Energiesicherheit und Ukraine-Krieg - „Der größte Fan des deutschen Atomausstiegs ist Wladimir Putin“

Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine stellt sich für Deutschland die Frage, wie sicher die eigene Energieversorgung ist. Denn mit dem radikalen Atom- und Kohleausstieg habe man sich in gefährliche Abhängigkeit von Präsident Putin begeben, kritisiert die Osteuropa-Historikerin und Kernkraft-Expertin Anna Veronika Wendland.

Für unsere Werte frieren? Der Krieg in der Ukraine und mögliche Wirtschaftssanktionen werden die Energiepreise weiter steigen lassen / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Anna Veronika Wendland ist Historikerin und hat Teile ihrer Habilitationsschrift über die kerntechnische Moderne und die Geschichte der Reaktorsicherheit auf der Anlage in Grohnde geschrieben. Derzeit ist sie Osteuropa- und Technikhistorikerin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Im Frühjahr 2022 erscheint ihr Debattenbuch zum Atomausstieg.

Frau Wendland, Deutschland setzt den Genehmigungsprozess für die Gas-Pipeline Nord Stream 2 zumindest vorerst aus. Was bedeutet das für unsere Energieversorgung?

Für die jetzige Energieversorgung bedeutet das erst einmal noch nichts, weil Nord Stream 2 noch keine in Betrieb befindliche Pipeline war. Aber es ist natürlich eine ganz wesentliche Änderung, denn zum ersten Mal geht jetzt Deutschland wirklich mit einem massiven Einsatz in dieses Spiel. Bislang hieß es ja immer, das sei ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Ich glaube, jetzt hat im Grunde die Bundesregierung eingestanden, dass es sich beim russischen Erdgas um ein politisches Projekt handelt.

Momentan beziehen wir knapp die Hälfte unseres Erdgases aus Russland und vor allem über Pipelines, die durch die Ukraine gehen.

Einerseits gibt es Pipelines, die größtenteils über die Ukraine gehen, und andererseits gibt es Nord Stream 1. Nord Stream 2 war als Erweiterung geplant, die tatsächlich einen Teil der Lieferungen aus der Ukraine obsolet gemacht hätte.

Was wäre für die deutsche Seite der Vorteil, wenn wir diese Pipeline in Betrieb hätten nehmen können?

Das war ein Projekt zum beiderseitigen Vorteil Deutschlands und Russlands: eine Pipeline, die keine anderen Länder berührt, mit denen Russland in irgendeiner Weise im Konflikt ist und die dann ja auch einen Hebel hätten. Umgekehrt ist auch NS2 als Erpressungsinstrument gegen die Ukraine einsetzbar.

Das deutsche Prestigeprojekt der „Energiewende“, das Sie deutlich kritisieren, soll durch neue Gaskraftwerke gerettet werden. Das heißt, die Abhängigkeit von russischem Erdgas wird bei uns noch steigen.

Anna Veronika
Wendland

Das ist genau das Problem, vor dem wir jetzt stehen. Die volatilen Erneuerbaren brauchen Backup. Wir wollen aber aus der Kohle aussteigen, und der Atomausstieg ist fast vollendet. Sprich: Wir brauchen mehr Gaskraftwerke, um die Energiewende zu retten. So gesehen ist der Atomausstieg ein Gaseinstieg. Und das ist eine Entwicklung, die wir seit der rot-grünen Schröder-Fischer-Koalition sehen, die ja den ersten deutschen Atomausstieg beschlossen hat. Und schon damals standen die Zeichen natürlich auf Erdgas-Substitution. Das war das große Ding der Sozialdemokratie sei den Erdgasröhrengeschäften mit der Sowjetunion in den 1970er-Jahren. Das hat man auch als Instrument der Entspannungspolitik wahrgenommen. Aber auch die russische Seite ist gewohnt, strategisch in langen Zeiträumen zu denken. Es geht da um Projekte, die sehr lange Laufzeiten haben. Die Russen haben die Situation früh erfasst, salopp gesagt: Der größte Fan des deutschen Atomausstiegs ist Wladimir Wladimirowitsch Putin. Überdies gibt es ja nicht nur Nord Stream 2, sondern auch Kokskohle- und Steinkohlelieferungen für unsere Stahlindustrie und für Steinkohlekraftwerke. Da kommt ja auch eine Menge aus Russland.
 
