Die Europäische Union braucht mehr politische Führung - Kein Weiter-so mit Wünsch-Dir-was

Das Problem der Europäischen Union ist, nicht nur in der Ukraine-Frage, mangelnde politische Führung. Das jetzt wieder belebte „Weimarer Dreieck“ könnte eine Chance sein, wenn Deutschland endlich lernt, die Realität zu betrachten und eigene Ziele zu definieren.

Hände schütteln reicht nicht: Olaf Scholz mit Emmanuel Macron und Donald Tusk im Kanzleramt. /dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Der internationale Einfluss der Europäischen Union liegt weit unter ihrem wirtschaftlichen Gewicht. Das hängt damit zusammen, dass es in zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen keinen Konsens gibt und die einzelnen Staaten deshalb für sich und damit ohne nennenswerte Folgen in der internationalen Diplomatie unterwegs sind. Dieser Zustand wurde in das Bild vom wirtschaftlichen Riesen und politischen Zwerg gefasst und er dauert weiterhin an. 

Die EU hat im Februar 2022, als Russlands Invasion die gesamte Ukraine einnehmen wollte, keinen Schrecken erfahren, der sie zur Handlungsfähigkeit trieb. Der Krieg in Gaza wird von den EU-Staaten derart unterschiedlich bewertet, dass nicht einmal eine gemeinsame Sprache gefunden wurde.

Zu Beginn der europäischen Integration galt als ausgemacht, dass das französisch-deutsche Tandem Richtung und Tempo vorgeben könne, wenn es denn gemeinsam handelt. Dieses Duo, das der Aufgabe häufig nicht gerecht wurde, sollte mit dem Beitritt osteuropäischer Staaten erweitert werden. Polen kam hinzu und das Weimarer Dreieck wurde 1991 gegründet. Die Hoffnung war, dass für wichtige Anliegen eine gemeinsame Linie gefunden werden könne, erst im kleinen Kreis und dann mit allen anderen EU-Staaten. Die Hoffnung schwand recht schnell. 

Gemeinsames Handeln fehlt

Das Format wurde zwar weiter aufrechterhalten, verlor aber schon in den sogenannten Nullerjahren jedes politische Gewicht. Die unterschiedliche Einschätzung Russlands war dabei von Bedeutung: Polen sah Russland sehr kritisch, Frankreich als strategischen Partner und in Deutschland agierte die Moskau Connection in verschiedenen Ämtern.

Das Problem mangender Führung in der EU blieb bestehen und je größer die Zahl der Mitgliedstaaten wurde, desto schwieriger wurde eine Einigung im großen Kreis. In vielen drängenden Herausforderungen, der Asyl- und Migrationspolitik beispielsweise, erwies sie sich als unmöglich. Gemeinsames Handeln wurde nur simuliert und ein wenig wortverkleistert. Eigentlich machte jeder Staat, was er wollte. Gegenwärtig beweist Ungarn, inzwischen begleitet von der Slowakei, dass die Veto-Position jedes einzelnen Staates angesichts ausbleibender Führungskraft zur Handlungsunfähigkeit führt.

Weimarer Dreieck in der Kritik

Am Freitag kam das Weimarer Dreieck in Berlin zusammen, nachdem sich zuvor tagelang der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler öffentlich knapp unter der direkten persönlichen Beleidigung gegenseitig die Meinung zuriefen. Das musste eingefangen werden. Die Lösung war, zu dritt zusammenzukommen, um nicht zu zweit auftreten zu müssen, sich aber dann doch erst zu zweit zu treffen (Macron und Scholz), um Tusk die Rolle des Vermittlers zu verwehren. Den Abschluss sollte eine knappe Pressekonferenz bilden, ohne Fragen, aber mit kräftigem und ausdauerndem Händeschütteln. Es galt Einigkeit zu demonstrieren. Das war ein wichtiges Signal nach Innen.

Sachlich war von dem Treffen nichts zu erwarten, war es doch kurzfristig einberufen worden und litt entsprechend an mangelnder Vorbereitung. Es gab keine neue Initiative, doch wurden einige anstehende Aufgaben bestätigt: Munition auch außerhalb der EU zur Unterstützung der Ukraine einkaufen; mehr Waffen und Munition zu produzieren; Profite der eingefrorenen russischen Zentralbankgelder nutzen; auf EU-Ebene stärker für mehr Sicherheit in Europa handeln. Der französische Präsident versicherte, im Krieg nicht eskalieren zu wollen (so als hätte er das zuvor gefordert), der deutsche Bundeskanzler sprach von der weiteren Verteidigung der Ukraine (so als hätte sein Fraktionsvorsitzender im Bundestag nicht gefordert, den Krieg einzufrieren) und der polnische Ministerpräsident lobte die Einigkeit und lud zum nächsten Treffen nach Warschau ein.

 

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Interessanter als diese erneuten Versicherungen des schon Bekannten ist, welche Chancen in der Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks liegen. Wird es sich als informelles Führungsgremium etablieren können? Als Forum, von dem aus Entscheidungsvorschläge weitere Unterstützung im größeren Kreis der EU-Staaten finden können? Italien reagierte umgehend und drückte sein Missfallen über einen derartigen Zirkel aus. Das ließ sich als Hinweis lesen, dass es gerne an einem Weimarer Viereck teilnehmen würde. Auch in diese Richtung wird in den nächsten Wochen die eine oder andere Stimme aus anderen EU-Staaten noch zu hören sein. Jedenfalls ist es eine Chance, kollektive Führung aufzubauen, ohne die in der EU effektive Handlungsfähigkeit schwer zu erreichen sein wird. Denn die rotierende Präsidentschaft kann das nicht leisten.

Ziele der Ukraine-Politik unklar

Doch müssen solche organisatorischen Innovationen sachlich unterlegt sein. Es müssen also kluge Initiativen, vermittelnde Lösungen sowie effiziente und effektive Umsetzung daraus hervorgehen. Das wird die Aufgabe der nächsten Wochen sein, wenn die Regierungen diese Chance ergreifen wollen. Um solche Lösungen zu erarbeiten, müssen die einzelnen Regierungen handlungsfähig sein und wissen, welche Zwecke sie in den verschiedenen Politikbereichen verfolgen. Ganz oben auf der Liste wird die Unterstützung der Ukraine stehen. Gerade weil der amerikanische Kongress weiterhin die fortdauernde Unterstützung der Ukraine verweigert, wird sich diese Aufgabe mit jedem Tag drängender stellen.

Die polnische Regierung weiß, welchen Zweck ihre Ukrainepolitik verfolgt und investiert in die militärische Abschreckung Russlands. Der französische Präsident weiß nach langen Wirren inzwischen, welche Ukrainepolitik er zur Aufrechterhaltung der Sicherheit für die EU-Staaten und Frankreich verfolgt. Die Bundesregierung wird sich festlegen müssen, welche Zwecke ihre Ukrainepolitik erreiche sollen, denn sie hat eine gemeinsame Zweckbestimmung nach über zwei Jahren Krieg noch nicht gefunden. Nur wenn die einzelnen Regierungen wissen, was sie wollen, und nicht nur, wie sie die Welt gerne hätten, wenn sie sich etwas wünschen könnten, werden sie tragfähige Vereinbarungen treffen können. Wenn ein informelles Führungsgremium in der EU Realität werden soll, muss die Bundesregierung beginnen, die Realität zu betrachten.

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