China-Besuch von Olaf Scholz - Der Kanzler wahrt Deutschlands Gesicht

Olaf Scholz hat bei seinem China-Besuch Charakterstärke gezeigt und Deutschland einen guten Dienst erwiesen. Und die Gespräche mit Xi Jinping über eine Friedensinitiative für die Ukraine finden sogar bei Präsident Selenskyj Anklang.

Diplomatisch herabgestuft: Olaf Scholz wurde von Präsident Xi Jinping nicht gleich am Flughafen begrüßt / dpa
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Ole Döring ist habilitierter Kulturphilosoph und Sinologe. Er vernetzt unterschiedliche Kompetenzen und Denkweisen zu Medizin und Gesundheit, Technologie, Soziales und Ökonomie. Döring beschäftigt sich mit kulturellen und philosophischen Fragen der Medizin und Bioethik und ist Vordenker einer globalen Gesundheits-Ethik. Zuletzt ist von ihm das Buch „Das Luther-Gen - Zur Position der Integrität in der Welt“ erschienen.

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Der eben in Beijing zu Ende gegangene zweite Besuch von Olaf Scholz als Kanzler in China ist ein schillerndes Fundstück für die diplomatische Analyse. Bislang reichen die Reaktionen auf diese Episode von Ignoranz über Schadenfreude in Deutschland bis zum höflichen Schweigen in China. Was ist passiert, und was hat es zu bedeuten? 

Über die Erwartungen der chinesischen Seite dürften sich erfahrene Beobachter im Vorfeld keine Illusionen gemacht haben. Wenn chinesische Medien über die Ankunft in Chongqing berichten: „Am 14. April 2024 wurde Deutschlands Kanzler Olaf Scholz durch den Vizebürgermeister von Chongqing, Zhang Guozhi, empfangen“ und dann am 15.4. in Beijing „von Chinas Vize-Außenminister Deng Li am Flughafen begrüßt“, so versteht sich nicht nur die Tatsache einer diplomatischen Herabstufung, sondern zugleich auch deren offene, wenn auch unkommentierte öffentliche Dokumentation. 

Der gelegentlich in Deutschland bemühte und im Ansatz vergiftete Vergleich mit den China-Beziehungen der Vorgängerregierung, an der Scholz selbst beteiligt war, stößt besonders bitter auf. Denn einen Vizebürgermeister hätte Frau Merkel sich wohl nicht beim Betreten des Landes vorsetzen lassen. Die deutsche Seite wird ihre Gründe gehabt haben, sich damit zu arrangieren. Immerhin gab es dann zum protokollarisch gesichtswahrenden Höhepunkt im Diaoyutai Staats-Gästehaus in Beijing am Ende einen Tee-Empfang bei Präsident Xi Jinping und Außenminister Wang Yi sowie ein Treffen mit Premier Li Qiang. Die begleitende chinesische Berichterstattung war routiniert positiv. Die Messlatte der Beziehungen wurde hochgehalten, der Kanzler ging erhobenen Hauptes darunter hindurch. Seine mitreisenden Kabinettsmitglieder wurden kaum erwähnt. 

Scholz kann die sogenannte Chinastrategie seiner Partner nur tätlich ignorieren

Diplomatie hat klare Regeln. Scholz weiß das. Er hat seine persönliche Würde eingesetzt, um dem Amtseid gerecht zu werden, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und größeren Schaden abzuwenden. Entsprechend viel Zeit nahm der Kanzler sich für den Weg, der Chinas Tore für Deutschland oder dessen Unternehmen auch in Zukunft offenhalten soll. Nicht zuletzt ist China Berlins größter Handelspartner. Xi Jinping bekundete öffentlich, mit China und Deutschland träfen die zweit- beziehungsweise drittgrößte Volkswirtschaft der Welt aufeinander. Damit erinnerte er den Gast an die gemeinsame geteilte übergeordnete Verantwortung. Wenn man den Ansatz der Multipolarität teile, gehe es im Wesentlichen um gegenseitigen Respekt und friedliche Koexistenz, so Xi. Auf die behandschuhte Ohrfeige am peripheren Einlass folgte die rituelle Reinigung in der Metropole. Deutschland war auf Maß gestutzt, aber nicht übermäßig gedemütigt. Der Kanzler lächelte ernst. Warum aber tut er sich so etwas überhaupt an? 

