Bulgarische Außenministerin - „Hübsch, klug und polyglott“

Die frühere EU-Kommissarin Marija Gabriel soll als bulgarische Regierungschefin Ordnung in die chaotische Politik ihres Landes bringen – wäre da nicht ein Problem.

Marija Gabriel soll nach neun Monaten die Regierungsgeschäfte Bulgariens übernehmen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Frank Stier ist Korrespondent für Südosteuropa und lebt in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.

So erreichen Sie Frank Stier:

Anzeige

Sie kam, sah – und löste ein Revolutiönchen aus. Anfang Mai dieses Jahres schickte sich die EU-Bildungs- und Forschungskommissarin Marija Gabriel an, Bulgariens erste reguläre Ministerpräsidentin zu werden. Dass sie es nicht geworden ist, sondern den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj am 6. Juli als Außenministerin am Flughafen von Sofia empfing, ist ein beredtes Zeichen für eine gewisse Verworrenheit in Bulgariens Politik.

Gabriel wurde 1979 als Marija Nedeltschewa im südbulgarischen Chadschidimowo geboren. Im Sommer 2009 zog sie für die rechtsgerichtete Partei „Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB) ins EU-Parlament ein. Als EU-Kommissarin für Digitales und Gesellschaft übernahm sie im Juli 2017 Verantwortung für ein Budget von immerhin neun Milliarden Euro zur Schaffung des digitalen EU-Binnenmarkts. 

Zögling von Boiko Borissow

Seitdem war sie mit langem, schwarzem Haar und markant geschnittenen Gesichtszügen Bulgariens Frau in Brüssel. Zuletzt verantwortete sie als EU-Kommissarin für Innovation und Forschung die beiden EU-Programme „Horizont Europa“ und „Erasmus+“. 

Im Mai 2023 präsentierte Ex-Regierungschef Boiko Borissow, seit vielen Jahren die mächtigste Figur auf Bulgariens politischer Bühne, Gabriel als seine Kandidatin für das höchste Regierungsamt. An seiner statt sollte sie das Balkan­land aus jahrelanger politischer Krise führen, um die sechste Parlamentswahl innerhalb von gut zwei Jahren zu verhindern. 

 

Mehr zum Thema:

 

„Als erste Amtshandlung wird der Justizminister meiner Regierung den Obersten Gerichtsrat zur Abberufung von Generalstaatsanwalt Iwan Geschew auffordern, wegen dessen Unterminierung des Prestiges der Justiz“, erklärte Gabriel am 11. Mai vor Abgeordneten der Bulgarischen Volksversammlung die Prioritäten ihres Regierungsprogramms. 

Ob sie noch Regierungschefin wird, ist ungewiss

Dies war allerdings weit mehr als die Ankündigung einer bloßen Personalie. Die Absetzung des als korrupt verschrienen Generalstaatsanwalts galt Bürgerrechtlern seit langem als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung, um dem Recht in Bulgarien zur Hoheit zu verhelfen. Tausende hatten im Sommer 2020 monatelang auf den Straßen Sofias Geschews Rücktritt gefordert und die Abdankung von Ministerpräsident Boiko Borissow. Beide galten ihnen als kollaborierende Stützen der mafiösen Oligarchie.

Aus Marija Gabriels Worten ging nun hervor, dass Borissow dem Generalstaatsanwalt Geschew das Bündnis offenbar aufgekündigt hatte. Jahrelang zementiert erscheinende Machtstrukturen gerieten plötzlich und unerwartet in Bewegung. Tatsächlich musste Iwan Geschew Mitte Juni 2023 seinen Posten räumen. Borissow aber sah sich genötigt, seinen Koalitionspartnern „Wir setzen den Wandel fort“ (PP) und „Demokratisches Bulgarien“ (DB) den Vortritt beim höchsten Regierungsamt zu lassen, um überhaupt eine Koalition schmieden zu können. So führt Marija Gabriel nun nicht die Regierungsgeschäfte des Landes, sondern verantwortet im konservativ-liberalen Kabinett von Ministerpräsident Nikolai Denkow die auswärtigen Angelegenheiten.

Ob Gabriel nach neun Monaten von Denkow die Regierungsverantwortung übernehmen kann, wie es das von den Koalitionären vereinbarte Rotationsverfahren vorsieht, gilt aber keineswegs als sicher. Zwar betonen alle Regierungsparteien ihre euroatlantische Orientierung und sind sich in wesentlichen Fragen (wie der militärischen Unterstützung der Ukraine) einig. Doch die Atmosphäre in der Koalition ist geprägt von Streitigkeiten; mehr als einmal wurde ihr Bestand bereits infrage gestellt. Und ob sie den Wahlkampf für die Kommunalwahlen im Oktober 2023 überstehen wird, muss sich erweisen. 

Persönliche Fehler wurden schnell gefunden

Als „hübsch, klug und polyglott“ hat GERB-Chef Borissow seine Regierungschefin in spe gelobt. Naturgemäß sind Marija Gabriel nicht alle Landsleute derart wohlgesonnen. Wer sich in das Haifischbecken der bulgarischen Politik begibt, kann sich darauf verlassen, dass Widersacher nach Schwachstellen auch in vordergründig tadellosen Biografien fahnden werden. Und im Fall der ambitionierten EU-Kommissarin wurden sie fündig. 

„Guten Tag, mein Name ist Marija Nedeltschewa, ich bin GERB-Kandidatin für das Europäische Parlament. Von meiner Ausbildung her bin ich Doktor der Politologie“, stellte sie sich in einem Wahlkampf-Clip im Frühjahr 2009 potenziellen Wählern vor. Tatsächlich hat Gabriel Anfang dieses Jahrtausends an der Universität Bordeaux Politikwissenschaften studiert – einen Doktortitel aber hat sie nie erworben. Nun lässt sich darüber streiten, ob ein solcher für die Führung eines EU-Kommissariats angesagt gewesen wäre. Dass die Anmaßung wissenschaftlicher Titel aber keine Petitesse ist, dürfte außer Frage stehen.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige