EU-Gipfel in Brüssel - EU-Beitrittskandidat Ukraine: Neue Zeiten, neue Antworten

Ab Donnerstag treffen sich die EU-Chefs zum Gipfel in Brüssel. Aller Voraussicht nach wird der Ukraine dabei der Kandidatenstatus verliehen. Das ist richtig, muss aber flankiert werden von einer grundlegenden Reform der Europäischen Union, die sich in einer prekären Lage befindet. Und darf kein Ersatz für militärische Hilfe sein.

Ukrainerin bei einer Veranstaltung in Kiew für ukrainische Soldaten in Mariupol / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Wenn die 27 EU-Staats- und Regierungschefs ab Donnerstag zu ihrem Gipfel in Brüssel zusammenkommen, dann sollten wir uns –
ungeachtet der derzeit öffentlich demonstrierten Einigkeit – für einen Moment daran erinnern, wie fragil dieser Staatenverbund über die letzten Jahre geworden ist: Vor sieben Jahren brachte das Agieren der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise vor allem die osteuropäischen EU-Mitglieder gegen Brüssel und Berlin auf. Die Folge: Bis heute gibt es keine gemeinsame Flüchtlingspolitik der Europäischen Union, sondern nur ein notdürftiges Hangeln von Kompromiss zu Kompromiss.

Der Konflikt verstärkt nur jene Skepsis gegenüber Brüssel, die seit der Finanz-, Wirtschafts- und Euro-Krise ab 2008 in den meisten Mitgliedsländern EU-kritische Parteien massiv gestärkt hatte – und die auf dieser Welle in manchen Ländern wie Polen und Ungarn sogar die Regierung übernahmen. Gerade diese beiden Regierungen stellten in den letzten Jahren europäische Grundlagen wie die Unabhängigkeit von Justiz und Medien in Frage, ohne dass die EU eine adäquate Antwort darauf finden konnte. Vor zwei Jahren trat mit Großbritannien gar erstmals ein EU-Mitglied aus der Staatengemeinschaft aus.

In den Mitgliedsländern schwelt ein Streit über grundsätzliche Fragen: Wieviel Souveränität sollen die Nationalstaaten an Brüssel abgeben? Sollte die EU den Schritt vom Staatenverbund zum „Supranationalen Staat“ weiter gehen – inklusive der Vergemeinschaftung von Schulden? Und sollte am Ende das EU-Parlament weitreichende Entscheidungsgewalt bekommen – und damit die Regierungen der Nationalstaaten weiter entmachten? In dieser weiterhin prekären Lage befindet sich die EU, wenn ihre Staats- und Regierungschefs der Ukraine und Moldawien voraussichtlich den Kandidatenstatus verleihen und damit Verhandlungen über den tatsächlichen Beitritt einleiten werden. Obgleich bis dahin noch einige Jahre ins Land gehen dürften.

Kampf gegen Korruption

Allen ist klar: Ohne den Angriff Russlands auf die Ukraine, wäre es dazu nicht gekommen. Viel zu groß sind die internen Herausforderungen der EU, viel zu groß ist auch das Land Ukraine mit seinen 44 Millionen Einwohnern und viel zu gering seine Wirtschaftsleistung (2021: etwa 4500 Euro/Kopf, halb so viel wie EU-Schlusslicht Bulgarien). Viel zu komplex ist die Frage, wie man mit der annektierten Krim umgehen sollte, viel zu gering sind die tatsächlichen Fortschritte der Ukraine in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Kampf gegen die Korruption.

Der Beitrittsprozess dieses Landes wird eine Bürde für die EU sein. Und Brüssel muss sich fragen: Haben wir dafür institutionell die Kraft? Selbst das kleine Moldawien mit seinen weniger als drei Millionen Einwohnern wäre für die  Bevölkerung der EU-Länder wohl ein zu dicker Brocken gewesen. Nun ist aber auch dieses Land akut von Putins Eroberungsdrang bedroht.

 

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Es ist deshalb eine hochpolitische Entscheidung, ein Signal an die Ukrainer, die mitten in einem opferreichen Kampf gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner stehen: Ihr gehört zu uns. Es ist praktizierte Geopolitik. Und sie ist trotz aller Wenn und Aber in diesem historischen Moment notwendig und richtig. Denn während Russlands Präsident Wladimir Putin die Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellt und sein Chef des Sicherheitsrats, Dmitrij Medwedjew, auf Telegram darüber scherzt, ob es das Land in zwei Jahren überhaupt noch geben werde, schlägt Brüssel einen Pflock ein: Wir glauben daran, dass dieses Land eine Zukunft hat, eine Zukunft als Teil der europäischen Familie.