Die Grünen haben sich gegenüber Russland „wertegeleitete Außenpolitik“ auf die Fahnen geschrieben, allen voran die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Diskreditiert es aber nicht diese außenpolitische Position der Grünen, wenn sie einen derart radikalen Atom- und Kohleausstieg anstreben, der Erdgas unumgänglich macht?

Ich bin für klare Kante, was die Verteidigung unserer Werte angeht. Nur muss man sie dann eben auch richtig verteidigen. Diese „wertegeleitete Außenpolitik“ läuft ins Leere, wenn wir nicht glaubhaft zeigen können, dass wir – drastisch ausgedrückt  – bereit sind, dafür zu sterben. Putin und seine Eliten haben bestimmte Vorstellungen davon, wie politische Führung auszusehen habe. Sie verachten den Typus der westlichen Führung auf Zeit, der von Wahlen und Umfragen abhängig ist. Putin verachtet Politiker, die in seinen Augen keine Führungskompetenz zeigen, während in Russland sehr gut verstanden wird, wenn man klare Kante zeigt und demonstriert, dass man für diese Werte auch friert und die nächste Wahl verliert. Aus Sicht der Ukraine sieht es so aus: Das ist ein Land mit 50 Prozent Atomstrom. Ihre Kernenergie für sie ein wichtiger Hebel, um sich unabhängiger von russischen fossilen Energieträgern zu machen. Und dann kommen die Deutschen und sagen, Atom ist verwerflich, wir haben Windparks und ein Wasserstoffbüro für euch.

Sie sprechen hier die sogenannte Wasserstoffdiplomatie unserer Außenministerin an, die sie in der Ukraine betreiben will. Ziel ist, dass dort mit Windkraft Wasserstoff hergestellt wird, der in Pipelines zu uns kommt. An und für sich eine schöne Idee, aber in der derzeitigen Krise interessiert sich dafür in Kiew niemand, oder?

Wasserstofftechnologie ist eine tolle Sache, nur nützt sie in der akuten Krise überhaupt nichts. Darüber kann man nachdenken, wenn man ungeheure Stromüberschüsse hat, die in die Elektrolyse gehen können. Wasserstoff dient in einer CO2-armen Ökonomie als Speicher. Man kann ihn im Fall der Ukraine durchaus auch mit Atomstrom herstellen. Doch vor 2035 ist da selbst in Deutschland nichts absehbar. Wir müssen im Grunde jetzt vom Pilotanlagen-Niveau auf Großindustrie-Level in wenigen Jahren. Man kann aber die pragmatische ukrainische Haltung zum Atomstrom nicht vereinbaren mit dieser ganz spezifischen deutschen Ausrichtung der Energiewende, wo immer der Atomausstieg die erste Priorität war. Die Ukraine will mit US-Hilfe neue Kernkraftwerke bauen.  

Wir reden also von Zeiträumen, in denen wir nach jetzigem Stand gar nicht wissen, ob es die Ukraine dann überhaupt noch als selbstständigen Staat gibt?

Um es drastisch auszudrücken: Ja. Die Entscheidungen, die wir heute treffen, werden auch das Leben unserer Enkel noch bestimmen, weil diese Infrastrukturen ungeheuer langfristig angelegt sind. Nicht unbedingt, weil die Anlagen so alt werden können. Alt werden können nur Kernkraftwerke. Elektrolyseure, Windräder, PV-Module haben alle Lebenszeiten zwischen 15 und 25 Jahren. Entweder man will nur ein simples System, das gigantische Überkapazitäten aufbaut. Dann sagt man: Wir haben auch bei schwachem Wind genug Strom, und bei starkem Wind regeln wir die Anlagen eben ab. Das ist, würde ich fast ironisch sagen, die sowjetische Lösung: Man löst das Problem mit Tonnage. Der andere Weg ist der intelligentere, aber der ist infrastrukturell zugleich wesentlich aufwendiger. Das ist der Weg, wo man erneuerbare Energien mit Wasserstoff kombiniert. Dafür braucht man aber sehr viele neue Formen von Infrastrukturen. Für die Ukraine gibt es überdies noch eine Möglichkeit, über die EU mit Erdgas versorgt zu werden. Da wird die Fließrichtung der Pipelines umgekehrt, sollte die Ukraine von Russland blockiert werden. Sehr konkrete Hilfe wäre auch, der ukrainischen Kerntechnik unter die Arme zu greifen. Da sind auch in der Vergangenheit schon viele europäische Programme gelaufen.

