welche Patienten man aufgibt, um anderen mit möglicherweise besseren Überlebenschancen weiter helfen zu können. Es gibt allerdings auch Berichte, dass dies in einzelnen Kliniken bereits notwendig war. Und es ist abzusehen, dass dieses Problem bei weiterem starken Anstieg der Intensivpatienten virulent werden wird. Wie geht man als Arzt damit um?

Für Notfallmediziner gehört es gerade bei Auslandseinsätzen in Krisengebieten mit großen Katastrophen oder Kriegsopfern zum normalen Rüstzeug, diese Priorisierungen sehr schnell vorzunehmen. Bei Corona ist dieser Druck zu schnellen Entscheidungen in Deutschland noch nicht da. Wir haben allerdings schon die Situation, dass eine Klinik voll ist, also keine weiteren Beatmungsfälle mehr aufnehmen und versorgen kann. Da kommt es schon vor, dass ich mit einem Patienten quer durch die Stadt fahre und händeringend eine Klinik suche, die ihn noch aufnehmen kann. Noch klappt das einigermaßen. Aber wir könnten schon an den Punkt kommen, dass wir einfach nicht mehr genug Plätze haben.

Gab es denn schon Fälle, in denen Corona-Patienten gestorben sind, weil sie nicht mehr rechtzeitig intensivmedizinisch versorgt werden konnten?

Wir erleben in Altenheimen, dass die Patienten oder auch ihre Angehörigen sagen: Nein, wir wollen keine Einlieferung ins Krankenhaus, keine Beatmung, kein künstliches Koma, sondern so gut es geht eine Versorgung in der Einrichtung. Das haben wir zu akzeptieren.

Das ist ja eine Entscheidung der Betroffenen. Mir geht es aber um den Arzt, der an den Punkt kommt, dass die intensivmedizinischen Kapazitäten nicht mehr für alle Patienten ausreichen und er auswählen muss.

Ich hatte schon die Situation mit einer Warteliste von Notfallpatienten, bei der man entscheiden muss, in welcher Reihenfolge man die abarbeitet. Und in besonders betroffenen Regionen wie Sachsen und Brandenburg gibt es so etwas auch deutlich häufiger als im vergleichsweise gut mit Intensivbetten ausgestatteten Berlin. Aber die neuen Mutationen des Virus haben etwa in London gezeigt, wie schnell so ein System kollabieren kann. Und das kann uns hier auch passieren, zweifellos.

Tankred Stöbe / Foto: Barbara Sigge

Die allgemeine Einschätzung der Pandemie-Lage in Deutschland hat sich im Verlauf der vergangenen Monate ja mehrfach geändert. Im Mai haben Sie in einer Talk-Sendung gesagt, im Vergleich zu einer Ebola-Epidemie in Afrika sei das, was wir derzeit in Deutschland mit Corona erleben, relativ harmlos. Man bräuchte keine Panik haben. Würden Sie diese Aussage auf dem heutigen Stand – gerade angesichts der Mutationen des Virus – wiederholen?

Natürlich müssen wir die Ruhe bewahren, zumal wir es als Gesellschaft ja in der Hand haben, die weitere Entwicklung weitgehend zu steuern. Es wird noch lange dauern, bis ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, und so bleibt es entscheidend, dass Regeln, mit denen die Verbreitung des Virus eingedämmt werden kann, eingehalten werden.

Viele Menschen leiden im Zuge der Pandemie weniger an Krankheitssymptomen, sondern vor allem unter der sozialen Isolation, die die Lockdown-Beschränkungen mit sich bringen. Ist das wirklich – ich zitiere Sie – „eine Luxus-Arroganz, die hier gelebt wird, weil wir es eben noch nicht so dramatisch erlebt haben“?

Es gibt ja einen Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Welle. Bei der ersten gab es sehr viel Angst und relativ wenig Krankheitsfälle. Jetzt ist es quasi umgekehrt. Wir haben viel mehr Krankheitsfälle, aber die individuelle Aufmerksamkeit hat deutlich nachgelassen. Ich wundere mich über die hitzigen Debatten über Schul- und Kitaschließungen, während immer noch viel zu wenig auf die besonders gefährdeten Gruppen z.B. in Alten- und Pflegeheimen geschaut wird, und wie man die umfassend schützen kann. Und ich bin verwundert, dass viele immer noch glauben, die Pandemie sei eine politische Manövriermasse, die wir so oder so verschieben können. Wir können auch sehen, dass in Ländern, in denen wesentlich konsequenter gegen die Ausbreitung der Pandemie vorgegangen wurde – wie z,B, Taiwan, Australien und Neuseeland  – inzwischen weitgehend wieder ein annähernd normales Leben möglich ist. Davon sind wir in Europa Lichtjahre entfernt.

Für Menschen, die angesichts geschlossener Schulen und Kitas ihre Kinder zu Hause betreuen und parallel dazu im Home Office arbeiten, dürfte dies einigermaßen zynisch klingen. Und für Gastronomen, Einzelhändler und Künstler, deren wirtschaftliche Existenz gefährdet ist, auch.

Ja, das sind extreme Einschränkungen und Belastungen. Aber wir haben einfach keine andere Wahl. Wenn wir nicht alle Hebel in Bewegung setzen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen, dann werden wir diesen Kampf nicht gewinnen.

Erklären Sie das doch mal Menschen, die zwar jeden Tag in vollen Bussen und Bahnen in ihre Büros und Produktionsstätten fahren müssen, sich aber in der Freizeit nicht mal mit zwei Menschen, die nicht zum Haushalt gehören, treffen dürfen.

Ich bin Arzt und kein Politiker und kann nicht jede Einzelmaßnahme bewerten und beurteilen. Die Politik mag da nicht immer die klügsten Entscheidungen getroffen haben. Aber wir müssen einfach akzeptieren, dass wir jetzt an einem Scheideweg stehen. Wenn es nicht gelingt, die Infektionszahlen schnell und deutlich zu senken, werden die Folgen für unsere Gesellschaft wesentlich gravierender sein, als die durch die notwendigen, befristeten Einschränkungen. Und die neuen, extrem ansteckenden Mutationen des Virus schaffen da eine zusätzliche Dynamik.

Was denken Sie eigentlich als Arzt, der sozusagen an vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie steht, wenn Sie erleben müssen, dass die Impfkampagne, die ja als Schlüssel der Eindämmung von Covid19 gilt, in einem reichen Land wie Deutschland ausgesprochen holprig läuft?

Zunächst ist es ein historisch einmaliger Erfolg, dass in so kurzer Zeit neue, hochwirksame Impfstoffe gegen eine bislang unbekannte Krankheit entwickelt werden konnten. Aber Produktion und Verteilung obliegen den jeweiligen Pharmaunternehmen, die auf ihren Patentrechten sitzen. Es gäbe ja die Möglichkeit, Lizenzen zu vergeben, was aber kaum passiert. Angesichts der globalen Bedrohung hätte da viel radikaler agiert werden müssen, aber man überlässt es weitgehend den Marktmechanismen.

Sie müssen sich doch bei jedem Patienten, der jetzt auf Ihrer Station landet, die Frage stellen, ob der durch eine schnellere Impfung möglicherweise verschont geblieben wäre.

Ja, das ist so. Wobei wir ja sogar noch in einer relativ privilegierten Situation sind. Ich gehe bald nach Malawi, um dort die Arbeit zu unterstützen. In Afrika sind bislang so gut wie keine Impfdosen angekommen, die Weltgesundheitsorganisation sprach zuletzt von gerade einmal rund 30 Impfungen in den Ländern, die zu den ärmsten der Welt zählen. Wir müssen endlich begreifen, dass wir die Pandemie auch in Deutschland nur überwinden können, wenn wir global agieren. Aber derzeit passiert das Gegenteil, jedes Land guckt für sich. Das ist katastrophal.

Sind Sie schon geimpft?

Ich habe die erste Impfdosis bekommen. Derzeit muss noch geklärt werden, wann ich die zweite bekomme. Möglicherweise erst nach meinem Einsatz in Malawi.

In den Wochen, die Sie in Malawi arbeiten, fehlen sie ja in ihrer Klinik in Berlin-Havelhöhe. Sie haben ja zuvor geschildert, wie angespannt die Versorgungslage in ihrem Bereich bereits jetzt ist und auch weitere Verschlechterungen zu befürchten sind. Lassen Sie da nicht ihre Kollegen im Stich?

Das sind immer Kompromisse, die da zu schließen sind. In einer idealen Welt bräuchte es solche Einsätze, wie wir von Ärzte ohne Grenzen sie machen, nicht. Doch in großen Teilen der Welt gibt es eine wirklich dramatische Unterversorgung, und fehlen auch erfahrene Ärzte für den Kampf gegen so eine Pandemie. Wir sind jeweils gut beraten, wenn wir da nicht tatenlos zuschauen. Und ich freue mich, in einem stark betroffenen Land mit einem internationalen Ärzteteam meinen Beitrag leisten zu können.

Die Fragen stellte Rainer Balcerowiak.

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