Auch wenn es vielen seiner innenpolitischen Kritiker nicht passen mag: Olaf Scholz hat im Osten Charakterstärke bewiesen. Einerseits galt seine Delegation der Zusammenarbeit in Menschheitsfragen. Dazu gehören nicht nur die vielfach beschworenen Themen Umwelt, Energie und Handel. Stabilität und Frieden mögen in Teilen der sogenannten politischen Eliten Deutschlands derzeit weniger Konjunktur genießen, denn sie setzen vor allem Realpolitik, Fachwissen und Diplomatie voraus sowie gut vorbereitete Optionen, zu gestalten. Gleichwohl sind sie die wichtigsten Anliegen der Außenpolitik. Da muss deutsche Sensibilität sich in strategischer Raffinesse zeigen, nicht larmoyant. 

Andererseits würdigt Beijing Deutschlands Rolle und respektiert die schwierige Position des Besuchers. Eingespannt zwischen drei Fronten, aus US-Falken, der EU-Spitze sowie einer lautstark-bunten Krachmacherallianz daheim, gibt es kaum Beinfreiheit. Also erwartet China auch keinen diplomatischen Tanztee. Das große Format eines Wiener Kongresses für das 21. Jahrhundert, auf den die neuen Entwicklungen der BRICS-Initiative hinauslaufen können, ist noch nicht in Sicht. Scholz kann die sogenannte Chinastrategie seiner Partner nur tätlich ignorieren, nicht ausdrücklich aufheben. Also zeigt er Stärke, indem er Kontinuität simuliert, wo die deutsch-chinesischen Beziehungen neu auszutarieren und möglichst zu konsolidieren wären. 

China wird immer mehr zur Alternative der Industrieflucht aus Deutschland

Besonders deutlich wird dies, wenn die Scholz-Delegation sich nach dem Befinden ursprünglich deutscher Unternehmen vor Ort in China erkundigt, die nach Chongqing, Shanghai oder andernorts gekommen sind, voraussichtlich, um dort zu bleiben. Derzeit zeichnet sich, statt einer für beide Seiten segensreichen Zusammenarbeit, ein Trend ab, dass Deutschland noch abhängiger wird – durch die Früchte der einst eigenen Wirtschaftsmacht. Die Chinaperspektive gerät von einer Marktfrage zur Standortbestimmung. China wird immer mehr zur Alternative der Industrieflucht aus Deutschland, nach Polen, der Schweiz oder den USA. „Kooperation ist der einzig sichere Weg für Deutschland“, titelt China Daily treffend. Die verlangt Deutschland heute viel mehr ab als vor 20 Jahren. 

 

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Deutschland hatte schon unter Merkel viel Zeit und Gelegenheit verstreichen lassen, aus der Fülle seiner Friedensdividende eine eigene Chinakompetenz aufzubauen und nachhaltige Formate für Kooperation und Begegnung mit China voranzubringen, besonders auch in China. Deutsche Maschinenbau-Abschlüsse an chinesischen Universitäten sind eine große Errungenschaft, aber ohne die Aufklärung deutscher Philosophie ebenso wenig denkbar wie Medizin oder Ökologie. Die häufig beklagte Reduktion der Beziehungen auf Wirtschaftsthemen kann in wertschöpfendes Wissen eingebettet werden – hätte man geisteswissenschaftliche Akzente gesetzt und sich als der kritische Freund empfohlen, den viele Chinesen noch immer in Deutschland sehen wollen. Dabei wäre gerade das starke und selbstbewusste neue China der bestmögliche Partner für eine Renaissance des weltbürgerlichen Humanismus, der im 20. Jahrhundert unter die Räder der globalen Industrielogik gekommen ist. 