Die Kernkraft in der Ukraine kennen sie sehr gut, weil sie selbst dort geforscht haben. Der deutsche Atomausstieg war unter anderem eine Reaktion auf das Unglück von Tschernobyl. Aber das Land, in dem dieses Unglück geschehen ist, hat eine ganz andere Haltung zur Kernkraft. Wie können Sie uns das erklären?

Die Haltung zur Kernenergie in der Ukraine hat ganz wesentlich mit dem Prozess der ukrainischen Unabhängigkeit zu tun. Ich kann mich noch daran erinnern, als die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung 1991 auf die Straße ging, da gab es auch Parolen gegen Atomkraft. Warum? Weil damals die Atomkraftwerke eben als imperiales Projekt auf dem Territorium der Ukraine wahrgenommen wurden – was sie auch waren. Die Atomstädte waren klassisch sowjetische Großindustrieprojekte. Auch auf den Anlagen wurde größtenteils Russisch gesprochen. Wenn man allerdings die Geschichte dieser sowjetischen Kerntechnik kennt, dann sieht man sehr schnell, dass es eigentlich eine russisch-ukrainische Technik ist. Ukrainer haben einen hohen Anteil an der Entwicklung der sowjetischen Kerntechnik, sowohl was die Kernforschung als auch was die Entwicklung der zivilen Reaktortechnik angeht.

In der westlichen Ukraine, wo die Mehrzahl der Kernkraftwerke gebaut wurde, haben diese Anlagen sich durchaus in ihren Regionen eingewurzelt, da auch Arbeitskräfte aus der Region rekrutiert wurden. Sobald die Ukraine unabhängig wurde, wurden sie zu nationalen Zugpferden. Nach dem Unglück von Tschernobyl ist die Ukraine für einige Jahre aus neuen Atomprojekten ausgestiegen, hat aber schließlich etliche KKW zu Ende gebaut, sodass also ironischerweise die Ukrainer erst nach Tschernobyl auf ihren heutigen Atomstromanteil von 50 Prozent gekommen sind. Mehr ist geplant, aber wenn die Ukraine von Russland mit Krieg und de facto einer Wirtschaftsblockade überzogen wird, dann wird da natürlich kein ausländisches Unternehmen ein Kernkraftwerk bauen. Insofern wird sich das wirklich entscheiden am gesamten Schicksal der Ukraine, was da überhaupt passieren wird.

Wie beurteilen Sie losgelöst von der Atom- und Energiefrage die aktuelle Situation im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine? Was ist Ihre Prognose?
 
Ich muss derzeit sagen, dass meine Prognose pessimistisch ist. Wenn Diktatoren anfangen, historische Artikel zu schreiben, ist höchste Warnstufe angesagt. Genau das hat Putin, weitgehend unbeachtet vom Westen, im Juli 2021 getan und vor einigen Tagen noch einmal wiederholt, mit seiner skurrilen Rede im Kreml. Er streitet da mit Bezug auf vermeintliche historische Fakten der Ukraine das Recht auf Eigenstaatlichkeit ab. In den Augen Putins ist die Ukraine eine abtrünnige russische Provinz, die zur Not mit Gewalt zurückgeführt werden muss. Denn er ist tatsächlich überzeugt davon, dass die Ukrainer so eine Art vom Weg abgekommene Russen sind, die vom Westen in die Irre geführt werden. In der russischen Propaganda der Zarenzeit waren es die Polen und die Österreicher, die die Ukrainer verführt hätten. Diese Motive, die in Putins Geschichtserzählung anklingen, haben also in Russland eine lange Tradition. Die kennen wir im Grunde seit den polnischen Aufständen im 19. Jahrhundert. Damals war es die große Angst der russischen Zaren, dass der gegen die russische Besatzung rebellierende polnische Adel die ukrainischen Bauern mitziehen und sie auf diese Weise dem Zarenreich entfremden könnte. Daher gab es dann im Gefolge der Aufstände immer auch Repressionen gegen gerade sich bildende Anfänge der ukrainischen Bewegung.

Der Aufstand in der Ukraine ist eine Urangst russischer Herrscher. Oft kursieren heute in russischen Staatsmedien Falschmeldungen, was in der Ukraine für Chaos herrsche und dass die ja gar nicht in der Lage seien, sich selbst zu regieren. Stattdessen müsse die harte Hand des Herrschers her, um die natürliche politische Ordnung wiederherzustellen. Hinzu tritt ein überaus reaktionäres und patriarchalisches Verständnis der ostslawischen Völkerfamilie: In dieser Lesart ist die Ukraine eine unmündige Tochter oder jüngere Schwester, und Vater oder älterer Bruder haben darüber das Sagen, mit wem die kleinere Schwester ausgeht.

Der große Fehler im Westen war, diese internen Faktoren völlig unterschätzt zu haben. Es handelt sich nicht in erster Linie um ein Problem von Sicherheitsgarantien für einen Staat, um die Nato. Solche Dinge, das ist alles Schaulaufen für den Westen, um ihm eine plausible Begründung für die Schachzüge der russischen Außenpolitik zu liefern. In Wirklichkeit geht es aber um innere Verhältnisse Russlands. Es geht um das Selbstverständnis der Russen als Nation, und so bizarr es sich anhört: Um diesen Konflikt zu befrieden, müsste sich eher Russland von der Ukraine emanzipieren als andersherum. Doch in Putins Welt ist die Ukraine inzwischen eine Obsession, er selbst fühlt sich als der Vollender einer historischen Mission, des Wiedereinsammelns von, wie er meint, russischen Ländern.

Wenn Putin davon schreibt, dass die Ukraine vom Westen gegen Russland aufgebaut werde, dann ist das tatsächlich echte Angst. Er hat panische Angst vor politischen Zuständen wie in der Ukraine. Es gibt dort Meinungsfreiheit und Machtwechsel aufgrund von Wahlen. Auch jeder Oligarch macht, was er will. Und das ist für Leute wie Putin ein absoluter Horror. Er hat Angst davor, dass so etwas in Russland passieren könnte. Da hat er das Schreckbild der bösen 1990er-Jahre, in denen die sowjetischen Strukturen vor den Augen der Leute zerfielen und eine ungeheure Welle von Gewalt und Kriminalität das Land überzog. In dieser Phase war wiederum der Geheimdienst, also Putins Struktur, als Ordnungsmacht dann auch wieder vorne mit dabei. Das ist ja die Ursuppe, aus der Putins Karriere entstanden ist, an der Schnittstelle von Geheimdienst, korrupter Politik und organisierter Kriminalität.

Ihre Prognose?

Putin wird es nicht bei einem Einmarsch in die Separatistengebiete belassen, sondern er erhebt jetzt schon Anspruch auf die gesamten Regionen von Luhansk und Donezk. Er wird auch Anspruch auf weitere Gebiete erheben. Wir werden jetzt eine Kette von militärischen Aggressionen erleben. Das einzige, was Putin wahrscheinlich stoppen würde, wäre, die Ukraine mit sofortiger Wirkung in die Nato aufzunehmen. Und Russland für jeden weiteren Schritt tatsächlich mit äußersten Konsequenzen zu drohen. Aber das wird leider nicht passieren.

Was an Putins „Geschichtsrede“ sehr erschreckend war, ist die Aufkündigung des in den GUS-Staaten teils noch fortlebenden sowjetischen Gesellschaftsvertrags: In seinem Rahmen stehen die freien Nachbarrepubliken zwar unter der Ägide Russlands, aber jede Nation hat dennoch ihre Freiräume zur Selbstbestimmung. Dieses Konzept geht auf Lenin zurück. Deshalb hat ihn Putin in seiner Rede dämonisiert.

