Einsatz von Atomwaffen - Moskaus ultimative Drohung

Im Ukrainekrieg gerät Russland immer stärker in die Defensive. Jetzt sollen vier Regionen in der Ostukraine annektiert werden, und Moskau bringt in diesem Zusammenhang auch den Einsatz von Nuklearwaffen ins Spiel. Doch die Drohung ist hohl, denn die Russen würden sich damit selbst schaden. Eine Analyse des amerikanischen Geopolitik-Experten George Friedman.

Explosion einer Atombombe / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Referenden in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk über den Beitritt zur Russischen Föderation sowie der geplanten Annexion auch der russischbesetzten Regionen Saporischschja und Cherson hat Moskau jetzt wieder den Einsatz taktischer Atomwaffen ins Spiel gebracht. Hierzu sollte man wissen: Diese sind für eine taktische Wirkung entwickelt worden, nicht für eine strategische.

Strategische Atomwaffen, wie die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen, können ein großes Gebiet sowohl durch die Explosion an sich als auch durch den nuklearen Fallout verwüsten: Der Explosionsbereich würde zerstör, der Fallout wiederum würde die tödliche Wirkung verstärken und über eine beträchtliche Entfernung durch den Wind in die umliegenden Regionen getragen.

Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass damals ungeachtet der hohen Verluste keine der beiden japanischen Städte vollständig verlassen wurde und beide etwa ein Jahr nach der Zündung der Bomben wieder bewohnt waren und auf einem vernünftigen Niveau funktionierten. Die Leistung taktischer Atomwaffen beträgt (je nach Typ) weniger als ein Prozent der Hiroshima-Explosion, und ebenso wichtig ist, dass sie kaum nuklearen Fallout verursachen.

Taktische Atomwaffen nicht kriegsentscheidend

Taktische Atomwaffen können den Ausgang einer Schlacht, nicht aber eines Krieges bestimmen – und sie würden das betroffene Land nicht unbewohnbar machen. Die andere nukleare Option Russlands ist daher strategischer Natur: die Zerstörung ukrainischer Städte mit einer Waffe vom Typ Hiroshima. Diese Option hat aus russischer Sicht zwei Schwächen.

Erstens: Die Winde in der Ukraine sind unbeständig und wehen zum Beispiel in der Ostukraine meist in nordöstliche Richtung. Bei einer strategischen Nukleardetonation würde der Fallout also nach Russland und in diesem Beispiel nach Woronesch, einer strategisch wichtigen russischen Stadt, geweht. Jeder Einsatz einer strategischen Kernwaffe würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch russisches Territorium betreffen.
 

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Ein zweites Risiko, das allerdings unwahrscheinlich ist, betrifft die Reaktion des Westens. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich verfügen allesamt über strategische Atomwaffen. Jedes dieser Länder könnte einen russischen Angriff auf die Ukraine als potenzielle Bedrohung für sich selbst betrachten und einen Schlagabtausch auslösen. Das mag weit hergeholt sein, aber in Kommandozentralen herrscht immer eine eigene Dynamik. Angesichts des begrenzten Wertes taktischer Atomwaffen und der potenziellen Katastrophe durch den Einsatz strategischer Atomwaffen sind russische Atomdrohungen also eher als Teil der psychologischen Kriegsführung zu sehen, denn Nuklearschläge könnten Russlands militärisches Problem nicht lösen.

Dieses Problem ist vielschichtig. Zum einen sind die Russen in der Ukraine so aufgestellt sind, wie sie den Krieg begonnen haben – nämlich auf Vorposten, die (wie geschehen) für Flankenangriffe anfällig sind. Ein Rückzug in besser zu verteidigende Formationen wäre sinnvoll, hätte aber auch schwerwiegende politische Folgen, da dies einen weiteren Rückzug bedeuten würde (nach jenem im Norden des Landes zu Beginn des Krieges).

Unmotiviertes russisches Militär

Ein zweites Problem scheinen die unzureichenden, schlecht ausgebildeten und unmotivierten Kräfte zu sein, mit denen ein Gegenangriff erfolgen könnte, welcher einen größeren Rückzug der Ukraine erzwingen würde. Ein drittes Problem ist das seit langem bestehende russische/sowjetische Problem: die Logistik. Um einen Gegenangriff zu starten, müssten die Russen nicht nur über einen Anfangsvorrat verfügen, sondern auch über massiven Nachschub, der zuverlässig dort ankommt, wo er benötigt wird. 
 

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Dies führt zu ihrem vierten Problem. US-Satelliten liefern ständig genaue Informationen über alle russischen Einsatzkräfte, einschließlich der logistischen Bewegungen. Darüber hinaus ist die Artillerie aus US-Beständen in der Lage, die russischen Nachschubwege zu unterbrechen und eine Offensive zu lähmen. Und schließlich sind die ukrainischen Streitkräfte so weit verstreut, dass ein taktischer Atomschlag die russische Offensive wahrscheinlich beeinträchtigen würde.

