Gescheitertes Aufnahmeprogramm - Wie sich die Bundesregierung von Afghanen täuschen lässt

Die deutsche Regierung will bedrohten Afghanen Schutz gewähren. Doch das Verfahren ist intransparent bis absurd. Die Vorauswahl treffen NGOs, die ihre eigene Agenda verfolgen. Wegen der hohen Missbrauchsgefahr wurde das Aufnahmeprogramm nun gestoppt.

Zusätzlich zu den illegal einreisenden Migranten will die Bundesregierung bis zu 1000 Afghanen im Monat legal nach Deutschland holen / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Annalena Baerbock war voll des Lobes, als sie über die Zusammenarbeit mit der „Zivilgesellschaft“ in Afghanistan sprach. „Wir haben als deutsche Bundesregierung keine Botschaft, keine Vertretung vor Ort, aus politischen Gründen. Weil ich damit diese Terrorherrschaft legitimieren würde“, sagte die deutsche Außenministerin vor einigen Monaten in einem Fernsehinterview. „Das heißt, wir müssen mit Zivilgesellschaft zusammenarbeiten.“ Es erweitere „die pragmatischen Möglichkeiten, die manchmal außerhalb von Behördenerlässen sind“.

Was die Grünen-Politikerin unter Zivilgesellschaft versteht, hat allerdings wenig mit der afghanischen Gesellschaft zu tun. Es handelt sich vielmehr um ein Netzwerk vornehmlich von Deutschland aus agierender Organisationen, deren Ziel es ist, möglichst viele Afghanen in die Bundesrepublik zu holen. Angeblich geht es um Personen, denen unter den Taliban Tod und Verfolgung drohen. Doch Cicero-Recherchen zeigen, dass es in vielen Fällen erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Bedrohungslage gibt. Und dass man im Auswärtigen Amt trotzdem nicht so genau hinsehen und möglichst großzügig bei der Aufnahme sein will.

Das Problem mit den NGOs

Im August 2021 übernahmen die Taliban nach zwei Jahrzehnten westlicher Militär­intervention wieder die Macht in Kabul. Seitdem hat die Bundesregierung 36 000 Afghanen eine Aufnahmezusage erteilt. Darunter sind sogenannte Ortskräfte, die in Afghanistan für die Bundeswehr oder andere deutsche Organisationen gearbeitet haben, aber auch afghanische Journalisten, Menschenrechtsaktivisten oder ehemalige Richter und Staatsanwälte. Etwa 40 Prozent der Personen mit einer Aufnahmezusage seien bereits eingereist, heißt es aus der Regierung. Bis zu 1000 Afghanen im Monat wollen Auswärtiges Amt und Innenministerium weiterhin auf legalem Weg nach Deutschland holen. Zusätzlich zur deutlich gestiegenen Zahl an afgha­nischen Migranten, die illegal einreisen und in der Bundesrepublik einen Asylantrag stellen. 

Neu und politisch umstritten ist bei diesem Aufnahmeprogramm die enge Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei der Identifizierung und Auswahl angeblich schutzbedürftiger Afghanen zu. Und was Außenministerin Baerbock noch lobte – deren pragmatische Möglichkeiten „außerhalb von Behördenerlässen“ –, hat sich inzwischen als großes Problem erwiesen. Davon zeugt ein interner Bericht der deutschen Botschaft in Pakistan, der in Berlin hohe Wellen geschlagen hat.

Das als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestufte Warnschreiben ging Ende Februar im Auswärtigen Amt ein. Schon die Betreffzeile lässt aufhorchen: „‚Unterstützte Ausreise Afghanistan‘ – Im Namen Allahs – Scharia-Richter für Deutschland?“ Unterzeichnet ist es von Botschafter Alfred Grannas. Er warnt in eindringlichen Worten davor, dass die Aufnahmeprogramme der Bundesregierung von radikalen Islamisten missbraucht würden. 

450 potenzielle Islamisten

Rund die Hälfte der in seiner Visa­stelle vorsprechenden ehemaligen Justizmitarbeiter aus Afghanistan seien „keine Richter und Staatsanwälte mit klassischer juristischer Ausbildung“, sondern „Absolventen von Koranschulen“, geschult in der Scharia, im religiösen Rechts- und Wertesystem des Islam, schreibt Grannas. Es sei offensichtlich, dass diese Scharia-Gelehrten der freiheitlich demokratischen Grundordnung „oppositionell, ablehnend bis feindselig“ gegenüberstehen, denn die Scharia gehe für sie „als quasigöttliche Rechtsquelle grundsätzlich über durch Parlamente beschlossenes weltliches Recht“.

Die Erteilung von Aufnahmezusagen für Scharia-Gelehrte unterstütze „die Unterwanderung unserer Rechtsordnung durch islamistische Kreise“, warnt der Botschafter. „Dieser Personenkreis gefährdet tendenziell auch Flüchtlinge aus Afghanistan, die gerade vor der islamistischen Rechts- und Gesellschaftsordnung der Taliban geflüchtet sind und bei uns Aufnahme gefunden haben.“

 

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Dem vertraulichen Bericht zufolge geht es um etwa 450 Personen plus Familienangehörige. Sie sollen von deutschen Organisationen wie der Neuen Richtervereinigung, Kabul Luftbrücke und Pro Asyl als gefährdet gemeldet worden sein und haben dann offenbar eine Aufnahmezusage der Bundesregierung erhalten. Und zwar ohne dass ein deutscher Behördenvertreter die Antragsteller zu Gesicht bekommen hätte.

Lauter Widersprüche

Denn das ist die Krux an dem Verfahren: Persönlich vorsprechen müssen die Antragsteller erst, wenn sie bereits eine Aufnahmezusage erhalten haben und dann in der deutschen Botschaft in Islamabad ein Visum beantragen. Dabei stoßen die Botschaftsmitarbeiter immer wieder auf Widersprüche und Verhaltensweisen, die erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der erzählten Verfolgungsgeschichte wecken.

„Frauen erscheinen beispielsweise komplett mit Burka/Nikab verschleiert und weigern sich bisweilen, zur Identifizierung ihren Schleier zu lüften“, schreibt der Botschafter. Besonders auffällig sei, dass „die Personengruppe keinerlei Probleme bei der Beschaffung von Dokumenten/Pässen oder Visa für Pakistan hat.“ Sprich: Die Taliban lassen sie offenbar ohne Probleme ins Nachbarland ausreisen.

Nachdem Cicero über den brisanten Bericht aus Pakistan geschrieben hatte, veröffentlichte die darin namentlich genannte Neue Richtervereinigung eine Stellungnahme auf ihrer Internetseite. Den linken Interessenverband deutscher Richter und Staatsanwälte hätten nach der Machtübernahme der Taliban zahlreiche „Hilferufe von Rechtsanwält*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen“ aus Afghanistan erreicht, heißt es darin. Die Neue Richtervereinigung (NRV) betont jedoch, dass sie die Hilferufe zwar an deutsche Regierungsstellen weitergeleitet, aber nicht überprüft habe: „Eine inhaltliche Prüfung der Begehren konnte die NRV zu keinem Zeitpunkt durchführen und hat dies auch nicht vorgegeben. Dies war und ist die Sache der beteiligten Ministerien und ihrer Einrichtungen und der von diesen informierten Sicherheitsbehörden.“

Mission Lifelines Kampf gegen die „Weißbrote“

In den Sicherheitsbehörden nahm man das Warnschreiben des Botschafters jedenfalls sehr ernst. Mitte März flog eine Delegation des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums nach Islamabad, um vor Ort über die Probleme des Aufnahmeverfahrens zu sprechen. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, der für Extremismusabwehr zuständige Inlandsgeheimdienst, war an der Reise beteiligt. 

Direkt nach dieser Reise verschärfte die Bundesregierung die Anforderungen an Gefährdungsmeldungen aus Afghanistan. Das stieß bei den an dem Aufnahmeprogramm beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen auf Unmut. „Dadurch wird die Prozedur für uns als meldeberechtigte Stelle grundlegend anders. Wir rechnen mit einer starken Verlangsamung der Meldungen!“, klagte etwa Axel Steier. Er ist Mitgründer und Vorsitzender des Vereins Mission Lifeline, der Migranten auf dem Mittelmeer aufnimmt, um sie nach Europa zu bringen. Inzwischen ist der Verein auch in Afgha­nistan aktiv.

Steier macht keinen Hehl daraus, welches politische Ziel er mit Mission Lifeline verfolgt. „Die Enthomogenisierung der Gesellschaft schreitet voran. Ich unterstütze das mit meiner Arbeit“, schrieb er im Dezember auf Twitter. Irgendwann werde es „keine Weißbrote mehr geben“. Gemeint waren hellhäutige Europäer.

Verfahren vorübergehend gestoppt

Das Auswärtige Amt und das Innenministerium hindern solche Aussagen offenbar nicht daran, mit Mission Lifeline zusammenzuarbeiten. Steiers in Dresden ansässiger Verein ist eigenen Angaben zufolge „meldeberechtigte Stelle“ des neuen Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan. Das heißt: Er trifft eine Vorauswahl, wer überhaupt eine Chance hat, in das Programm zu kommen. Offiziell bestätigt wird dies jedoch nicht. Es sei „den zivilgesellschaftlichen Organisationen selbst überlassen, ob und wie sie ihre Beteiligung öffentlich machen“, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Das gesamte Verfahren ist intransparent und damit missbrauchsanfällig.

Ende März reagierten die beiden Ministerien dann allerdings doch auf die Warnungen aus Islamabad und den eigenen Sicherheitsbehörden. Sie stoppten das Aufnahmeprogramm. Man habe sich unter anderem auf die Einführung einer zusätzlichen Sicherheitsbefragung verständigt, um Täuschungsversuche zu unterbinden, hieß es. Es sei angestrebt, das Verfahren wieder aufzunehmen, sobald die zusätzliche Befragung umgesetzt sei.

Tod durch Fehler der Bundeswehr?

Die RTL-Reporterin Liv von Boetticher war nach der Machtübernahme der Taliban zwei Monate in Afghanistan. Sie erlebte dort, dass das, was Organisationen wie Mission Lifeline oder Kabul Luftbrücke der deutschen Öffentlichkeit über die Lage vor Ort erzählen, oft sehr einseitig und mitunter sogar verfälscht ist. In einem Fall wollte sie es genauer wissen.

Im August 2022 berichtete Mission Lifeline über den Tod einer ehemaligen Ortskraft der Bundeswehr. Noori, so der Name des Mannes, sei von den Taliban ermordet worden. Zuvor habe ihm die Bundeswehr keine Aufnahmezusage erteilt. Der Vorwurf wiegt schwer: Es wäre der erste Fall einer gezielten Tötung einer ehemaligen Ortskraft durch die Taliban – mitverantwortet durch einen fatalen Fehler der Bundeswehr.

Noori war gar keine Ortskraft

Liv von Boetticher versuchte, mehr darüber herauszufinden. Aber die Recherche gestaltete sich schwierig. Denn Axel Steier weigerte sich, Hintergrundinformationen über den Fall zu geben. Er versorge nur „seriöse Journalist*innen, die nicht notorisch die Gefährdung der Ortskräfte leugnen (…) mit allen nötigen Kontakten und Informationen“.

Doch die Bundeswehr bestätigte Steiers Darstellung nicht. Ein Sprecher des Einsatzführungskommandos teilte der Reporterin mit, dass Nooruddin Noori, so sein voller Name, einen Mietvertrag für einen Laden auf einem kleinen Basar im Bundeswehr-Feldlager Camp Marmal in Masar-e Scharif hatte – bis er diesen von sich aus im Jahr 2009 kündigte.

Die Stellplätze wurden den Ladenbesitzern gegen eine Umsatzprovision überlassen, sie waren aber ökonomisch eigenverantwortlich und standen in keinem vertraglichen Verhältnis zur Bundeswehr. Noori war demnach also rechtlich gesehen keine Ortskraft und nie in einem sicherheitsrelevanten Bereich tätig. Er habe auch nie einen Gefährdungsantrag gestellt, deswegen liegen den Behörden keine Informationen zu einem Ablehnungsbescheid oder gar zu seinem Tod vor, wie der Sprecher des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr mitteilte. Laut Reporterin von Boetticher hätten zudem insgesamt acht ehemalige Camp-Marmal-Mitarbeiter mitgeteilt, dass der Fall Noori vor Ort nicht bekannt sei.

Bedrohungslage wird verzerrt

Mission-Lifeline-Vorstand Axel Steier bleibt dennoch bei seiner Darstellung. „Die Richtigkeit meiner Aussagen in besagtem Tweet bestätige ich Cicero gegenüber nochmals“, teilt er mit. „Uns liegen entsprechende Belege vor, die nach journalistischen Standards überprüft wurden.“

Bei ihren Recherchen wurde die Fernsehreporterin von Christoph Klawitter begleitet. Der deutsche Logistiker hat 20 Jahre lang in Afghanistan gelebt und spricht fließend Persisch. Als die Taliban im August 2021 Kabul überrannten, blieb er freiwillig im Land, um bei der Evakuierungsmission zu helfen und die chaotischen Szenen am Flughafen Kabul zu dokumentieren.

Ein Treffen in seiner Heimatstadt Hamburg. Klawitter, ein kräftiger Mann mit langem Bart, verschickt während des Gesprächs immer wieder Sprachnachrichten an Freunde und Bekannte in Afghanistan. Er hält die deutsche Darstellung der Bedrohungslage für verzerrt. Keiner seiner ehemaligen Mitarbeiter habe Drohungen erhalten, sagt er. Sogar eine ehemalige Ortskraft, die im nachrichtendienstlichen Bereich für die Bundeswehr – also in einem maximal sicherheitsrelevanten Bereich – gearbeitet habe, sei bis heute nicht bedroht worden. 

NGOs ignorieren einfach die Wahrheit

Die unschöne Wahrheit sei, so Klawitter, dass in Afghanistan offene Rechnungen der vergangenen Jahre beglichen würden. Einige ehemalige Ortskräfte hätten ihren Status dazu genutzt, einen „auf dicke Hose“ zu machen. Manche hätten beispielsweise ihren Nachbarn gedroht, sie als Taliban-Mitglieder an die Nato-Truppen zu verpfeifen – um dann persönliche Vorteile daraus zu ziehen. Klawitter nennt ein anderes Beispiel: Ein Afghane, der einst für die Bundeswehr arbeitete, sei bei einem Messerangriff schwer verletzt worden. Sofort kursierten Meldungen, er sei wegen seiner Arbeit für den Westen von Taliban angegriffen worden. Wie sich herausgestellt habe, ging es um etwas ganz anderes: Der Mann habe sich Geld geliehen und nicht zurückgezahlt, woraufhin sich der Gläubiger gerächt habe.

Deutsche Hilfsorganisationen und Journalisten erhalten täglich Meldungen von vermeintlich verzweifelten Afghanen. Doch die Bedrohungsschreiben, die sie vorzeigen, seien in den allermeisten Fällen gefälscht. Mit einer Aktivistin, deren NGO zu den „meldeberechtigten Stellen“ des Bundesaufnahmeprogramms gehört, habe er sich deswegen einmal bei einem Abendessen gestritten. Sie sei wütend geworden und habe eingeräumt, sie wisse, dass die meisten Bedrohungsschreiben gefälscht sind. Trotzdem müsse man die Menschen aus dem Land holen, soll sie gesagt haben.

„In Deutschland leugnet man das, was nicht opportun ist“, sagt Klawitter. „Die Wahrheit ist: Die meisten Afghanen haben kein Problem mit den Taliban und teilen deren Frauenbild – sie wollen wegen der Aussicht auf eine bessere wirtschaftliche Lage nach Deutschland.“

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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