Putin warf Lenin vor, mit seiner national-territorialen Ordnung der Sowjetrepubliken den Ukrainern jene staatlichen Attribute gegeben zu haben, in deren Rahmen dann ihre sowjetische Nationsbildung und Modernisierung ablief, und damit hat er ja sogar recht; nur interpretiert er das als „russisches“ Werk, was bedeute, die Ukrainer seien undankbar. Doch in der damaligen Gliederung sieht Putin die Axt an der Wurzel der russischen Reichsintegrität. Diese Lesart hat er von russisch-nationalen Autoren übernommen. Doch die Westgrenzen der heutigen Ukraine inklusive Ostgaliziens, Transkarpatiens und der Bukowina – also der alten Habsburgerterritorien mit ukrainischer und auch bedeutender jüdischer Bevölkerung – wurden von Stalin geschaffen, und zwar auf Kosten Polens, der Tschechoslowakei und Rumäniens, zu denen diese Gebiete in der Zwischenkriegszeit gehört hatten.

Das erwähnt Putin natürlich nur am Rande, denn wenn er diesen historischen Sachverhalt ernstnehmen würde, würde dieser sein Schema völlig durcheinander werfen. Schließlich soll das Andenken seines großen Vorbilds Stalin nicht befleckt werden. Und daran merkt man, wie manipulativ und willkürlich er mit Geschichte umgeht. Er riskiert damit auch mehr, als er vielleicht vermutet. Lenin ist ja eine historische Figur, die in Russland in breiten Kreisen irgendwie noch positiv konnotiert ist.

Wenn man es auf eine Linie bringen will, auf wen sich Putin ideologisch beruft, dann sind das eher russisch-nationalistische Denkschulen. Und die lassen sich nur sehr bedingt mit der frühen Zeit der Sowjetunion, mit der Avantgarde und den Kommunisten unter der Führung Lenins in Einklang bringen. Daran merkt man, dass mit dem Erbe seines eigenen Landes kämpft. Ich habe zurzeit auch die Reaktionen in der russischen Bevölkerung auf die neuesten Kriegshandlungen der russischen Streitkräfte im Donbass im Blick. Die sind fern vom Jubel über die Annexion der Krim, als das Narrativ so simpel und einfach war. Damals hieß es, es ginge um die Heimkehr dieser unterdrückten russischen Bevölkerung nach Russland. Jetzt aber versteigt sich Putin zu Dingen, wo auch die Russen sich am Kopf kratzen und sich fragen: Was soll das jetzt? Also ging es jetzt um einen Genozid oder um die Wasserpreise in der Ukraine oder um Lenin?

Ist das nicht die Chance, auf die wir hoffen müssen – dass in Russland irgendwann, wenn die toten Soldaten zurückkommen, eine interne Lösung für diesen Konflikt gefunden wird?

Was Putin jetzt macht, besiegelt mit Sicherheit auch ein Ende des Russlands, das wir kennen. Putin ist Russland eigentlich völlig egal. Putin geht es um seine eigene Struktur, seine historische Rolle. So gibt er sich auch selbst an diesen ungeheuer langen Tischen. Seine ständige Selbstisolation während der Corona-Pandemie zeigt zudem, dass er panische Angst vor dem Virus hat. Putin weiß, dass er sehr, sehr einsam ist. Wenn überhaupt, dann können Leute nur Angst vor ihm haben. Und natürlich steht Putin das Ende Stalins vor Augen, der allein starb, weil sich vor lauter Angst niemand traute, zu ihm zu treten und ihm zu helfen. Putin ist sich nicht sicher, ob er sich seiner Russen sicher sein kann. Am Ende seiner Herrschaft werden wir ein Russland haben, das am Boden liegt. Putin schätzt falsch ein, was wirklich knallharte Sanktionen noch alles bewirken können, und in seinem Beraterkreis sind nur Jasager. Bislang denken sie alle, trotz ihrer Angst, sie könnten mit Putin immer noch einen guten Schnitt machen. Auch sie haben ein Interesse am Status quo, sie fürchten Chaos oder gar Vergeltung. Doch Putin ruiniert den Status quo gerade. Ich glaube, dass genau das die Situation so unübersichtlich und unvorhersagbar macht, aber auch ungeheuer gefährlich.

Das Gespräch führten Daniel Gräber und Nathan Giwerzew.

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