Auf der anderen Seite darf es keine Zweifel geben: Die Menschen in der Ukraine – im April waren es über 90 Prozent – wollen Teil der EU werden. Weil sie, das vergisst man hierzulande zuweilen, ihren Bürgern Wohlstand, Frieden und Rechtssicherheit verspricht – und dieses Versprechen über viele Jahrzehnte halten konnte. Nicht zu vergessen: Ein Beitrittsprozess sorgt dafür, dass Brüssel massiven Reformdruck auf die Regierung in Kiew ausüben kann.

Eher zwanzig als zehn Jahre

Die EU-Länder springen mit der (voraussichtlichen) Zusage über ihren Schatten und betreten gleichsam absolutes Neuland: Denn noch nie hat die EU Beitrittsverhandlungen mit einem Land begonnen, das sich mitten in einem Krieg befindet, dessen völkerrechtlich anerkanntes Territorium nicht mit dem übereinstimmt, das es tatsächlich kontrolliert.

Die EU beschwört auch neue Verteilungskonflikte innerhalb ihrer Mitgliedsländer hervor: Natürlich machen sich wirtschaftlich weniger starke Länder wie Portugal Sorgen darüber, wie die  Subventionsmilliarden aus Brüssel verteilt werden, wenn die Ukraine mit ihren riesigen Landwirtschaftsflächen eines Tages tatsächlich beitritt.

Die EU muss auch klarstellen, was „eines Tages“ bedeutet: Allen Beteiligten ist klar, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine eher zwanzig als zehn Jahre dauern dürften – und dass ein tatsächlicher Beitritt erst dann in Frage kommt, wenn der Krieg beendet ist. Denn nach der Beistandsklausel in Paragraph 42 (7) des EU-Vertrags müssten die EU-Staaten der Ukraine im Falle eines Angriffs beistehen.

Keine Überholspur für die Ukraine

Noch etwas ist entscheidend: Vor dem Hintergrund weiter drohender Gebietsverluste der Ukraine im Osten, darf die anstehende Zusage an die Ukraine auch kein Ersatz für dringend notwendige Waffenlieferungen werden, kein Geschenk, das sich die Europäer an die Brust heften, während die ukrainischen Soldaten im Osten von russischer Artillerie langsam zermahlen werden. Die EU-Mitgliedschaft ist ein Projekt auf Jahrzehnte, den russischen Panzern und Grad-Raketenwerfern muss in Charkiw, Cherson und Sewerodonezk heute etwas entgegenstellt werden.

Brüssel muss auch erklären, wie es mit den Staaten des westlichen Balkans umgeht: Eine Überholspur für die Ukraine, während etwa Albanien und Nordmazedonien auf dem Standstreifen warten müssen, ist diesen Ländern nicht vermittelbar. Im schlimmsten Fall würden ihre Bürger sich von der EU abwenden. Die EU-Chefs treffen sich am Donnerstag deshalb zunächst mit den Vertretern der Westbalkan-Staaten. Eine „Heraufstufung“ dieser Länder in ihrem Kandidatenstatus ist unbedingt geboten.

Starke Symbole der Solidarität

Angesichts der Perspektive, dass aus den heute 27 Mitgliedern bald 30 oder mehr werden könnten, muss die EU sich zudem dringend mit ihrer inneren Architektur beschäftigen, um ihre Handlungsfähigkeit nicht zu gefährden. Dazu muss etwa gehören, das Einstimmigkeitsprinzip zu kippen, das es bisher einzelnen Staaten wie Ungarn ermöglichte, mit einem Veto Entscheidungen zu torpedieren oder zu verzögern – meist, um sich einen Vorteil herauszuhandeln. Je mehr Mitglieder, desto komplexer die Entscheidungsfindung. Starke Symbole der Solidarität und Versprechen gegenüber Ländern, die von Russland angegriffen oder bedroht werden, sind richtig, aber sie sind auch einfach zu geben. Aber eine Mitgliedschaft dieser Länder erfordert strukturelle Veränderungen. Die erfordern mehr als schöne Worte.

 

Im Cicero-Podcast erzählt der Autor von seinen Erfahrungen im Ukraine-Krieg:

 

 

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