Weniger deutlich, aber dafür kontinuierlich hinter den Kulissen, arbeiten beide Seiten an Friedensperspektiven. Das lässt sich naturgemäß weniger auftrumpfend kommunizieren als die Erfolge der Wirtschaftspartnerschaft. Scholzens Verständnis von der Rolle Deutschlands im Verhältnis zu China steht im krassen Gegensatz zu den Auftritten aus dem Außenministerium, das mit breitbeiniger Strandlaken-Allüre schrill seine Ansprüche markiert. Mit görenhafter Chuzpe lässt sich das heutige China nicht beeindrucken. Während Scholz Stilnoten sammelt, gewinnt Deutschland Zeit. Sogar die South China Morning Post hält in einem kritischen Meinungsbeitrag fest: „Der Bundeskanzler lehnt es ab, die Brüsseler De-Risking-Agenda zu unterstützen, und konzentrierte sich auf die Interessen der deutschen Wirtschaft. Seine Rhetorik war merklich weicher als diejenige Brüssels.“

Beide Seiten mahnen sich gegenseitig zur Fairness 

So kann Deutschland den Schulterschluss in vertrauensbildenden Friedensplänen mit China suchen. Chinesische Medien zitieren den ukrainischen Präsidenten Selenskyj: „Ich möchte dem deutschen Bundeskanzler besonders für seine Führungsstärke und angemessene internationale Kommunikation danken, für die Signale, die wir aus Peking gehört haben. China kann in der Tat dazu beitragen, einen gerechten Frieden für die Ukraine und Stabilität in den internationalen Beziehungen wiederherzustellen.“ Ein geplanter Friedensgipfel in der Schweiz biete „eine echte Chance“, auch wenn klar ist, dass dieser mit China nur zu haben ist, wenn die Grundvoraussetzung erfüllt ist, wonach alle Konfliktparteien dort teilnehmen. Xi und Scholz führten „einen ausführlichen Meinungsaustausch über die Ukraine-Krise“ und erklärten, dass sie für die Grundsätze und Prinzipien der UN-Charta stehen, „den Einsatz von Atomwaffen oder Angriffe auf friedliche Nuklearanlagen abzulehnen, Fragen der internationalen Ernährungssicherheit ordnungsgemäß zu lösen und das humanitäre Völkerrecht einzuhalten“. Diese Einigkeit kann dem bevorstehenden Aufbau der osteuropäischen Nachkriegsregion nur gut tun. 

Beide Seiten sind sich in der Palästina-Israel-Frage einig, dass die Resolution 2728 des UN-Sicherheitsrates umgesetzt werden solle, um eine weitere Verschlechterung der Lage zu vermeiden sowie den humanitären Zugang zum Gazastreifen zu gewährleisten. Es gelte, eine baldige Verhandlungslösung der Palästina-Frage auf der Grundlage der „Zweistaatenlösung“ zu unterstützen. Beide versicherten einander, sich unter ihren besonders engen Partnern weiter für eine „baldige, umfassende, gerechte und dauerhafte Lösung der Palästina-Frage“ einzusetzen.

Wenn beide Seiten sich schließlich gegenseitig zur Fairness mahnen, berufen sie sich jedenfalls auf einen gemeinsamen Maßstab und nehmen zur Kenntnis, dass es in dieser Hinsicht Probleme gibt. Am Ende wurde Scholz nicht gedemütigt, sondern für seine Geduld und vielleicht sogar Lernbereitschaft belohnt. Damit hat er Deutschland im Spiel gehalten und Europa den größten derzeit möglichen Dienst auf dem Weg zur Eigenständigkeit erwiesen.

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