Es hat den Anschein, dass Russland in eine permanente Defensivhaltung gezwungen wurde. Wäre dies der Zweite Weltkrieg, wäre Russland in der Lage, sich zu erholen. Aber Russland hat seit 77 Jahren keinen vergleichbaren Krieg mehr geführt. Wir haben erlebt, wie die Russen den Krieg mit drei Panzervorstößen eröffneten, die aufgrund logistischer Probleme und wegen ukrainischer Panzerabwehrwaffen weitgehend wirkungslos blieben. Sie waren gezwungen, sich von ihren Offensiveinsätzen zurückzuziehen, sich neu zu formieren – und in die jetzige Lage zu geraten. Das russische Militär kämpft gegen einen Feind, der sich in der gleichen Lage befindet, der aber dank amerikanischer Unterstützung kein logistisches Problem hat.

Die Amerikaner aus dem Gleichgewicht bringen

Die Russen müssen also die Dynamik des Krieges ändern, wenn sie nicht zu einer politischen Lösung gezwungen werden wollen. Der Schlüssel dazu besteht darin, die Ukrainer aus mehreren Richtungen zu bedrohen, sowohl taktisch als auch strategisch. In der Tat geht es ihnen in erster Linie darum, die US-Logistik zu schwächen, indem sie eine ernsthafte militärische Bedrohung für einen anderen amerikanischen Verbündeten schaffen oder einen solchen direkt angreifen. Es ist nicht klar, ob die USA in der Lage wären, zwei Fronten zu versorgen, aber es könnte die Amerikaner durchaus aus dem Gleichgewicht bringen und sie dazu zwingen, ihre Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren – was Russland möglicherweise neue Möglichkeiten eröffnen würde.

Geografisch gesehen gibt es für solch einen Schritt nur wenige Möglichkeiten, aber die wahrscheinlichsten sind Moldawien und Rumänien – zwei Länder, die miteinander verbunden sind. Es könnte keine Offensive auf dem Landweg sein, sondern sie müsste über das Schwarze Meer erfolgen, um bedeutende Truppenverbände in Rumänien zu landen – einem Nato-Mitglied, das amerikanische Seestreitkräfte beherbergt. Um erfolgreich zu sein, müssten die Russen zunächst ukrainische Anti-Schiffs-Raketen ausschalten wie jene, mit denen die „Moskwa“ versenkt wurde. Danach müssten sie die Luft- oder Raketenüberlegenheit über dem Schwarzen Meer erlangen und aufrechterhalten und dann mit ausreichenden Kräften an Land gehen, um die rumänischen Streitkräfte in einen Kampf mit beträchtlichen amerikanischen Kräften zu zwingen. 

In Anbetracht der Tatsache, dass es außerhalb des Bosporus amerikanische Seestreitkräfte gibt, und in Anbetracht der zusätzlichen Tatsache, dass das Nato-Mandat oder die schiere Notwendigkeit die Schließung des Bosporus erzwingen würde, würde dies eine ernsthafte Bedrohung für die Russen darstellen. Hinzu käme ein Luftangriff auf die russischen Streitkräfte, so dass die gesamte Operation wahrscheinlich scheitern würde.

Mögliche Ablenkungsmanöver

Es existieren vielleicht noch andere denkbare Möglichkeiten für Ablenkungsmanöver, um die Vereinigten Staaten zu zwingen, ihre Streitkräfte zu verlagern, aber sie würden allesamt auf Landbewegungen beruhen zu einem Zeitpunkt, an dem Russland in Bedrängnis ist. Ein Angriff auf das Baltikum würde einen bedeutenden polnischen Angriff auf Russlands Flanke nach sich ziehen, und ein Angriff beispielsweise auf Finnland würde antizipiert und vorweggenommen werden. Das Gleiche gilt für Rumänien, allerdings mit etwas geringeren Chancen.

Natürlich ist der rumänische Schachzug an sich höchst unwahrscheinlich, aber wir gehen hier davon aus, dass Russland in die Defensive gedrängt wurde und nicht bereit ist, den Krieg aufzugeben. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nur wenige attraktive Optionen, allerdings sind die politischen Kosten eines Abbruchs des Krieges für die Russen enorm. Wenn sie so weitermachen wie bisher und die Initiative nicht zurückgewinnen können, dann hilft ihnen nur noch beten.

Die letzte Option bestünde darin, Kräfte im Osten des Landes zu sammeln und dann die Ukraine mit neuen Verbänden anzugreifen. Dies ist nach wie vor die wahrscheinlichste Lösung für Russland – vorausgesetzt, es ist überhaupt in der Lage, eine große Truppe zusammenzustellen, auszubilden und zu motivieren. Wenn nicht, könnte Russland allenfalls ein schlechtes Unentschieden herausschlagen, nicht aber der Ukraine seinen Willen aufzwingen.

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